10.000 Zeichen Faktencheck: PKV hat kritische Bertelsmann-Studie kommen sehen

Anastasia Borisova auf Pixabay

Das duale System von gesetzlicher und privater Krankenversicherung sorgt in Deutschland immer wieder für heftige Auseinandersetzungen. Eine aktuelle Studie des Iges-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung gießt nun neues Öl in die Debatte – und sorgt für die gewohnten Reflexe aus der Branche. Wer hat recht?

Eine zentrale Aussage der Studie lautet: Würden Privatversicherte in die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) mit einbezogen, könnten gesetzlich Krankenversicherte könnten pro Jahr im Schnitt 145 Euro gemeinsam mit ihrem Arbeitgeber sparen. Würden die durch den Wegfall der PKV anfallenden Honorarverluste der Ärzte ausgeglichen, wären es 48 Euro jährlich, heißt es in der Studie weiter. Diese finanziellen Verbesserungen für die GKV-Mitglieder kämen aufgrund des in doppelter Hinsicht günstigeren Risikoprofils der Privatversicherten zustande, konstatieren die Studienautoren weiter

So wurden diese im Durchschnitt 56 Prozent mehr als gesetzlich Versicherte vedienen und tragen somit zu einem deutlich höheren Beitragsaufkommen bei. Zum anderen seien Privatversicherte auch gesünder: Unter ihnen sei der Anteil mit mindestens einem Krankenhausaufenthalt pro Jahr mit 17 Prozent deutlich geringer als bei GKV-Versicherten (23 Prozent). Zudem würden deutlich mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder Pflegebedürftigkeit unter gesetzlich Versicherten finden als bei privat krankenversicherten Personen.

Doch gebe es nicht nur finanzielle Gründe für ein Ende des dualen Systems, sondern auch Gerechtigkeitsargumente. So schwäche das System nach Ansicht der Studienautoren auch den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. „Nur wenn sich alle Versicherten unabhängig vom Einkommen zusammentun, um die Risiken zwischen Gesunden und Kranken auszugleichen, kann eine tragfähige Solidargemeinschaft entstehen“, betont Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Die Bertelsmann-Stiftung fordert daher einen Umbau der Kranken- und Pflegeversicherung. Ziel sei neben einem leichteren Wechsel von der PKV in die GKV eine integrierte Kranken- und Pflegeversicherung, bei der alle Bürger pflichtversichert sind. Die Versicherungspflichtgrenze solle dafür aufgehoben werden. Vielmehr sollten sich die Beiträge an der finanziellen Leistungsfähigkeit orientieren und nicht am individuellen Gesundheitsrisiko.

PKV-Verband kontert mit „Faktencheck“

Entsprechende Reaktionen aus der Branche lassen nicht lange auf sich warten. Wenig verwunderlich, dass der PKV-Verband praktisch kein gutes Haar an der Studie lässt. „Die Bertelsmann-Studie ist ein Rechenexempel im luftleeren Raum. Die angebliche Ersparnis von 145 Euro im Jahr ginge voll zulasten der ärztlichen Versorgung. Denn was die Versicherten sparen, wird den Arztpraxen genommen“, kommentiert PKV-Verbandsdirektor Florian Reuther in einer Stellungnahme des Verbandes.

„Die 145-Euro-Illusion von Bertelsmann beruht darauf, dass der PKV-Mehrumsatz für die Ärzte ersatzlos wegfiele. Damit gingen jeder Arztpraxis in Deutschland im Schnitt über 54.000 Euro pro Jahr verloren – wodurch sich die Wartezeiten und die Versorgungsqualität für alle Patienten drastisch verschlechtern würden“, betont der Verbandsvertreter weiter.

