Ergo-Vorstand Mathias Scheuber: Versicherer kann Digitalisierer und Fluthelfer sein

Mathias Scheuber, Ergo-Vorstand. Quelle: Ergo

Erst die Pandemie, jetzt das Hochwasser. Es gibt einfachere Zeiten für einen Versicherungsvorstand. Das weiß auch Mathias Scheuber von der ERGO Deutschland, doch Bange machen ist nicht angesagt. Es wird mutig nach vorne digitalisiert, Ergebnisse erzielt und Bedürftigen geholfen.

VWheute: Die Pandemie hält uns nun seit mehr als einem Jahr in Atem. Wie hat sich die Ergo in dieser Zeit geschlagen? Und wie sieht die Bilanz für 2020 aus?

Mathias Scheuber: Die ERGO Versicherung ist sehr gut gewachsen. Die Entwicklung unserer 4.0-Strategie und ihre konsequente Umsetzung haben zu sichtbaren Erfolgen geführt und zur Möglichkeit, die strategische Weichenstellung für künftiges Wachstum zu legen. Insbesondere die mit der Corona-Pandemie verbundenen, erfolgreich gemeisterten Herausforderungen für die Aufrechterhaltung des Betriebs und Vertriebs sowie des Geschäftserfolgs 2020, haben die Widerstandsfähigkeit der ERGO Versicherung eindrucksvoll belegt. Das Wachstum der ERGO Versicherung AG beläuft sich auf 4,5% (ohne internes Rückversicherungsgeschäft) und liegt somit deutlich über dem Markt (erwartetes Wachstum: 2,1%). Die gute wirtschaftliche Situation der Gesellschaft spiegelt sich auch im Gesamtergebnis wider: Mit 141 Mio. Euro liegt es deutlich über dem Ergebnis des Vorjahres (98 Mio. Euro). 2020 sind wir auch mit Blick auf unsere 4.0-Strategie einen großen Schritt vorangekommen.

VWheute: Was genau verstehen Sie unter der 4.0-Strategie?

Mathias Scheuber: Wir richten uns konsequent an den Kundenwünschen aus. Ich weiß, alle Unternehmen sprechen von Kundenorientierung. Sie meinen damit, dass sie z.B. gute Erreichbarkeitsquoten anstreben. Wir fassen das Thema wesentlich weiter und umfänglicher: wir optimieren die gesamte Wertschöpfungskette entlang der Kundenbedürfnisse. Bei der Produktentwicklung immer mit Kunden- und Vertriebsinterviews. Das heißt wir setzen uns nicht einfach hin und schreiben auf, was wir glauben, was sich die Kunden wünschen, sondern fragen die Kunden direkt. Parallel führen wir Workshops mit Kolleginnen und Kollegen aus Schaden und Operations durch. So erhalten wir ein umfängliches Bild zu den Kundenwünschen, -fragen, und nicht zuletzt Beschwerden. Aus all diesen Informationen wird das Produktmodell entwickelt. Unser Ziel: einen umfänglichen Grundschutz zur Verfügung stellen, den der Kunde durch die Wahl von Bausteinen ergänzen kann. Die Bausteine decken dabei kundenindividuelle Bedürfnisse ab.

Im Grundschutz ist alles enthalten, was alle Kunden benötigen. Dies verhindert „böse Überraschungen“ im Schadenfall. Sobald das erste Produktmodell steht, wird dieses in Kundeneinzelinterviews wiederum getestet. Neben der Struktur, werden beispielsweise auch Begrifflichkeiten auf ihre Verständlichkeit überprüft. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse wird das Produktmodell nochmals überarbeitet und ein letztes Mal in Kundengruppendiskussionen vorgestellt. Sie sehen, dies ist ein aufwendiger und iterativer Prozess, der sich aber auszahlt. An dem gesamten Prozess sind auch die Aktuare beteiligt, um zeitgleich die Auswirkungen auf die Preiskalkulation zu bewerten. Wesentlichste Leitplanke bei der Entwicklung ist, das Produkt radikal zu vereinfachen und somit für die Kunden leicht verständlich zu machen. Steht das neue Produkt mit klaren und verständlichen Bedingungen, so ist unser Anspruch es den Kunden über alle Zugangskanäle und Vertriebswege zur Verfügung zu stellen. Diese Omnikanalfähigkeit ist uns so wichtig, da der Kunde – und nicht wir – bestimmt, über welchen Weg er uns kontaktiert.

