Legaltechs ziehen CEOs vor Gericht: AGCS warnt vor mehr Sammelklagen
Der Raum für Fehler wird für Bosse und Firmen immer kleiner. Aufgrund steigender Insolvenzrisiken, der wachsenden Cybergefahr und einer anhaltend hohen Zahl von Sammelklagen steigen die Haftungsrisiken. Speziell eine neue Entwicklung vergrößert das Risiko von Klagen, sowohl in Europa wie in Deutschland, warnt Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS).
Die steigende Klagegefahr hat drei Gründe: Die Zahl der in Deutschland aktiven Prozessfinanzierungsgesellschaften nimmt zu, die Gefahr von Verbandsklagen steigt und zudem entwickelt sich „schnell“ eine Legaltech-Szene, die vor allem in den Kanzleien zu beobachten ist. Der Trend gilt auch für Deutschland, analysiert AGCS.
Bei Legaltech werden einzelne Arbeitsprozesse, aber auch ganze Rechtsdienstleistungen vermehrt automatisiert abgehandelt, um eine Effizienz- und Qualitätssteigerung zu erzielen. „Dies bietet Rechtsanwaltskanzleien neue Möglichkeiten, im Rahmen der Anspruchsverfolgung neue automatisierte Verfahren einzusetzen, die Fälle in großer Masse abwickeln können, erklärt Stephan Geis, der bei der Allianz Global Corporate & Specialty für den Bereich Financial Lines in Zentral- und Osteuropa zuständig ist.“ Der Einsatz dieser Techniken mache auch die Finanzierung von kleinen Streitwerten „wirtschaftlich attraktiv“.
Generell nimmt die Prozessfinanzierung auch in Europa zu und trägt zu einer steigenden Zahl kollektiver Rechtsdurchsetzungsverfahren bei. Die Prozessfinanzierung ist ein bislang vor allem im Ausland verbreitetes Phänomen, das durch vorteilhafte Prozessordnungen und internal großzügige Konzepte für Schadenersatz und Fahrlässigkeit befördert wurde. Hinter Prozessfinanzierern stehen in der Regel Anleger und Investoren. VWheute hat den Trend erkannt und bereits vor Monaten in einem SCHLAGLICHT das Wirken der Financiers bei der Betriebsschließungs- und der Cyberversicherung beleuchtet.
Jeder kann (und wird) klagen
Mit dem Einsatz einer fortschreitenden Digitalisierung können sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen Prozesse führen, die sie wegen des Kostenrisikos und des Zeitaufwandes „sonst nicht geführt hätten“. So können in Zusammenarbeit mit Legaltech-Anbietern auch kleinen Schäden wirtschaftlich ertragreich abgewickelt werden, wenn es im Gegenzug eine große Anzahl von Betroffenen gibt.
Ein Beispiel: Ein Datenschutzvorfall mit einem Schadenersatzanspruch nach Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) wäre nach den alten Regeln kein Grund für erhöhte Sorge seitens der Unternehmen, das ist jetzt anders. „Für den einzelnen Betroffenen würde sich eine Klage hier kaum rechnen. Sollten sich aber eine Million Betroffene mithilfe moderner Technik zusammentun, die von der Datenaufnahme bis hin zum Antrag auf Schadenersatz alles übernimmt, ergibt das eine attraktive Klageforderung“, erklärt Geis.
Da in vielen Ländern die Hürden für Sammelklagen gesenkt wurden, nimmt die Geschäftsaktivität der Finanzierer dort zu. Dazu gehören unter anderem die Niederlande, England und Wales, Südafrika oder Saudi-Arabien – alles Länder, in denen laut AGCS-Länderleitfaden zur Prozessfinanzierung das Risiko für Sammelklagen als „mittel“ eingestuft wird.
Europa und Deutschland
Auch innerhalb der Europäischen Union sollen die Hürden für Sammelklagen zugunsten der Verbraucher gesenkt werden: Nach der bisher lediglich unverbindlichen Empfehlung der Europäischen Kommission zur Einführung einer EU-Verbandsklage wurde die Verbandsklagen-Richtlinie am 4. Dezember 2020 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Bis zum 25. Dezember 2022 müssen die Europäischen Mitgliedstaaten die Vorgaben der Verbandsklagen-Richtlinie als wesentlichen Eckpunkt des „New Deal for Consumers“ ins nationale Recht umsetzen. Spätestens mit Wirkung zum 25. Juni 2023 sollen die nationalen Regelungen zur EU-Verbandsklage in allen Europäischen Mitgliedstaaten – also auch in Deutschland – dann in Kraft treten.
„Dies wird die Möglichkeit schaffen, effektiv Sammelklagen auch in Deutschland zu erheben, die unmittelbar auf Schadensersatz gerichtet sind“, sagt Stephan Kammertöns, der bei AGCS für den Schaden-Bereich Financial Lines in Zentral- und Osteuropa zuständig ist.
Autor: VW-Redaktion