Wer darf ins Homeoffice, wer muss ins Büro? Versicherern droht Klagewelle wegen Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer

Die bkV wird zunehmend zu einem Instrument der Personalgewinnung. Quelle: Bild von Matthias Wewering auf Pixabay

Die Unglückskette hält. Nicht genug damit, dass die Assekuranz in Form von Covid-Betriebsschließungsschäden für die Folgen eines nicht unbedingt verhältnismäßigen staatlichen Eingriffs in den Gewerbebetrieb einstehen sollte. Nun erwischt es die Assekuranz auch noch im Bereich zunehmend verrechtlichter Arbeitsbeziehungen. Es ist eine doppelte Gefahr, als Versicherer und Arbeitgeber.

Das Problem ist nicht zuletzt das Werk von US-Anwaltssozietäten, die für sich ein neues Erfolgshonorare versprechendes Betätigungsfeld entdecken. Die Prozessflut droht nach den USA nun auch das Vereinigte Königreich anzustecken.

Steter Wandel

Die noch nicht ganz vorübergegangene Covid-Episode scheint neben dem Einzelhandel- und Immobilienmarkt nun auch den Arbeitsbereich gehörig umzukrempeln. Die Anwesenheit als Form der Arbeitsorganisation war schon seit einiger Zeit obsolet, nach dem Motto: ‚have laptop, will travel‘. Rastlos funktionierende Road Warriors hatten dies bereits seit zwei Jahrzehnten hinlänglich demonstriert. Dennoch baute man weiter an zentralem Ort Verwaltungszentralen. Dorthin ergossen sich des Morgens Angestelltenscharen aus Suburbia, nachmittags verlief die Routine advers. Naheliegend wäre schon vor Jahren der generelle Schluss gewesen, dass es für die meisten Jobs keines zentralen Ortes der Arbeitsleistung mehr bedarf.  

Wie Schuppen fiel es angesichts der COVID-induzierten Lockdowns sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite von den Augen, dass sich in den meisten Fällen das Tun  auch viel dezentraler erledigen ließe. Diese erste Phase lief einem staatlichen Befehl gehorchend mehr oder weniger reibungslos.

Die Problemlawine rollt

Nun aber beginnen viele Firmen eine post-Covid-Phase einzuläuten. Mit der generellen Verlagerung der Jobs in die arbeitnehmereigenen vier Wände soll in vielen Fällen Schluss sein. Die Personalabteilungen versuchen in einem praktisch rechtsfreien Raum neue Regeln zu implementieren.

In dieser Situation regt sich Widerstand, der vielfach vor Gericht ausgetragen zu werden droht. Die Kosten derartiger Rechtsstreitigkeiten drohen an Haftpflicht- und Rechtsschutzversicherern hängenzubleiben. In den USA sollen bereits fast 3.000 derartige Klagen hängig sein. Kosten diese im Schnitt 100.000 Dollar so wären bereits 0,3 Mrd. Dollar an Marktschaden erreicht. Die Gefahr besteht, dass in Ermangelung etablierter Präzedenzfälle Gerichte im Instanzenzug je nach Laune und ideologischer Voreinstellung die unterschiedlichsten Urteile fällen werden.

Möglichkeiten gibt es viele. Ein Arbeitgeber wie Google oder Facebook verlangt unter dem Motto „no jab, no job“, vom Arbeitnehmer den Nachweis vollständiger Impfung. Das verletzt möglicherweise dessen Recht auf Religionsausübung und körperliche Unversehrtheit. Bereits 14 Prozent der US-Arbeitgeber sollen bereits die Impfung fordern. US-Regierungsstellen hingegen zögern noch und erhöhen dadurch das Prozessrisiko privater Arbeitgeber.

Bisweilen argumentieren Arbeitnehmer voller Misstrauen, was die Segnungen der modernen Medizin angeht. Der Sinn von Impfungen erscheint vielen zweifelhaft. Eher in einer Grauzone sind Fälle angesiedelt, wo jüngere Mitarbeiter noch keine Impfmöglichkeit haben oder wenn schwangere Frauen meinen, die Impfung gefährde ihren Fötus. Ein Arbeitgeber verlangt Präsenz, ohne ungeimpfte Mitarbeiter auszuschließen. Das könnte die körperliche Integrität von (geimpften) Kollegen gefährden. Ein Arbeitgeber feuert einen Mitarbeiter, dessen kleine Kinder immer wieder Videokonferenzen stören, die Möglichkeiten für Prozesse sind vielfältig.

