Adesso-Manager Oliver von Ameln: „Die PKV muss sich den neuen Wettbewerbern stellen“

Oliver von Ameln, Geschäftsführer von adesso insurance solutions, im Gespräch. Der Experte legt den Finger in die KV-Wunde.

Oliver von Ameln spricht Klartext. Der Geschäftsführer von adesso insurance solutions sieht die PKV im Wettbewerb mit der GKV übervorteilt, kritisiert mangelnde Akteursvernetzung und sieht Milliardenersparnisse durch neuronale Netze. Für viele Probleme hat er Lösungen, die er mit der neuen Austauschplattform FlasHED transportieren möchte.

VWheute: Adesso will sich verstärkt mit dem Gesundheitswesen beschäftigen, analog zur Axa Group. Was ist der Grund, welche Probleme und Möglichkeiten sehen sie auf dem Gesundheitsmarkt?

Oliver von Ameln: Es gibt in der Versicherungswirtschaft kein dynamischeres Umfeld als das des Gesundheitswesens und der privaten Krankenversicherung. Das klingt vielleicht paradox, da augenscheinlich Themen, wie zum Beispiel Smart Drive, viel mehr „digitalen Sprengstoff“ für Veränderungen liefern. Aber nur in der PKV finden wir eine so hohe Kontaktfrequenz und eine solche Vielzahl von Prozessen zwischen Versicherten, Gesundheitsdienstleistern und Versicherungen. Das Ganze auch noch eingebettet in ein sich ständig änderndes regulatorisches Umfeld durch Gesetzgeber, denen die Fantasie nie auszugehen scheint, ist ein hervorragendes Betätigungsfeld für uns, da wir uns für Prozessoptimierung und wertschöpfende Digitalisierung interessieren.

Die Probleme auf dem Gesundheitsmarkt sind vielfältig: Die Schere zwischen den beiden Säulen der Absicherung von Krankheitskosten, zwischen der GKV und der PKV, geht weiter auseinander. Dabei ist der Wettbewerb nicht ganz fair verteilt: Während die GKV wohl immer weiter aus Steuermitteln „quersubventioniert“ wird, um die Beitragssätze nicht in schwer erträgliche Höhen wachsen zu lassen – man könnte von einer Fiskalillusion sprechen –, müssen die PKVen sowohl den besseren Service bieten, um ihrem selbstgesteckten und größtenteils verdienten Qualitätsanspruch gerecht werden. Gleichzeitig müssen sie dies ausschließlich aus eigener Kraft tun, weil ja hier die Marktwirtschaft noch nicht ganz ausgehebelt wurde. Und mit dem Anspruch, auch noch im Rentenalter bezahlbare Beiträge bieten zu können, gilt es, der sich ändernden Altersverteilung in der Gesellschaft mit passenden Rückstellungen vorzusorgen. Das ist ein echter Generationenvertrag, da ja die PKV-Versicherten ihren Kindern keine fiskalischen Schulden hinterlassen, sondern selbst vorsorgen.

Weitere Herausforderungen sind die Diversifikation der Therapieformen, steigende Behandlungskosten, Vernetzung der Beteiligten beispielsweise durch die ePA und neue Player im Gesundheitsmarkt, die diese Entwicklungen noch befeuern. Wir können älter werden als je zuvor und dabei auch noch fit und gesund unseren ausgedehnten Lebensherbst genießen, aber das muss eben auch finanziert werden. Die Politik hat, im Gegensatz zum privaten Sektor, hierauf noch keine Antworten gegeben.

VWheute: Sehen Sie die gesetzlichen oder die privaten Anbieter von dieser Entwicklung stärker betroffen?

Oliver von Ameln: Betroffen sind beide. Aber die Lösungsmuster sind unterschiedlich. Das Unterstützungsniveau von heute kann die GKV angesichts des prognostizierten Altersaufbaus der Deutschen nicht mehr lange halten. Daraus gibt es zwei Wege: Entweder die Grundleistungen für Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbehandlung werden immer dürftiger, dann bleibt denen, die es sich leisten können nur mehr der Weg zur privaten Zusatzversicherung oder gleich der Wechsel zum Substitut. Oder aber der Staat subventioniert fleißig weiter, kann das aber nur auf Kosten einer irgendwann nicht mehr wettbewerbsfähigen Abgabenquote tun und wird dann irgendwo kürzen müssen.

