Streitthema Homeoffice und Corona: Versicherern drohen Millionenschäden wegen Arbeitnehmerklagen

Wegen Covid werden viele Arbeitsrechtsfragen nachgeholt. Auf die Richter des Bundesarbeitsgerichtes könnte wegen Covid viel Arbeit zukommen. Quelle: Bundesarbeitsgericht.

Anwälte sind Krisengewinner. Im gesamten Zivil- und Arbeitsrecht hagelt es bereits covidbasierte Klagen, speziell im angloamerikanischen Raum. Ob der Trend nach Deutschland schwappt, darüber gehen die Meinungen auseinander, wie eine VWheute-Anfrage führender Rechtsschutzversicherer, Juristen und Tarifpartner zeigt. Für die Versicherer ist die Situation doppelt heikel, sie sind als Arbeit- und Policengeber betroffen.

Eine covidbasierte Arbeitsrechtsprozesswelle droht nach den USA aktuell auch das Vereinigte Königreich anzustecken. Die Klagen haben denselben Kern, der Arbeitnehmer fühlt sich durch die wieder anziehende Präsenzpflicht, Ungleichbehandlung oder aus Gesundheitssorgen zum Anwaltsgang genötigt. Die Arbeitgeber sehen sich plötzlich in der Rolle, ihre in der Krise unter Zeitdruck entstandenen Prozesse juristisch zu rechtfertigen.

So sieht es die Branche

Dass in den USA viele Klagen trotz geringerer Arbeitnehmerrechte erfolgreich ausfallen, lässt hierzulande die Alarmglocken der Unternehmen schrillen. Ob das gerechtfertigt ist, darüber gehen die Meinungen in der Versicherungsbranche auseinander.

„Einen durchsetzbaren, generellen Rechtsanspruch auf ein Arbeiten aus dem Homeoffice […] sehen wir nicht“, schreibt die Roland. Es gäbe derzeit „keine wirklichen Anhaltspunkte“ für eine Prozesswelle zu einer bestimmten Fragestellung.

Der Mitbewerber Arag ist anderer Ansicht. Das Schätzen eines konkreten Volumens an „covidbedingten Arbeitsrechtsklagen“ sei schwierig, doch der Trend zeigt in eine Richtung. „Wir stellen bereits jetzt fest, dass vermehrt Fälle gemeldet werden, in denen es aufgrund der Pandemie zu Rechtsproblemen im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gekommen ist.“ In Zukunft werden sich weitere Streitigkeiten aus eventuellen neuen gesetzlichen Regelungen oder der unterschiedlichen Behandlung von Geimpften und Ungeimpften ergeben, analysiert die Arag.

Ein Problem für die Versicherer ist die Frische des Themas. „Es ist davon auszugehen, dass sich etliche Fälle durch die verschiedenen Instanzen ziehen werden“, schreibt die Arag. Andererseits gäbe es in Verfahren vor dem Arbeitsgericht sogenannte Gütetermine, in denen die Parteien“ häufig sehr früh“ zu einer Einigung kommen.

Die Meinung der Roland divergiert. „Es gibt in Deutschland kein Präzedenzfall-System. Wir orientieren uns an der sich entwickelnden höchstrichterlichen Rechtsprechung, die auf Basis geltender gesetzlicher Regelungen entsteht“. Neue rechtliche Fragestellungen könnten zwar unterschiedliche Urteile nach sich ziehen, eine Flut von in sich abweichenden Urteilen auf Basis vergleichbarer und identischer Sachverhalte ist dies „erfahrungsgemäß jedoch nicht“. Die Roland sieht derzeit „keine Anzeichen“ für ein Szenario einer unterschiedlichen Rechtsprechung im Bereich des Arbeitsrechts.

Staat und Anwälte

Der Staat könnte eine Prozesswelle verhindern, indem er rechtliche  Leitplanken einzieht. „Wenn es Lücken im Gesetz geben sollte, kann der Staat neue gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen“, schreibt die Roland. Die Arag zweifelt dagegen. In Bereichen, in denen „viele Menschen persönlich und emotional betroffen sind“, bestehe naturgemäß besonders häufig das Bedürfnis „nach rechtlicher Klarheit durch Anrufung der Justiz“.

An ein dämpfendes Eingreifen des Staates glaubt Paul Tophof „schon aus zeitlichen Gründen“ nicht. Mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl sei nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber arbeitsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Corona kurzfristig beantwortet, erklärt der in Düsseldorf ansässiger (Arbeits-)Jurist, der Großkanzlei Noerr.

