R+V-Chef Rollinger: „In unserer Gesellschaft ist die Erkenntnis gereift, dass es so wie bisher nicht weitergeht“

R+V-Chef Norbert Rollinger, Quelle: ARTIS-Uli Deck// BGV

Wie versichern wir pandemische und Elementarrisiken? Wie sieht die Zukunft unseres Generationenvertrages in der Altersversorgung aus? Aber auch: Wie sichern wir die Energieversorgung, wie stoppen wir den Klimawandel? Und welche Rolle spielt die Versicherungsbranche dabei? Die Versicherungsbranche startet in wenigen Tagen in ein neues Jahr, das geprägt sein wird von den tiefgreifenden Veränderungen der beiden zurückliegenden Jahre. Ein Gastbeitrag von R+V-Vorstandschef Norbert Rollinger.

Auch wenn wir bei der R+V Versicherung wirtschaftlich gut durch die Corona-Krise gekommen sind und die extremen Wetterereignisse, die uns 2021 das schadenträchtigste Jahr unserer Geschichte beschert haben, gut verkraften: In unserer Gesellschaft ist die Erkenntnis gereift, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Das betrifft uns alle gleichermaßen: Bürger, Wirtschaft, Politik. Denn wir leben alle zusammen auf dieser einen Erde. Umsteuern ist angesagt. Die Weichen für die Zukunft müssen wir jetzt stellen.  

Dabei hat die Versicherungswirtschaft schon vor Beginn der Corona-Pandemie einen großen Transformationsprozess begonnen, um schneller, digitaler und kundenorientierter zu werden. Corona und der Klimawandel haben den Veränderungsdruck, den neue Marktteilnehmer, veränderte Kundenerwartungen und die niedrigen Zinsen vor Jahren ausgelöst haben, noch verstärkt.

Mit einem Gesamtkonzept den Folgen des Klimawandels begegnen

Der Klimawandel bringt gewaltige Herausforderungen mit sich, die weit über einzelne Unternehmen und die Versicherungsbranche hinausgehen. Das Extremwetterereignis Bernd hat uns in diesem Jahr bereits auf erschütternde Weise eine Ahnung davon gegeben, was auf uns zukommt.

Wie gehen wir mit den zweifellos zunehmenden Naturkatastrophen um? Denn es ist nicht damit getan, einfach eine Pflichtversicherung einzuführen. Im Präsidium des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) haben wir ein Gesamtkonzept entwickelt, das eine gemeinsame Initiative von Staat, Bürgern und Versicherern erfordert. Die konkreten Vorschläge zu Aufklärung, Prävention und Versicherungsschutz sollten zügig umgesetzt werden:

Gemeinsam müssen wir alles dafür tun, dass Hausbesitzer und Mieter besser gegen Hochwasser, Starkregen und Stürme abgesichert sind. Die Versicherungswirtschaft möchte deshalb künftig nur noch Wohngebäudeversicherungen anbieten, die Elementargefahren automatisch einschließen. Kunden, die dies ausdrücklich nicht wollen, können den Schutz abwählen.

Die Politik sollte umfassende Hochwasserschutzmaßnahmen und risikogerechte Bebauungspläne ermöglichen. Überschwemmungsgebiete dürfen nicht weiter bebaut werden. Damit setzen wir Leben aufs Spiel, wie „Bernd“ uns mit schrecklicher Deutlichkeit vor Augen geführt hat.

Extreme Schadenereignisse wie die Überschwemmungen im Juli 2021 kann die private Versicherungswirtschaft allerdings nicht allein schultern, weil sie unkalkulierbar und ihre Folgen unbezahlbar sind. Hier sind die Grenzen der Versicherbarkeit erreicht. Die überwinden wir nur gemeinsam mit der öffentlichen Hand.

Das gilt übrigens für eine Pandemie wie Corona gleichermaßen. Das hat uns die Diskussion um die Betriebsschließungsversicherung im vergangenen Jahr gezeigt. Hier muss der Staat unterstützen. Entsprechende Vorschläge der Versicherungsbranche liegen vor. Auch das steht 2022 auf unserer Agenda.