Die PKV hingegen muss sich den neuen Wettbewerbern stellen, die die Versicherungen herausfordern: Der viel beschworene Wechsel vom „Payer zum Player“ darf nicht nur Lippenbekenntnis sein, sonst kultiviert das Vakuum demnächst eine dritte Säule in unserem Gesundheitssystem und Amazon & Co. sorgen für KI-basierte Diagnosetools, online-Therapien, Medikamente  und Arzttermine.

VWheute: Welche Optionen bietet adesso den Anbietern beider Gruppen und wie soll FlasHED dabei helfen eine Kommunikationsbasis zu schaffen?

Oliver von Ameln: Wir verstehen etwas von Digitalisierung, von Prozessoptimierung, aber besonders interessieren uns die Kundenerlebnisse in der PKV. Wir haben vor acht Jahren angefangen, ein Bestandsführungs- und Leistungssystem für die private Krankenversicherung zu entwickeln, damit die PKVen für die vorher beschriebenen Entwicklungen gewappnet sind. Die Anbindung an die elektronische Patientenakte ist dabei genauso „out-of-the-box“ verfügbar wie die vollautomatisierte Leistungsabrechnung der eingehenden Belege inklusive eigener Prüflösungen. Damit sind der Entwicklung neuer KV-Produkte in kürzester Zeit keine Grenzen gesetzt, und über die durchgängig digitalen Leistungsprozesse kann den Versicherten ein optimaler Service zu niedrigen Kosten geboten werden. Seitdem wir „feature-complete“ sind, und das ist noch gar nicht lange so, sind wir unbestrittener Marktführer. Die große Kundenbasis (ca. 1/4 aller PKVen in der BRD bis heute) hilft uns, die Systeme täglich zu verbessern.

Der FlasHED ist eine Austauschplattform für Vertreter von GKV und PKV, die Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Dort wird kein „Klassenkampf“ der Systeme betrieben, sondern das Problem der Versorgungssicherheit der Bevölkerung als gemeinsame Aufgabe verstanden. Wir diskutieren auf dem FlasHED über die anstehenden Digitalisierungswellen rund um die ePA und über weitere Möglichkeiten, über vernetzte Versorgung und die mögliche Vernetzung der Kostenträger das Gesundheitsniveau der Bevölkerung zu verbessern und damit die Kosten von Krankheit zu reduzieren. Nur dadurch kann die demografische und soziologische Entwicklung ein gutes Ende für alle Beteiligten nehmen.

FlasHED ist der digitale Experten-Talk zu Trends im Gesundheitswesen. Er bringt die Akteure des Krankenversicherungsmarktes mit dem Ziel zusammen, Innovationen in der Branche voranzutreiben. Hier können Sie sich selbst ein Bild machen und sich direkt zur Veranstaltung am 21. Mai 2021 anmelden – Themen sind unter anderem die elektronische Gesundheitsakte und Ökosysteme.

VWheute: Sie engagieren sich stark im Bereich Leistungsabrechnung. Warum ist das für die Anbieter nach Jahrzehnten Erfahrung immer noch so ein Problem?

Oliver von Ameln: Es ist eine Schande für den Hochtechnologiestandort Deutschland, dass wir in der Vernetzung zwischen Versorgern, Patienten und Kostenträgern im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig sind. Und solange keine strukturierten Daten zwischen allen Beteiligten ausgetauscht werden, und bis dahin wird es noch einige Jahre dauern, ist die Leistungsabrechnung mit ihren vielen Komplikationen das „Hochreck“ für die Informatik. Aufgrund der Vielzahl der Prozessanlässe und dem großen wirtschaftlichen Hebel muss sich die Versicherung insbesondere auf der Leistungsseite optimieren. Und das nicht nur auf Prozessebene durch Automatisierung, sondern insbesondere auch auf der Ebene der Erstattungsprüfung. Hier kommen die neuen Möglichkeiten der neuronalen Netze ins Spiel: Wir entwickeln gerade Prüflösungen, die nicht nur regelbasiert die Frage nach der tariflichen oder gesetzlichen Erstattungspflicht prüfen, sondern wir nehmen auch den Aspekt der medizinischen Notwendigkeit unter die Lupe. Hier schlummern noch Milliarden von Euro an unnötigen Behandlungsausgaben, um die das System entlastet werden kann. Dabei werden wir helfen. Und dabei gewinnen zumindest Versicherer und Versicherte. Dem einen oder anderen Behandler mag das weniger gefallen, aber die rechtschaffene Mehrheit wird das begrüßen.

VWheute: Alle reden immer über die Lebensversicherung, doch auch auf dem Gesundheitsmarkt steigt die Regulierung. Wie sollten die Anbieter darauf reagieren, wird sich die Vorschriftenprogression fortsetzen?

Oliver von Ameln: Die Regulierungswut ist in der KV fast noch ausgeprägter: Mit Gesundheitspolitik lässt sich gut Stimmung machen. Jede neue Legislaturperiode scheint Gesundheitsminister hervorzubringen, die sich im System verewigen möchten. Und die Anpassungsamplituden schlagen nicht nur stärker aus, sondern folgen auch schneller aufeinander. Für KVen bedeutet das, dass die Gesamtheit der regulatorischen Änderungen, die alle Marktteilnehmer betreffen und über die man keinen Kundenmehrwert beziehungsweise ein Alleinstellungsmerkmal erzielen kann, idealerweise nicht selbst umgesetzt werden. Das PSG II war hier ein schönes Beispiel: Bei einer Vielzahl von PKVen hat man die neue, ungeheuer komplexe Abrechnungslogik von Pflege- und Leistungsabrechnungen programmiert. Dabei ist nichts davon Versicherungs- beziehungsweise Tarifindividuell, sondern alle mussten das Gleiche umsetzen. Ich würde schätzen, dass dabei ein dreistelliger Millionenbetrag im System verschwendet wurde. Und zwar ausschließlich aus einem Grund: Es war gesetzeskonform abrechenbar.

Wir haben das in unserem Leistungssystem einfach als Feature eingebaut; einige PKVen haben das früh erkannt, das System eingeführt und waren den Ärger bei geringen Kosten los. Das Rad hier neu zu erfinden, machte einfach keinen Sinn. Und so verhält es sich auch mit zukünftigen Anpassungsnotwendigkeiten: Wenn ich als Versicherer nicht glänzen und heraustreten kann, nutze ich Standardsysteme. In unseren Wartungsverträgen steht sinngemäß „Die Software arbeitet jederzeit gesetzes- beziehungsweise verbandskonform“. Dafür zahlen die Versicherer eine Flatrate und können sich auf wertschöpfende Aufgaben konzentrieren.

VWheute: Eine Entwicklung in der PKV sind Ökosysteme und Portale die verschiedene Leistungen unterschiedlicher Anbieter bündeln und anbieten. Wird dadurch der Kosten- und Leistungsdruck auf die Anbieter erhöht?

Oliver von Ameln: Der Leistungsdruck erhöht sich und wird vielfältiger. Früher reichte es, wenn Arztrechnungen bezahlt werden und die Ärzte sich über den privat versicherten Besuch freuten. Mittlerweile erreichen die Versicherten immer mehr die Augenhöhe und fordern Mehrwertdienste mit Serviceangeboten rund um Vorsorge und Therapie ein. Auch individualisierte Tarife spielen eine immer größere Rolle. Das ist eine Wettbewerbsdimension, die früher keine große Rolle spielte, die aber jetzt ganz schnell zu einem entscheidenden Merkmal werden wird.

Beim Neugeschäft bemerken wir heute schon, dass nach Modernität und Servicespektrum selektiert wird, nicht mehr nur nach Prämienhöhen und Produktqualität. Der Bestand ist – noch – geschützt durch die faktisch kaum übertragbaren Alterungsrückstellungen. Aber das wird der Gesetzgeber über kurz oder lang angehen und dann wird der Aspekt auch für bestehende Verträge relevant. Hier führt an der Wettbewerbsfähigkeit, und die ist maßgeblich durch Digitalisierung auf der Bestands- und Leistungsseite zu erreichen, kein Weg vorbei. Wer heute noch nicht begonnen hat, ist fast zu spät dran.

VWheute: Wie sehen Sie die Zukunft von GKV und PKV, speziell vor dem Hintergrund der Bundestagswahl und der älter werdenden Gesellschaft?

