Nach Supreme Court Urteil zur BSV: Versicherungsbranche drohen Konflikte an mehreren Fronten

Bild und Quelle: UK Supreme Court.

Der Superlativ ist angebracht: Das Urteil des obersten britischen Gerichts wird die gesamte Branche verändern. Betroffen sind Kunden, Erst- und Rückversicherer, Makler und Berater sowie die Verbraucherschützer und Finanzaufsichten. Wer begleicht welchen Schaden, wie hoch ist die Rückversicherung und wer hat eventuell falsch beraten; es wird zu vielen Prozessen kommen. Betroffen sind auch Häuser, deren Fälle aktuell nicht entschieden wurden, beispielsweise die Allianz und Axa. Warum Versicherern am Ende sogar Solvenzprobleme drohen, zeigt die Analyse.

Der Supreme Court hat die Berufungsentscheidung auf die erstinstanzliche Entscheidung des High Courts von 15. September 2020 getroffen und final gegen die Branche geurteilt. Der Ansicht der Financial Conduct Authority, Finanzaufsicht zum Konsumentenschutz und Teil der Bank of England, wurde weitgehend stattgegeben. Die Berufung der beklagten Versicherer ist zur Gänze verworfen worden. Im Vergleich zum bereits verhängnisvollen Urteil des High Court gegen die Branche hat eine weitere erhebliche Verschlechterung der nicht-Lebensgesellschaften mit BU-Policen im Portfolio stattgefunden.

Die Liste der beklagten Erstversicherer lesen sich wie ein Who is Who der britischen Versicherungsbranche: Arch Insurance (UK) Ltd, Argenta Syndicate Management Ltd, Ecclesiastical Insurance Office Plc, Hiscox Insurance Company Ltd, MS Amlin Underwriting Ltd, QBE UK Ltd, Royal & Sun Alliance Insurance Plc, Zurich Insurance Plc. Der Prozess bezog sich auf 21 Betriebsschließungsversicherungspolicen und sollte klären, ob die Versicherer für die Einkommensschäden der Versicherten während der Corona-Pandemie aufkommen müssen. Es handelte sich um einen sogenannten Leapfrog-Appeal, eine Sprungrevision aufgrund der allgemeinen Bedeutung der Angelegenheit. Dadurch urteilte direkt der Supreme Court und nicht der normalerweise zuständige Court of Appeal – VWheute berichtete ausführlich, wie es dazu kam. Die Vorinstanz High Court hatte die Versicherer bereits zur Begleichung der COVID-Schäden unter den Bedingungen der zwölf Policen-Gestaltungen für ersatzpflichtig erklärt. Die hiervon betroffenen und oben genannten sechs Versicherer hatten dagegen Berufung eingelegt, sind nun aber sämtlichst unterlegen.

Im Zuge des Prozesses hatte der Supreme Court auch noch zwei weitere Policen-Wordings von QBE mit einbezogen. Nach seiner nun bindenden Auffassung reichen für einen Policenschaden auch nur teilweise Betriebsschliessungen sowie Schliessungen aufgrund nicht rechtlich bindender obrigkeitlicher Weisungen aus. Den Versicherern wird des Weiteren der Einwand verwehrt, dass es auch ohne die aufgezwungene Betriebsschließungen zu Umsatzeinbußen gekommen wäre. Die Begründung dafür war, dass Kunden aus Angst im häuslichen  Umfeld verbleiben, anstatt auswärts zu konsumieren. Damit ist den Unternehmen eine Begrenzung der Schäden erheblich erschwert worden.

Das Urteil betrifft Policen-Wordings, die den im Streit befindlichen gleichen oder zumindest ähneln. Es könnten nun noch weitere Grundsatzurteile zu sonstigen im Markt verwendete Wordings folgen, die vermutlich im Wesentlichen erneut gegen die Assekuranz ausfallen dürften. Es ist nicht auszuschließen, dass andere Unternehmen nun vor dem Hintergrund des Urteils von sich aus Schäden begleichen, die sonst vom Gericht geklärt worden wären. Neben der Zurich sind auch die Axa und Allianz groß auf dem britischen Markt vertreten, gehören zu den Top-Ten der Versicherer auf der Insel.

Der Supreme Court erarbeitet unter Mitwirkung der Finanzaufsicht Financial Conduct Authority (FCA) sowie der Assekuranz derzeit allgemeine Regeln, die auf dem letztinstanzlichen Urteil basieren. Verbleibende Dispute hinsichtlich der Behandlung einzelner Fälle unter diesen Regeln dürften künftig häufig bereits vom Ombudsmann entschieden werden, statt erneut die Gerichte zu bemühen.