Wir werden oft gefragt, wann wir fertig sind. Die Antwort ist ganz einfach: nie. Denn nur ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess orientiert sich an den Kundenwünschen.

VWheute: Marktbeobachter werten in Corona einen digitalen Brandbeschleuniger: Wie bewerten Sie diese Aussage?

Mathias Scheuber: Die besonderen Umstände bedingt durch Corona haben der Digitalisierung einen enormen Schub verschafft. Das ist insbesondere für kleinere Unternehmen Segen und Fluch zugleich – besonders wenn es um digitale Geschäftsmodelle und Homeoffice geht. Nicht alle Unternehmen sind in der Lage sofort adäquat auf die Anforderungen zu reagieren. Das erhöht die Anfälligkeit gegenüber Cyber-Attacken erheblich. Daher ist es uns wichtig, dass wir unseren Kunden in der Cyber-Deckung die Sorge vor finanziellen Schäden nehmen können und haben dies direkt in die Tat umgesetzt – z.B. ist das Arbeiten der Mitarbeiter im Homeoffice beitragsfrei mitversichert. Auch beim Thema Serviceleistungen sind wir z.B. im Bereich der IT-Forensik und Prävention mit unseren Partnern sehr gut aufgestellt.

VWheute: Und welche Auswirkungen wird dies für die Versicherer haben – insbesondere für den Vertrieb?

Mathias Scheuber: Im Rahmen unserer 4.0-Strategie sind wir bereits früh das Thema Digitalisierung angegangen: Die Prozesse wurden „End-to-End“ komplett aus der Kundensicht digitalisiert. Auf diesem Weg konnten die Komplexität reduziert, die Prozesse vereinfacht und unnötige Schritte gestrichen werden. Schon heute können wir einige Schadenprozesse komplett automatisiert und mit digitalen Tools abwickeln. Diese reichen von der Schadenmeldung, über automatisierte Beauftragungsprozesse bis zur vollständigen Auszahlung der Schäden. Diese neue Herangehensweise führt zu schnellen und einfachen Prozessen für den Kunden. Zudem zu einer effizienteren Bearbeitung – und einer klassischen Win-Win-Situation: Von effizienteren Prozessen profitieren unsere Kunden genauso wie wir. Versicherungen können im Schadenfall punkten, indem sie schnell und einfach ihr Leistungsversprechen gegenüber den Kunden einlösen. Der Weg zu einem zufriedenen Kunden führt über einen informierten Kunden. Transparenz ist Trumpf. Bei Amazon oder im Onlinehandel kann man mittlerweile fast in Echtzeit verfolgen, wo sich die bestellte Ware gerade befindet. Nicht anders sollte es in der Schadenbearbeitung sein. Dafür haben wir ein Schadentracking eingeführt, in dem der Kunde die wesentlichen Schritte im Schadenfall (Sachverständiger ist beauftragt, Werkstattbeauftragung etc.) jederzeit einsehen kann. Im Hintergrund werden mit dem Absenden der Schadenmeldung natürlich unverzüglich die diversen Prozesse auf den Weg gebracht.

Wir möchten unsere Kunden begeistern und gleichzeitig Wachstum generieren. Hierfür spielen eine konsequente Kundenorientierung sowie intuitive Angebote über alle Vertriebskanäle eine entscheidende Rolle. Das hat sich vor dem Hintergrund der Pandemie als echter Vorteil erwiesen. Wichtig ist nun, nicht locker zu lassen.

VWheute: Stichwort Betriebsschließungsversicherung: Die Debatte um die BSV hat in den vergangenen Monaten die Schlagzeilen bestimmt. Inwieweit ist die Ergo davon betroffen und wie bewerten Sie die aktuelle Debatte?