Der wahrscheinlichste Fall ist eine generelle Präsenzunlust. Ein Mitarbeiter möchte weiter des Morgens vom Küchentisch aus im Pyjama arbeiten und wird stattdessen genötigt, wieder um 7 Uhr einen überfüllten und teuren Vorortszug zu besteigen. Er betrachtet das Präsenzansinnen des Arbeitgebers als unverhältnismäßig und rechtsmissbräuchlich. Er rügt des Weiteren die Ungleichbehandlung, dass man es seinem Kollegen gestatte den bisherigen Schlendrian aufrechtzuerhalten und nur ihn erneut an die Kandare zu nehmen gedenkt.

Solche Fälle gab es nicht, als noch alle in die eigenen vier Wände verbannt waren. Es herrschte vollkommene Gleichbehandlung, nun aber geht es darum, ob ein Arbeitgeber in unzulässiger Weise differenziere, also diskriminiere.

Es gibt bereits Cluster von regionalen und nach Wirtschaftszweig festzustellenden Schwerpunkten: 22,4 Prozent betreffen das Gesundheitswesen, 8,2 Prozent Fabrikation, 6,8 Prozent die Gastronomie und Hotellerie und 5,1 Prozent die Bauwirtschaft. Mit 22,7 Prozent pro 100.000 Einwohner liegt der District of Columbia an der Spitze, gefolgt von Kalifornien mit 19,4 und Connecticut mit 17,4 Prozent.

Die betroffenen Arbeitgeber bleiben, wie in den USA üblich, stets auf den eigenen Rechtsverteidigungskosten sitzen. Sie schulden darüber hinaus in vielen Fällen wohl auch noch Schadenersatz, nämlich für Job-Verlust, entgangene Karrieremöglichkeiten und psychologischen Stress.

Noch zeitgemäß?

Derartige Folgen von den Gerichten für unzulässig erachteter Diskriminierung decken US-Arbeitgeber seit Jahren bereits unter „employment practices liability insurance“ (EPLI). Das Versicherer-Exposure solcher Portfolios ist nun drastisch gestiegen, die Policen dürften sich um bis zu 75 Prozent verteuern. In Fällen sich bereits anbahnender Rechtsstreitigkeiten dürfte der Versuch der Policenerneuerung gänzlich fehlschlagen. Gleichzeitig werden bislang unversicherte, ihre neue Exponierung jedoch ahnende Arbeitgeber sich bemühen, noch rasch das befürchtete Exposure abzuwälzen.

Erneut dürfte sich die Frage stellen, inwieweit ein Erstversicherer eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle zu einem XL-Schaden aggregieren darf. Hierfür dürfte es eines ausreichenden Nexus bedürfen, etwa alle Arbeitnehmerklagen, die durch die neue Weisung einer einzigen Personalabteilung ausgelöst werden.

Eine Art Staatsverfahren könnte in der Unfähigkeit des Gesetzgebers erblickt werden, diese Art von neuartigen Fallkonstellationen betreffenden Zwistigkeiten legislativ verbindlich zu lösen. Stattdessen wird sie in einer sich über Jahre und Instanzen erstreckenden jurisdikativen Agonie enden.

Ob das Rechtsinstitut des Arbeitsvertrags überhaupt noch zeitgemäß erscheint, ist eine weiterführende Frage. Es ist weder konsequent noch akzeptabel, wenn Arbeitnehmer einerseits die Flexibilität einer Selbstständigenexistenz für sich reklamieren, andererseits aber die Vorteile einer gehüteten Angestelltenexistenz weiter für sich beanspruchen wollen. Vielleicht hieße der sich aufdrängende Weg: zurück ins vorindustrielle Zeitalter. Das hieße, die Emanzipation bisheriger Mitarbeiter in sich periodisch neu andienende und verdingende Vertragslose, möglicherweise als Teams von mehreren strukturiert.

Autor: Philipp Thomas