Klima, Rente und more – Das will die Versicherungsbranche von der neuen Regierung

Die SPD ist bei der Bundestagswahl laut vorläufigem Ergebnis stärkste Kraft geworden. Die Union stürzte dagegen nach 16 Jahren Regierungszeit auf ein historisches Tief. (Quelle: dg)

Knapp vorne ist auch gesiegt. Das Rennen zwischen CDU und SPD war enger als gedacht, doch am Ende hatten die von Olaf Scholz geführten Sozialdemokraten die Nase hauchdünn vorne. Die Königsmacher sind FDP und Grüne, auch die CDU hat das Kanzleramt noch nicht aufgegeben. Es wird mit schwierigen Koalitionsverhandlungen gerechnet. VWheute hat sich in der Versicherungsbranche nach Wünschen und Ängsten umgehört.

Während Grüne und Liberale eine starke Position innehaben, schafft es die Linke über die Grundmandatsklausel in den Bundestag. Sie werden an der Regierung wohl nicht beteiligt sein. „Der Absturz der Linken ist schon eine Überraschung“, sagt Norman Wirth, Vorstand des AfW – Bundesverband Finanzdienstleistung e.V. „Das Gespenst Rot-Grün stand doch bis gestern sehr realistisch im Raum“. Es sei beruhigend, sich deswegen „keine Sorgen mehr machen zu müssen“. Dem stimmt Votum-Vorstand Martin Klein zu. „Dass es für die Rot-Grün-Rote Koalition nicht reichte, hat uns schon ein Stück weit überrascht“. Traurig ist er deswegen nicht. Als Branchenverband der Finanzdienstleistungsunternehmen „begrüßen wir diese Entwicklung“.

Nicht wenige befürchten, dass sich die Koalitionsverhandlungen wieder bis Weihnachten ziehen werden. Auch Wirth sorgt sich. „Der Spannungsbogen wird uns sicherlich noch lange erhalten bleiben“, glaubt er. „Natürlich würde es der Grünenführung sehr schwerfallen, gegenüber der Basis eine geplante Koalition mit der Union und der FDP darzustellen. Ähnlich schwer vorstellbar ist aktuell aber auch ein Zusammenfinden der FDP mit Rot/Grün in Steuerfragen.“ Eine Große Koalition – „ohne Armin Laschet in maßgeblicher Position“ – hält Wirth „nicht für ausgeschlossen“.

Wieder stimmt Klein generell zu. Die Entscheidung, ob es zu einer SPD-geführten Ampelkoalition oder zu einem Union-geführten Jamaika-Bündnis kommt, „wird wohl lange Sondierungs- und Koalitionsgespräche in Anspruch nehmen.“ Für eine rasche Einigung der Parteien sind die inhaltlichen Differenzen, insbesondere zwischen FDP und Bündnis 90/Die Grünen „noch zu groß“. „Als Branchenverband der Finanzvertriebe hoffen wir natürlich, dass insbesondere das Bundesfinanzministerium von politischen Vertretern mit einem klaren marktwirtschaftlichen Kompass besetzt werden wird. Ob es so kommen wird, bleibt abzuwarten“, erklärt Klein.

Auch Wirth hat Hoffnungen: „Von jeder möglichen Koalition mit FDP und Grünen versprechen wir uns einen gewissen Aufbruch bei verschiedensten Themen.“ Doch er sagt auch, dass mit den Grünen oder der SPD die „nervigen Themen“ BaFin-Aufsicht, Provisionsdeckel und Bürgerversicherung „weiter akut bleiben“. Der AFW sei in „Hab-Acht-Stellung“.  

Das wichtigste Thema ist für Wirth die Klimakrise, gefolgt von Rente, