AGCS-Manager Hans-Jörg Mauthe: „Wir brauchen echte End-to-End-Lösungen vom Underwriting bis hin zur Schadenbearbeitung“

Hans Jörg Mauthe. Quelle: AGCS.

Der Industrieversicherer AGCS segelt in stürmischen Gewässern. Das Schiff soll mitten in einer Pandemie auf einen einträglichen Kurs gesteuert werden. Der AGCS-Kapitän für das Geschäft Central & Eastern Europe, Hans-Jörg Mauthe, erklärt im Exklusiv-Interview mit VWheute sein Vorgehen, die Untiefen und wann das rettende Land dauerhafter Gewinn bei AGCS erreicht werden wird.

VWheute: Im Interview vor einem Jahr strebten Sie eine Combined-Ratio von unter 95 Prozent in der von ihnen verantworteten DACH-Region an. Wie ist der Stand?

Hans-Jörg Mauthe: Leider ist uns hierbei auch Covid-19 dazwischengekommen, allein in unserem relativ kleinen Bereich Veranstaltungen und Filmproduktionen entstand durch Ausfälle eine Schadenbelastung von 488 Mio. Euro. Gleichwohl ist auch in anderen Sparten eine höhere Schadenfrequenz und -höhe entstanden, teilweise haben sich hier Schäden aus Vorjahren schlechter entwickelt als erwartet. Hervorheben möchte ich den Haftpflichtbereich, insbesondere das Kfz-Rückruf-Segment fiel hier stark ins Gewicht.

Das führt dazu, dass wir im zweiten Quartal global eine Combined-Ratio von 117 Prozent aufwiesen. Viele der Kosten stehen in Verbindung mit der Pandemie und wir haben im Underwriting generell die richtigen Maßnahmen ergriffen, sodass ich für die Zukunft optimistisch bin. Wir sind also noch nicht bei den 95 Prozent, werden aber bereits 2021 ein gutes Stück näher dran sein.

VWheute: Ist die Abwägung von Risiken in Epidemiezeiten schwieriger geworden, gibt es wegen des zwischenzeitlichen Wirtschaftsstillstandes weniger Risiken zu zeichnen?

Hans-Jörg Mauthe: Nein, die Nachfrage ist nicht gesunken. Es kann durch Covid-19 und die aktuelle Marktverhärtung dazu kommen, dass einige große Unternehmen verstärkt zu Captive Insurance, also Eigenversicherung, greifen. Doch wir sehen aktuell noch keinen Trend in diese Richtung.

VWheute: AGCS warnte vor der unsachgemäßen Stilllegung von Unternehmen. Gab es solche Schadenfälle?

Hans-Jörg Mauthe: Wir hatten tatsächlich einen solchen Fall. Bei einem Zulieferer aus der Möbelindustrie ist beim Wiederhochfahren der Produktionsanlage im Bereich Klebemittel ein größerer Schaden entstanden. Das wird vermutlich ein zweistelliger Millionen-Schaden werden. Vor Covid-19 hatten wir einen ähnlichen Fall bei einem Chemieunternehmen beim Hochfahren der Produktion, wodurch sogar ein dreistelliger Millionen-Schaden entstanden ist.

VWheute: Viele Länder wollen wegen Corona krisenkritische Produktionsbereiche zurück holen. Was wären die Auswirkungen?

Hans-Jörg Mauthe: Das ist eine Frage, die man nicht so einfach beantworten kann. Wenn die Lieferketten wieder lokaler würden, sehen wir zwei Auswirkungen: Einerseits würde dies vermutlich zu weniger Schadenaufwänden führen, da globale Abhängigkeiten reduziert würden. Auf der anderen Seite würden Teile der Produktion wieder in europäische Hochlohnländer verlagert werden, was bei einem Betriebsunterbrechungs-schaden wieder ins Gewicht fiele. Das wäre  aber nur eine Auswirkung einer möglichen Deglobalisierung, von der ich aber aktuell nicht ausgehe.

VWheute: Bleiben wir weltumfassend und beim Handel, welche Auswirkungen hatte die Krise auf den Luft- und Seemarkt?

Hans-Jörg Mauthe: Der zivile Flugverkehr lag praktisch brach. Die Klauseln in den Verträgen sind teilweise so gestaltet, dass reduzierte Bewegungen einfließen, andere Aspekte werden in den jährlichen Renewals besprochen. Allerdings taten sich während des Lockdowns auch andere Schadenpotentiale auf, beispielsweise durch Kumulrisiken: So steigt das Risiko von Rangier- oder Hagelschäden, wenn große Flugzeugflotten auf einem Rollfeld zwischengeparkt werden.

Die Schifffahrtsindustrie wurde während der Pandemie weitestgehend fortgesetzt. An der Stelle sehen wir durchaus das Risiko von größeren Schäden, weil sich zum Beispiel das Aussetzen des turnusmäßigen Besatzungswechsels auf das Wohlergehen und die Leistungsfähigkeit der Seeleute an Bord auswirkt, was zu einer Zunahme menschlicher Fehler an Bord von Schiffen führen könnte. Außerdem erhöhen Störungen bei wesentlichen Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten das Risiko von Maschinenschäden – diese sind schon heute eine der Hauptursachen für Schäden.

VWheute: Die Schiffsfahrtbranche hat Probleme. Emissionsreduzierung, politische Risiken, Piraterie und natürlich die Dauerbrenner Brand und Natur. Was erwarten Sie in diesem Bereich künftig?

Hans-Jörg Mauthe: Das Ziel, die CO2-Emissionen bis 2050 zu halbieren, erfordert von der Branche in der Tat eine radikale Änderung der Kraftstoffe, der Motorentechnologie und sogar der Schiffskonstruktion. Die Einhaltung der Vorschriften ist nicht einfach, und Kinderkrankheiten könnten zu einem Anstieg der Schadenersatzforderungen bei Maschinenschäden führen.

Zudem sehen wir erhöhte politische Risiken und Unruhen weltweit, die Auswirkungen auf die Schifffahrt haben. In der Tat stellt die Piraterie nach wie vor eine große Bedrohung dar: Der Golf von Guinea gilt wieder als globaler Brennpunkt, während in Lateinamerika bewaffnete Raubüberfälle zunehmen und auch die Piraterie in der Straße von Singapur wieder zunimmt.

VWheute: Wie steht es bei Cyber?

Hans-Jörg Mauthe: In Deutschland hat die AGCS 2019 Cyber-Versicherungsprämien im höheren zweistelligen Millionenbereich generiert. Unser weltweites Cyberbuch hat die 100 Mio. Euro Prämienschwelle überschritten. Gleichzeitig hat sich Cyber zu einem der größten Unternehmensrisiken entwickelt. Viele Versicherer sind deshalb beim Underwriting vorsichtiger geworden, das ist in der steigenden Schadenanzahl- und höhe begründet. Bei AGCS in Deutschland ist jede vierte Police mittlerweile schadenträchtig, vor drei Jahren war es erst jede zehnte.

VWheute: Ein großes Thema in der Industrieversicherung sind die Prämien. Kam es zu der von ihnen im letzten Jahr vorhergesehenen Preiskorrektur?

Hans-Jörg Mauthe: Wir haben in den zurückliegenden Quartalen einen weltweiten Trend zu Ratenerhöhungen in allen Märkten und Sparten gesehen, ursächlich dafür ist die Schadenentwicklung und ein über Jahre unauskömmliche Prämienniveau für viele Versicherer. Für eine Prognose, wie Corona die Preise beeinflussen könnte, ist es aber noch zu früh.

VWheute: Mehr Schäden auch bei Financial Lines?

Hans-Jörg Mauthe: Der Schadentrend ist da, das zeigen auch die GDV-Zahlen für die D&O-Versicherung in Deutschland. Manager werden verstärkt in Haftung genommen, es gibt mehr Ermittlungen und Gerichtsprozesse, oft ausgehend von Compliance-Verstößen. Corona könnte durch die steigende Zahl von Insolvenzen zu weiteren Schäden in diesem Bereich führen.

VWheute: Wie ist die Prämiensituation in der von Ihnen verantworteten DACH-Region?

Hans-Jörg Mauthe: Den Trend zur Ratenerhöhung sehen wir klar auch im deutschsprachigen Raum, er ist allerdings nicht ganz so steil wie in Amerika oder Asien. Die Märkte dort reagieren schneller auf Trends, vielleicht weil es Broker-Märkte sind. Diese Erhöhungen zeigen sich aber nicht sofort in den GuV der Versicherer, da unter anderem alle Verträge am selben Stichtag enden. Bei uns laufen zum Beispiel rund 65 Prozent der Vereinbarungen zum 1. Januar aus, 35 Prozent im Laufe des Jahres. Die Auswirkungen der Erhöhungen werden also erst nach und nach sichtbar.