Mathias Scheuber: Wir nehmen unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahr. So haben wir zu Beginn der Pandemie unseren Kunden schnell und unbürokratisch Hilfe angeboten. Die Bedingungen zur ERGO Betriebsschließungsversicherung haben wir letztes Jahr aktualisiert, um auch hier für größere Verständlichkeit zu sorgen. Wir möchten unseren Kunden größtmöglichen Versicherungsschutz zu einem fairen Preis anbieten.

VWheute: Die Industrie- und Gewerbeversicherung gilt als umkämpftes Segment, scheint aber im Unterschied zu anderen Sparten, wie z.B. Leben, noch Wachstumschancen zu bieten. Wie bewerten Sie die Situation?

Mathias Scheuber: Wir sehen in den Industrie- und Gewerbesparten ein echtes Wachstumsfeld und sind in den letzten Monaten und Jahren stark gewachsen. Unsere Kunden müssen sich heute neben den unternehmenstypischen Risiken immer neuen Herausforderungen stellen. Die Digitalisierung in allen Wirtschaftszweigen verstärkt das Bedürfnis der Unternehmen nach Versicherungslösungen. Wachstumschancen sehen wir aber nicht allein in dem sehr exponierten Feld der Cyberversicherung. Auch in anderen, eher traditionellen Versicherungsgebieten, wie in der Feuerversicherung, der Betriebshaftpflicht, den technischen Versicherungen (z.B. E-Bike-Absicherung) oder auch der D&O-Versicherung, bieten sich Wachstumschancen.

VWheute: Wie hat die Ergo auf die Katastrophe reagiert, welche Schäden erwarten Sie, was bedeutet das für die Zukunft der Wohngebäudeversicherung?

Mathias Scheuber: Die aktuelle Unwetterkatastrophe ist für uns alle erschütternd. Neben unzähligen vollgelaufenen Kellern gibt es auch sehr schwere Gebäudeschäden bzw. völlig zerstörte Gebäude. Das gesamte Ausmaß der Zerstörung ist noch nicht absehbar. Viele Kfz-Schäden kommen hinzu, die Fahrzeuge sind in den meisten Fällen Totalschäden. Wir sind nun als Versicherer gefragt, schnelle und unkomplizierte Lösungen zu finden und den Menschen in ihrer Not vielfältige Hilfestellungen zu bieten. Dafür haben wir eine Reihe von Maßnahmen aufgesetzt, um für unsere Kunden da zu sein. So konnten wir bereits über 200 schwer betroffenen Kunden eine Soforthilfe in Form von hohen Vorschusszahlungen zukommen lassen. Damit können erste finanzielle Lücken für notwendige Anschaffungen geschlossen werden.
Gegenden, die vor Hochwasser sicher sind, gibt es faktisch nicht. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre ist klar, dass extremer Niederschlag an jedem Ort in Deutschland möglich ist. Auch abseits von Flüssen ist die Absicherung von Überschwemmungsschäden daher ein wesentliches Element der Risikovorsorge. Wir gehen davon aus, dass das Risikobewusstsein für Schäden durch extreme Wetterereignisse steigen wird. Heute ist in Deutschland weniger als jedes zweite Gebäude gegen Elementarschäden versichert – auch weil für viele ein solches Ereignis abseits eines großen Flusses schlicht nicht vorstellbar war. Das dürfte sich in den kommenden Jahren ändern.

VWheute: Sind Sie ein Freund einer Versicherungspflicht, werden die Extremwetterereignisse zunehmen?

Mathias Scheuber: Eine Pflichtversicherung ist aus unserer Sicht nicht erforderlich, da es für jedes Gebäude die Möglichkeit für risikoadäquaten und bezahlbaren Versicherungsschutz gibt. Wichtig ist in dem Zusammenhang auch, dass die Risiken in hochexponierten Gebieten durch mehrere Maßnahmen minimiert werden, z.B. auch durch private (z.B. Sicherungsmaßnahmen am Gebäude) und kommunale Risikoprävention (z.B. kommunale Bauvorschriften).    

Die Frage stellte VWheute-Redakteur Tobias Daniel.