Jeder gegen jeden: Weitere Prozesse werden folgen

Wenn feststehen wird, welche Schäden unter einzelnen Policen ersatzpflichtig sind,  wird unweigerlich die nächste Welle der Streitigkeiten an die Oberfläche kommen. Es wird darüber gestritten werden, wie die Verteilung der Bruttoschäden zwischen Erst- und Rückversicherern verteilt werden. Somit sind wohl auch Unternehmen wie die Swiss- und Munich Re sowie Hannover Rück vom Urteil betroffen. Angesichts des bindenden Charakters der vom High Court und vom Supreme Court geschaffenen Regeln ist es für die Rückversicherer ein Fall der Schicksalsteilung. Sie haben es nun nicht mit Kulanz-Zahlungen zu tun, denen sie nicht unbedingt folgen müssten.

Da die meisten Portfolios auf Schaden-Excedenten-Basis geschützt sind, wird es darum gehen, in welcher Weise, oder überhaupt, Einzelschäden zu für den Rückversicherer relevanten Ereignissen aggregiert werden können. Im Bereich der Naturkatastrophen gibt es hierfür zum Beispiel 168 Stundenklauseln, welche eine Aggregierung aller Schäden innerhalb eines Zeitrahmens gestatten, ohne dass noch ein innerer Zusammenhang zu beweisen wäre. Für Pandemieschäden fehlt eine solche Klausel. Erschwerend kommt hinzu, dass es wahrscheinlich zwei Anfalljahre gibt, 2020 und 2021. Das gilt allerdings nur, wenn im Jahr 2021 keine expliziten Ausschlüsse gelten. Es dürfte eine Serienschadenklausel fehlen, die auch erst im Jahr 2021 manifestierte Schäden auf das Anfangsjahr der Pandemie 2020 zurückprojiziert.

Die Rückversicherer dürften sich auf den Standpunkt stellen, dass jeder Policenschaden ein separates Ereignis darstellt, welches aus der Perspektive des Rückversicherers hoffentlich unter der Zedentenpriorität verbleibt. Im Versicherungswesen ist der Zedent der Erst- oder Rückversicherer, der Anteile der von ihm versicherten oder rückversicherten Risiken gegen eine Prämie an einen Rückversicherer abgibt. Andererseits liegt es in der Natur einer Schadenexcedentendeckung, dass diese nach oben hin beschränkt ist. Viele Zedenten dürften im Fall der zulässigen Schadenaggregierung rasch an eine Begrenzung der Deckung stoßen. Es ist nicht auszuschließen, dass Unternehmen den platzierenden Makler wegen Falschberatung zur Verantwortung ziehen werden. Eine weitere Prozesslawine wäre die Folge.

Rückstufung der Versicherer

Die Ratingagentur Moody’s bewertet das letztinstanzliche Urteil für die britischen Nichtlebensversicherer als credit-negative. Die Bewertungen der Unternehmen dürften also fallen. Was die FCA als Konsumentenschutzorganisation für die Versicherten erstritt, wird wohl auch für ihre ebenfalls bei der Bank of England angesiedelte Schwester Prudential Regulatory Authority Folgen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass Solvenzprobleme bei einzelnen Versicherern aufkommen, die genannte Bewertung der Ratingagentur Moodys wird dabei nicht helfen. Die regulatorischen Ziele der beiden Bank of England Aufsichten sind möglicherweise nicht kompatibel. Offen bleibt, ob die für die britische Assekuranz fatale Einschätzung des Gerichts auch für die EU-Justiz eine Signalwirkung entfalten könnte. Große britische Anwalts-Sozietäten müssen derzeit befürchten, dass aufgrund des Brexits die Anwendbarkeit britischen Rechts aus der Mode kommen könnte, was ihren Broterwerb erschwert. Die dank COVID entstehenden Dispute dürften sie jedoch für einige weitere Jahre mit genügend Arbeitsstunden versorgen.

Eine weitere Frage ist, wie die Risk-Management-Systeme großer Versicherer derart versagen konnten, dass man nonchalant und ohne große Prämienzuschläge ein offensichtliches Kumulrisiko mit einer vielleicht 100-jährigen Wiederkehrperiode deckte. Gegen diese Argumentation ließe sich einwenden, dass bislang zwar Pandemien vorausschaubar gewesen sein mögen, nicht aber ein derart radikaler staatlicher Lockdown. Es ist also diskutabel, dass die Assekuranz zum kollateralen Opfer einer Manifestation von politischem Risiko wurde.

Autor: Philipp Thomas