Nachhaltigkeit mehr als ein Lippenbekenntnis

In engem Zusammenhang mit dem Klimawandel steht das Thema Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist heute aus keinem Unternehmen mehr wegzudenken. Aber: Sie muss für uns alle noch viel stärker vom Lippenbekenntnis zum integralen Bestandteil jeder unternehmerischen Entscheidung werden.

Die Versicherungswirtschaft kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, beim Underwriting, in der Kapitalanlage und im eigenen Geschäftsbetrieb, und sowohl den technologischen Fortschritt als auch die nachhaltige Verringerung von CO2-Emissionen beschleunigen.

Mit der langfristen Anlage der Altersvorsorgegelder ihrer Kunden sind Versicherer ideale und verlässliche Partner bei der Finanzierung der Energiewende und beim Aufbau einer nachhaltigen Infrastruktur. Doch dafür benötigen wir eine Politik, die ebenso verlässliche Leitplanken setzt. So ist es beispielsweise wichtig, dass Vorschriften zum Nachhaltigkeitsreporting in der EU und auch weltweit gleichen Standards unterliegen. Auch das Angebot an nachhaltigen Investitionsmöglichkeiten ist noch knapp. Hier ist die neue Bundesregierung gefordert.

Altersversorgung sichern, Altersarmut vorbeugen

Ein zentrales gesellschaftliches Thema ist es, die Altersversorgung der Menschen zu sichern und sie vor Altersarmut zu bewahren. Der demografische Wandel und die andauernde Niedrigzinsphase machen politische Reformen unabdingbar, um dies zu gewährleisten. Es gilt, das Vertrauen der Menschen in das bewährte Drei-Säulen-System aus gesetzlicher, privater und betrieblicher Altersversorgung in Deutschland zu erhalten und weiter zu stärken. Gut, dass sich unsere künftige Bundesregierung in ihrem gerade vorgelegten Koalitionsvertrag genau dazu bekennt. Zur notwendigen Weiterentwicklung der staatlich geförderten Riester-Rente liegt bereits ein Fünf-Punkte-Plan seitens der Versicherungsbranche vor.

Oberstes Ziel muss es sein, das wachsende Risiko von Altersarmut zu reduzieren. Das geht am besten Hand in Hand mit den Versicherern und ihrer ausgewiesenen Kompetenz in Bezug auf Beratung, Kapitalanlage, Risikoabsicherung und Verrentung. Das müssen wir als Branche der neuen Bundesregierung im kommenden Jahr immer wieder klarmachen.

Mit gemeinsamer Anstrengung in eine nachhaltige und digitale Zukunft

Über den Jahreswechsel hinaus wird auch das Thema Digitalisierung nicht nur die Versicherungswirtschaft begleiten. Wir bei der R+V werden mit aller Kraft weiter daran arbeiten, unsere Systeme zu modernisieren sowie Prozesse zu optimieren und durchgängiger zu gestalten. Wir wollen unseren Kunden schneller und jederzeit über alle Kanäle den Rundum-Service bieten, den sie aus vielen Lebensbereichen gewohnt sind und daher auch von ihrem Versicherer erwarten. Konkrete Beispiele aus unserem Haus sind umfassende Online-Abschlussmöglichkeiten unserer Produkte und Services, das KI-basierte Schadenmanagement in der Kfz-Versicherung oder der digitale Arztbesuch über unseren Fintech-Partner TeleClinic.

Aber auch beim Thema Digitalisierung hat die neue Bundesregierung überfällige Hausaufgaben zu erledigen und muss die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Zum Beispiel beim Netzausbau oder der digitalen Verwaltung.

2022 wird ein herausforderndes und spannendes Jahr. Die Versicherungswirtschaft muss und wird ihren wichtigen Beitrag dazu leisten, die großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Wir stehen als verlässlicher Partner für die neue Bundesregierung bereit. Nur gemeinsam, wenn wir Einzelinteressen zurückstellen, wird uns das gelingen. Zusammen mit unseren Partnern in der genossenschaftlichen Finanzgruppe wird sich die R+V mit ihrer fast einhundertjährigen Erfahrung und Stärke aktiv daran beteiligen. Es geht um nichts Geringeres als die nachhaltige Sicherung unserer aller Wohlstand und Zukunft.

Autor: Norbert Rollinger, Vorstandsvorsitzender R+V