„Mit Covid in Verbindung stehende Arbeitsrechtsfragen werden gerichtlich nachgeholt.“

Paul Tophof, Arbeitsrechtler bei Noerr

Für Tophofs Interpretation spricht, dass es der Politik erfahrungsgemäß schwerfällt Lösungen zu entwickeln, wenn bestimmte Themen bereits zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen geworden sind. Das ist der Fall. „Seit Beginn der Pandemie wurden rund 50 arbeitsgerichtliche Entscheidungen veröffentlicht, die unmittelbar die Pandemiesituation betreffen“, erklärt Tophof. Dies dürfte aber nur die „Spitze des Eisbergs“ sein, da die Gerichte nur relevante Entscheidungen veröffentlichen. Langfristig werden vor allem Themen geklärt werden, die die Pandemie „mittelbar ausgelöst“ hat.

Einen Grund für eine Prozessprogression sieht Tophof darin, dass Berufungen und Revisionen in Covid-Arbeitsprozessen „sehr wahrscheinlich“ sind. Insbesondere „ist zu erwarten“, dass die Landes-  und das Bundesarbeitsgericht sich mit Fällen beschäftigen werden, „die viele Mitarbeiter parallel betreffen“. Hinzu komme, dass Betriebsräte und Mitarbeiter in der Krise viele Maßnahmen zunächst einfach akzeptiert und durchgewunken haben. Es ist laut Tophof erwartbar, dass die damit im Normalfall zusammenhängenden Diskussionen „gerichtlich nachgeholt werden“.  

Versicherer als Arbeitgeber

Bei den Covid-Arbeitsprozessen könnten sich künftig also Betriebsräte und Gewerkschaft gegenüberstehen, was in der Versicherungsbranche AGV und Verdi bedeutet. Die Tarifpartner bleiben entspannt und vertrauen den eingezogenen Maßnahmen und Prozessen.  

„Ich rechne nicht mit einer Klagewelle“, erklärt Martina Grundler, Fachgruppenleiterin Versicherungen bei Verdi. Anders als in den USA gäbe es in Deutschland durch die Mitbestimmung zu vielen Fragen des Arbeitslebens kollektivrechtliche Regelungen, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge. Auch die durch Covid auftretenden neuen Fragestellungen  zu Homeoffice und Konfliktlösungen werden zumindest in der Versicherungsbranche „meistens mit Betriebsvereinbarungen geregelt“. Das führe zu einem „hohen Maß an Gleichbehandlung“ und zu „transparenten und nachvollziehbaren Kriterien“. Mögliche Konflikte zwischen Geimpften und ihrem Gegenpart sieht sie nicht. Da es keine Impfpflicht gibt, sei eine Ungleichbehandlung arbeitsrechtlich „nicht zulässig“. 

An das Homeoffice als Klagegrund glaubt auch Sebastian Hopfner nicht. Der Stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der Versicherer (AGV) vertraut wie Grundler der internen Konfliktlösung. „Da die Arbeitsverträge der Mitarbeiter weiterhin eine Präsenzpflicht vorsehen, werden Klagen dagegen keine Aussicht auf Erfolg haben.“ Es sei allenfalls denkbar, dass in Einzelfällen „bestimmte Präsenzanordnungen gegen geltende Regelungen wie Betriebsvereinbarungen verstoßen“. In so einem Fall greifen die „außergerichtlichen, betrieblichen Konfliktlösungsmechanismen“, erklärt der Jurist. Das Auftreten von Gleichbehandlungstatbeständen hält er für „nicht realistisch“. Dieser Grundsatz gelte nur dann, wenn „Gleiches ungleich behandelt wird“. Rationale Unternehmen hätten „immer einen Differenzierungsgrund“.

Die Branche ist also durch eine gute, frühzeitige und innerbetriebliche Verständigung gegen Klagen gewappnet, aber nicht immun. Ob es zu einer arbeitsrechtlichen Prozessflut kommen wird, beurteilen die befragten Parteien – Versicherer, Anwälte, Tarifpartner – sehr unterschiedlich. Das Potenzial für Ärger ist vorhanden, das Thema ist emotional und die Branche zählt 203.000 Festangestellte. Es ist daher wahrscheinlich, dass bestimmte Arbeitsrechtsfragen auf den Branchentisch kommen werden. Entscheidend wird sein, ob eine Lösung ohne Richter gelingt – wie es in der Vergangenheit oft der Fall war.  

Autor: Maximilian Volz