VWheute: Amerika fährt derzeit einen harten Kurs gegenüber ungeliebten Ländern wie China und Iran, spürt ein globales Unternehmen wie AGCS das?

Hans-Jörg Mauthe: Amerika ist weltweit präsent und auch für uns ein wichtiger Markt, in dem wir die Hälfte unserer Prämieneinnahmen erzielen. Fährt ein solches Land seinen Handel herunter oder verlangsamt diesen, hat das Auswirkungen auf das Industriegeschäft. Konkret ist das derzeit aber noch nicht zu sehen. Als globales Unternehmen ist uns natürlich sehr daran gelegen, dass die internationalen Handelsregeln eingehalten werden.

VWheute: Was ist beispielsweise mit Nordstream, Amerika will das Projekt stoppen, die Beteiligten fordern politische Hilfe von der EU. Ist die Allianz am Projekt beteiligt und wie geht sie vor?

Hans-Jörg Mauthe: Wir beobachten die Entwicklung der weltweiten Sanktionsregime natürlich genau, weil deren Einhaltung für unser Geschäft essentiell ist. Zu Kundenbeziehungen äußern wir uns generell nicht, daher kann ich zu dem Pipeline-Projekt nichts sagen.

VWheute: Kommen wir zur AGCS intern. Wie weit sind sie in ihrer digitalen Transformation vorangekommen?

Hans-Jörg Mauthe: Digitalisierung ist der Schlüssel, um am Markt erfolgreich zu sein. Wir brauchen echte End-to-End-Lösungen vom Underwriting über die Vertragsbearbeitung bis hin zur Schadenbearbeitung, die in Kundenportale einfließen. Im Moment ist das noch nicht der Fall, aber wir investieren im Rahmen unseres Transformationsprogramms stark in die notwendigen Plattformen und Instrumente. Auch Datenanalyse wird künftig eine wichtige Rolle spielen.

VWheute: Was ist der digitale Knackpunkt?

Hans-Jörg Mauthe: Die zentrale Änderung ist der Bereich Underwriting. Wir müssen uns hier Schritt für Schritt weiterentwickeln. Das Ziel ist ein empirisches, datenbasiertes Modell, in dem die Entscheidungen nachvollziehbarer und stärker empirisch basiert sind. Der Underwriter, der Risikobewertung und Prämienkalkulation nur aus Erfahrungswerten heraus macht, wird irgendwann der Vergangenheit angehören. Datenanalyse, dynamisches Pricing, Portfoliosteuerung und Volatilitätsmanagement werden zukünftig eine viel größere Rolle spielen.

VWheute: Das klingt alles sehr positiv und progressiv, warum muss AGCS dann Stellen streichen, warum kam es zu so vielen Wechseln im Vorstand?

Hans-Jörg Mauthe: Die AGCS hat Ende Juli ein groß angelegtes Transformationsprogramm gestartet, das an vier wesentlichen Stellschrauben ansetzt: Wir wollen fachliche Kompetenzen im Underwriting und in der Schadenbearbeitung stärken, die Organisation vereinfachen und straffen, die Vertriebsfunktion ausbauen und in die Digitalisierung investieren, um Kerngeschäft und Kundenangebote weiterzuentwickeln.

Ein neue Führungsmannschaft wird diesen Umbau vorantreiben. Wir werden in diesem Zuge auch Prozesse vereinfachen und verschlanken. Das hat in der Tat auch Auswirkungen auf die Stellenanzahl; gleichzeitig werden aber neue Positionen geschaffen. In der von mir verantworteten Region wird der Stellenabbau überschaubar bleiben.

VWheute: Wie lange wird es dauern, bis in der Führung alles konsolidiert ist, welche Auswirkungen sind zu erwarten?

Hans-Jörg Mauthe: Wir haben eine gute Mischung aus Allianz-Gewächsen und neuen Kräften von außen in unserem Vorstand und im Top-Management, die schnell zusammenwachsen werden. In einem Change-Programm arbeiten Management und Mitarbeiter auch an einem Kulturwandel innerhalb der AGCS, da wir künftig noch viel stärker als ein globales Team agieren möchten.

VWheute: Können Sie das Ziel für 2021 nennen, konzernweit und in ihrem Bereich?

Hans-Jörg Mauthe: Die Neuausrichtung unseres Portfolios ist bereits in vollem Gange, und wir gehen davon aus, dass wir 2021 deutliche Verbesserungen in der Profitabilität erreichen werden. Die vollständige Erneuerung unseres Geschäftsmodells und unserer Organisation wollen wir bis Ende 2024 realisieren.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.

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