Versicherer hinterfragen Sinn vom Tempolimit

Quelle: BMW

Die Begrenzung von Geschwindigkeit auf deutschen Straßen ist ein Reizthema. Wohl vernünftig, aber sehr unpopulär beim Durchschnittsbürger und der Autoindustrie. Fragt man wie Versicherer dazu stehen, geben sie sich wortkarg und verweisen auf ihren Verband GDV. Dieser wiederum lässt seine Unfallforscher sprechen, die ihrerseits einen Praxistest fordern, um die Wirkungen eines Tempolimits wissenschaftlich zu untersuchen. Denn ein Tempolimit bringe nicht automatisch weniger Unfälle.

Alle Nachbarländer um Deutschland herum haben ein Tempolimit. Zumeist 130 Stundenkilometer, in Belgien und der Schweiz sind es sogar 120 km/h. Ohne verbindliches Tempolimit sind hierzulande 70 Prozent des Autobahnnetzes. Dauerhaft oder zeitweise geltende Beschränkungen mit Schildern gibt es auf 20,8 Prozent des Netzes, wie Daten der Bundesanstalt für Straßenwesen für 2015 zeigen. In Deutschland gilt seit mehr als 40 Jahren lediglich eine empfohlene Richtgeschwindigkeit von 130.

Die SPD will eine gesetzliche Beschränkung. Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) jedoch verweist auf die erst im Oktober stattfindende Abstimmung im Parlament. Dabei ist ein Vorstoß der Grünen für Tempo 130 im Parlament gescheitert. Auch die meisten SPD-Abgeordneten stimmten dagegen, das ist in Koalitionen bei Oppositionsanträgen allerdings üblich. Kürzlich postete SPD-Chefin Saskia Esken eine Grafik, die einen statistischen Zusammenhang zwischen Tempolimit und weniger Verkehrstoten zeigt. Im Jahr 2016 sind dem Artikel und der Grafik zufolge auf deutschen Autobahnen mit Geschwindigkeitsbegrenzung pro Autobahnkilometer 26 Prozent weniger Menschen tödlich verunglückt als auf Autobahnen ohne Tempolimit. Die Auswertung stammt vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR).

Polizei und Versicherer wollen ein wissenschaftliches Gutachten

Höhere Geschwindigkeit = längerer Bremsweg = mehr Schaden beim Aufprall. So einfach ist es dann wohl doch nicht. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) regt an, dass die Zusammenhänge möglichst bald genauer erforscht werden sollten: „Die Bundesregierung sollte ein wissenschaftliches Gutachten in Auftrag geben, um valide Zahlen über den Nutzen eines Tempolimits zu bekommen“, sagte ihr Vizevorsitzender, Michael Mertens, dem Handelsblatt. „Mit einer solchen Grundlage kann man die aktuell sehr emotionsgeladene Diskussion sicher auf eine sachliche Ebene bringen.“

Nur selten wollten sich einzelne Kfz-Versicherer auf Anfrage zu diesem Thema äußern. Zumindest die VHV positioniert sich eindeutig: „Ein generelles Tempolimit ist aus unserer Sicht als Kfz-Versicherer sinnvoll. Dass ein Tempolimit zum Klimaschutz beitragen würde, ist aufgrund eines niedrigeren CO2-Ausstoßes unbestritten“, heißt es in einer Erklärung.

Für die anderen großen Kfz-Versicherer des Landes handelt es sich um ein „gesellschaftliches und politisches Thema“, sodass ihre Position besser der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft erläutern könne. Ähnlich wie die Polizei schlägt der Verband einen umfassenden Praxistest vor. „Tatsächlich führen geringere Geschwindigkeiten zu kürzeren Anhaltewegen und zu einer geringeren kinetischen Energie. Das heißt aber nicht, dass sie auch immer zu weniger Unfällen führen. Es ist bereits nachgewiesen, dass in Deutschland die Unfallbelastung in Autobahnbaustellenabschnitten (Geschwindigkeit 80 oder 60) höher liegt, als auf freier Strecke“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung beim GDV auf Anfrage von VWheute. „Ebenso gibt es ungeregelte BAB-Abschnitte, die günstiger abschneiden als temporeduzierte. Das Unfallgeschehen ist eben abhängig von einer Vielzahl weiterer Parameter. Darüber hinaus wäre ja auch die Frage der ‚richtigen‘ Geschwindigkeit zu klären.“

Der GDV hat sich nach eigenen Angaben stets dafür eingesetzt, die Forschungslage zu dieser Frage zu verbessern. „Im Moment gibt es nur Studien aus den siebziger Jahren, die also einen völlig anderen Stand der Motorisierung betreffen, und Ergebnisse von hoch unfallbelasteten Teilabschnitten.  Ausländische Erfahrungen taugen nicht wegen unterschiedlicher Verkehrsstärken und Mentalitäten“, betont Brockmann.

Einzelne Studien belegen sinkende Unfallzahlen

Einzelne Bundesländer haben bereits wissenschaftliche Studien durchgeführt, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen. Auf einem Autobahnabschnitt der A4 zwischen den Gemeinden Elsdorf und Merzenich wurde 2017 nach mehreren schweren Unfällen mit zahlreichen Verletzten und insgesamt neun Getöteten in den vorangegangenen drei Jahren ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde eingeführt. Nach Informationen des Deutschen Verkehrssicherheitsrats (DVR) ereignete sich dort bis heute kein tödlicher Unfall mehr.

2007 hat das Brandenburger Verkehrsministerium die Auswirkungen eines Tempolimits auf einem 62 Kilometer langen Autobahnabschnitt untersuchen lassen. Ein Teil der A24 zwischen den beiden Autobahndreiecken Wittstock/Dosse und Havelland war bis Dezember 2002 noch ohne Tempolimit. Danach wurde eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h eingeführt. Das Ergebnis: Die Zahl der Unfälle halbierte sich fast, von 654 Unfällen in drei Jahren ohne Tempolimit auf 337 Unfälle in drei Jahren mit 130 km/h. Auch die Zahl der Verunglückten sank von 838 auf 362 Verunglückte in drei Jahren (-57 Prozent).

Was übersehen wird in der Debatte: Im Verkehr der Zukunft mit autonomen Autos wird sich die Geschwindigkeitsbegrenzung ohnehin selbst einstellen. Bereits jetzt haben Elektroautos einen eingebauten Tempolimit. Denn über 130 km/h steigen die Anforderungen an Sensoren und Rechenkapazitäten exorbitant an – zu teuer also für die Autobauer. Diese wollen ohnehin das moderne Vehikel zur Erholungszone umgestalten. Rasende Roboterautos es nicht geben.

Autor: VW-Redakteur David Gorr

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