Oliver von Ameln: Das hängt von dem Ausgang der Wahl ab. Die Grünen haben mit ihrer Positionierung gerade erklärt, dass sie die PKV durch die Hintertür abschaffen möchten. Formal können die Privaten zwar weiter bestehen, aber jeder Versicherte soll einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag in die GKV entrichten. Schlimmstenfalls würden sich die Beträge zur Gesundheitsversicherung für die Besserverdienenden verdoppeln, ohne dass sie irgendwelche Vorteile davontragen. Gleichfalls soll die Rückkehr zur GKV erleichtert werden, womit bei den PKVen auch der Bestand erodieren würde.

Der Politik ist zu wünschen, dass sie weniger mit gesundheitssystematischen Fragen polemisiert und sich auf dem Rücken der Versicherten profiliert, als sich vielmehr auf die Gesunderhaltung der Bevölkerung zu konzentrieren. Und da halte ich das deutsche System mit dem Wettbewerb der Systeme für eines der besten der Welt. Wenn beide Säulen sich darauf konzentrieren, die Krankheitskosten durch Gesunderhaltung zu reduzieren, ist allen geholfen. In einem liberalen Wirtschaftssystem wird es immer eine Nachfrage nach höherwertigen Leistungen geben, für die zusätzlich bezahlt werden muss. Und die PKV ist für diese Angebote prädestiniert; unabhängig davon, ob es substitutive oder Vollversicherungsangebote betrifft.

Ich zitiere in diesem Zusammenhang den Vorstand eines großen Versicherungsunternehmens, mit dem ich jüngst sprach: „Jede unnötig durchgeführte Röntgenuntersuchung ist Körperverletzung“. Das ist nicht nur teuer, sondern auch ungesund. Und dieser Aufgabe sollten sich die Akteure widmen.

VWheute: Wir haben jetzt viel über Probleme und deren Lösung gesprochen. Müssen Sie bei den KV-Anbietern eigentlich viel Überzeugungsarbeit leisten, beispielsweise in Form von Veranstaltungen wie dem FlasHED.

Oliver von Ameln: Die KV-Manager haben alle verstanden, was ihre Aufgabe ist. Und angenehmer Weise sind sich auch meine Gesprächspartner bewusst, dass sie nicht nur ihren Shareholdern, sondern auch der Gesellschaft gegenüber verantwortlich sind. Also nein: In unseren Debatten geht es nicht um Überzeugung, sondern um die richtige Reihenfolge von Reformierung und Modernisierung im Rahmen der jeweiligen wirtschaftlichen und organisatorischen Möglichkeiten.

Der FlasHED ist für die Akteure eine geschlossene Plattform, die eigenen Überzeugungen anzureichern und Prioritäten gegebenenfalls neu zu ordnen. Ich freue mich jedes Jahr sehr auf die Veranstaltung; so viele Zusammenkünfte von GKV und PKV gibt es ja gar nicht.

VWheute: Was bietet eigentlich „Deutschlands bester Arbeitgeber 2020“ seinen Mitarbeitern an Gesundheitsdienstleistungen, jetzt und in Zukunft?

Oliver von Ameln: Na, als Erstes sind hier natürlich unsere Zusatzangebote für die betriebliche Krankenversicherung zu nennen. Alle möglichen Vorsorgeuntersuchungen, Sportzuschüsse und vieles mehr. Wir merken, dass Kranken- und Altersvorsorgeleistungen bei der Wahl des Arbeitgebers gerade bei den jungen Leuten immer wichtiger werden. Aber wir denken Gesundheit mehrdimensional: Unser Job ist herausfordernd; ständig unter Zeitdruck geistige Höchstleistungen zu bringen, ist Stress, dem man begegnen muss. Und nicht erst, wenn es zu spät ist. Mit „adesso-Mind“ haben wir ein Programm ins Leben gerufen, das die seelische Gesundheit aller KollegInnen in komplexen Lebens- und Arbeitsverhältnissen im Blick hat.

Jeder Mensch empfindet Komplexität und Stress anders. Genauso unterschiedlich sind die Strategien und Wege zur Bewältigung. Deshalb haben wir verschiedene Ansätze und Impulse für alle „adessi“: von Coachings und Trainings über Tipps, Hintergründe und Expertenmeinungen bis hin zu einer App mit zahlreichen wissenschaftlich fundierten Micro-Trainings zu Themen wie Selbstwahrnehmung im Team, bei Konflikten oder zu kreativen Lösungen. Wir finden, es ist Zeit für eine neue „Mindfulness“ im Sinne von Achtsamkeit. Und Gesundheit geht am besten mit gesund bleiben.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.