Zudem sei es „den Autoren selber klar ist, dass ihre Studie ein Muster ohne praktischen Wert ist“, kontert der PKV-Verband in Richtung Bertelsmann-Stiftung: „Dabei handelt es sich um eine rein rechnerische Schätzung von Finanzierungseffekten für den hypothetischen Fall, dass alle gegenwärtig in der PKV vollversicherten Personen in der GKV versichert wären. Damit handelt es sich ausdrücklich nicht um ein realistisches, ‚umsetzungsnahes‘ Szenario“. Zitat Ende. Dem ist nichts hinzuzufügen.“

Ärztekammer: „Griff in die ideologische Mottenkiste“

Scharfe Kritik erntet die Stiftung auch von der Bundesärztekammer. „Die Auftragsarbeit der Bertelsmann-Stiftung ist ein Griff in die ideologische Mottenkiste und wurde offenbar in Unkenntnis des jüngsten Gutachtens der Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem der Bundesregierung (KOMV) verfasst. Die KOMV hatte einer Vereinheitlichung der Systeme einstimmig eine Absage erteilt. Stattdessen spricht sie sich für den Erhalt des dualen Krankenversicherungssystems sowie für Reformen bei Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und Privater Krankenversicherung (PKV) aus. Die Bertelsmann-Stiftung sollte sich an der Diskussion über praxistaugliche Lösungen beteiligen, statt ideologisch motivierte Debatten von vorgestern zu führen“, kommentiert Präsident Klaus Reinhardt.

Zudem blieben „in der Studie solche wichtigen Aspekte der Patientenversorgung komplett außen vor. In den Niederlanden oder in Großbritannien sehen wir, dass Einheitssysteme zu Rationierung, Wartezeiten und Begrenzungen in den Leistungskatalogen führen. Hinzu kommt, dass die Private Krankenversicherung die rasche Übernahme des medizinischen Fortschritts für alle Patienten ermöglicht. Denn die Existenz der PKV führt mit einem hohen Leistungsversprechen dazu, dass trotz aller Sparbemühungen auch das GKV-System versucht, einen hohen Versorgungsstandard zu erreichen“, kritisiert die Bundesärztekammer.

„In der Einheitsversicherung hingegen, sichern sich diejenigen, die es sich leisten können, einen exklusiven Zugang zur Spitzenmedizin als Selbstzahler oder durch teure Zusatzversicherungen. Diese Einschätzung teilt auch die Wissenschaftliche Kommission der Bundesregierung für ein modernes Vergütungssystem. Mit Blick auf ein Einheitssystem warnt sie in ihrem Gutachten vor der Bildung eines Sekundärmarktes, auf dem Patienten mit entsprechender Zahlungsbereitschaft ärztliche Leistungen zu höheren Preisen kaufen können. Damit wäre die Einheitsversicherung, anders als behauptet, keine gerechtere Alternative zum dualen Krankenversicherungssystem, sondern Wegbereiter für eine echte Zwei-Klassenmedizin in Deutschland“, heißt es weiter.

Barmenia-Chef fürchtet schlechtere Versorgungsqualität

Und die betroffenen Unternehmen selbst? Während die Allianz Krankenversicherung auf Anfrage von VWheute auf die Stellungnahme des PKV-Verbandes verweist, warnt Barmenia-Vorstandschef Andreas Eurich vor einer Abschaffung des dualen Systems. Ein solcher Schritt führe „ganz klar zu einer Verschlechterung der Versorgungsqualität. Das kann niemand ernsthaft wollen! Auch die Tatsache, dass die Auswirkungen der Demografie und die damit verbundenen Herausforderungen ausgeklammert werden, macht deutlich, dass es sich bei der Studie um ein unrealistisches Szenario handelt, das komplett in die falsche Richtung geht“. Der Branchenprimus Debeka hatte sich auf Anfrage von VWheute bis Redaktionsschluss nicht zur Studie geäußert.

Ungeachtet aller politischen Diskussionen um die Zukunft des dualen Systems geben sich die privaten Krankenversicherer weiter kämpferisch und selbstbewusst. So will der PKV-Verband für 2019 eine Trendwende bei den Wechselwilligen erkannt haben. Demnach hätten sich 2019 insgesamt 146.000 Personen für einen Wechsel aus der GKV in die PKV entschieden. Umgekehrt wechselten 134.000 Personen in die GKV, wobei diese Abgänge in der Regel nicht freiwillig erfolgen, so der Verband.

Link: Die vollständige Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Download.

Autor: VW-Redaktion

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