„Coronakrise wird die Digitalisierung im Gesundheitssystem weiter beschleunigen – Telematik-Konzepte dennoch nicht zur PKV-Tarifierung geeignet“

Clemens Muth, Chief Underwriter Ergo Group AG & Vorstandsvorsitzender der DKV, Deutsche Krankenversicherung. Quelle: Ergo

Clemens Muth, Chief Underwriter Ergo Group AG & Vorstandsvorsitzender der DKV, Deutsche Krankenversicherung hielt einen bemerkenswerten Vortrag auf dem KassenGipfel 2020. Sein Thema: die Coronakrise als Digitalisierungsbeschleuniger im Gesundheitssystem und warum Telematik-Konzepte kein Mittel der PKV sein sollte.

Das deutsche Gesundheitssystem hat sich in der Coronakrise erneut bewährt. Wir verfügen über hohe stationäre und ambulante Versorgungskapazitäten und haben eine hohe Dichte an Akut- und Intensivbetten. Auch unsere Kapazitäten im Bereich der ambulanten Testung und Behandlung von Infizierten sind vorbildlich. Die PKV engagiert sich in der Coronakrise und beteiligt sich an den Pandemiekosten der Krankenhäuser und in der Pflege und trägt zur Finanzierung des gestiegenen Hygieneaufwands in der ambulanten Versorgung bei. Zudem ist es unser Auftrag, auf die gesundheitlichen Risiken der COVID-19-Erkrankungen hinzuweisen und entsprechende Informationen mit unseren Kunden und der Öffentlichkeit zu teilen.

Die Coronakrise wird jedoch auch strukturell vieles in unserer Gesellschaft verändern. Erst Wirtschaftshistoriker werden dies umfassend analysieren können. Klar ist jedoch schon heute, dass die Coronakrise faktisch als Digitalisierungsbeschleuniger im Gesundheitssystem wirkt. Längst reicht es nicht mehr, digitale Lösungen zusätzlich zu den etablierten Angeboten bereitzustellen. Der Kunde entscheidet, ob er digital, analog, oder persönlich Kontakt aufnimmt. Das erfordert Konsistenz in den Unternehmensprozessen im Hintergrund, bietet aber auch die Chance für neue Angebote. So hat die Telemedizin in Deutschland mit Corona ihren Durchbruch erreicht und gewinnt massiv an Bedeutung.

Es gilt, das aktuelle Momentum aufzugreifen und die zunehmende Offenheit in Gesellschaft und Wirtschaft für weitere digitale Lösungen – ob unterstützt durch künstliche Intelligenz oder Robotics – zu nutzen. Der mit der elektronischen Patientenakte mögliche Informationsaustausch zwischen und mit den Leistungserbringern wird die Effizienz der medizinischen Versorgung verbessern. Unerwünschte Wechselwirkungen zwischen Therapien oder Mehrfachuntersuchungen können vermieden werden – u. a. durch Medikationspläne –, neue und innovative Möglichkeiten der medizinischen Versorgung sind möglich. Nicht jedes Arztgespräch muss in der Praxis durchgeführt werden, nicht jede Behandlung beim Therapeuten. Die mit der Digitalisierung verbundene globale Vernetzung befördert die Diagnose und möglicherweise Behandlung seltener Krankheiten. Im Bereich der Gesunderhaltung sind neue Möglichkeiten des Coachings und der Begleitung etwa durch die digitale Compliance-Kontrolle bei entsprechenden Gesundheitsprogrammen gegeben.

Weniger angebracht erscheint es jedoch, die etwa aus der Kfz-Versicherung bekannten Telematik-Konzepte, d.h. die von individuellen Fahrdaten abhängige Prämienfestlegung, in die Tarifierung der privaten Krankenversicherung zu übertragen. Natürlich ist ausreichend Bewegung gut für die individuelle Gesundheit. Telematik-Ideen in der Tarifierung der privaten Krankenversicherung werfen jedoch noch zahlreiche offene Fragen auf: Wie steht es um die schützenswerte Privatsphäre des Kunden, der seiner Krankenversicherung vollen Einblick in den persönlichen Lebensstil geben müsste? Wie erfolgt die Messung? Welche Zusammenhänge messen die verwendeten Algorithmen? Die Prämien in der Krankenversicherung müssen geschlechtsunabhängig sein. Aus gutem Grund deckt die private Krankenversicherung nach erfolgter Aufnahme sämtliche tarifliche Leistungen. So dürfen nachträgliche eingetretene Veränderungen des Gesundheitszustands nicht berücksichtigt werden. Es stellen sich nicht zuletzt erhebliche Fragen zur rechtlichen Grundlage von Telematik-Tarifen. Kalkulatorisch ist fraglich, ob wir überhaupt genügend statistische Evidenz haben, um von bestimmten Gesundheitsdaten – wie etwa der täglichen Schrittzahl oder Aktivität – auf die für die Tarifierung wesentliche zukünftige Entwicklung der Krankheitskosten zu schließen. Dann bliebe letztlich nur das Selektionsargument: Sind also Nutzer von Wearables oder Kunden, die bereit sind, sich auf verhaltensbasierte Tarife einzulassen, gesünder als ihre Vergleichsgruppe? Auch hier ist Vorsicht geboten: Spitzensport ist nicht immer gesund. Auf das richtige Maß an Bewegung kommt es an.

Die private Krankenversicherung verfügt davon unabhängig bereits über zahlreiche, bewährte Steuerungsinstrumente wie Selbstbehalte, Leistungsstaffeln, Höchstgrenzen oder die Beitragsrückerstattung. Allein für das vergangene Jahr hat die DKV Deutsche Krankenversicherung mehr als 150 Mio. Euro Beitragsrückerstattung an ihre Versicherten ausgezahlt. Die Möglichkeiten der Digitalisierung werden dazu beitragen, dass wir auch ohne Telematik-Tarife unseren Versicherten attraktive Angebote und Services anbieten können.

Autor: Clemens Muth, Chief Underwriter Ergo Group AG & Vorstandsvorsitzender der DKV, Deutsche Krankenversicherung.

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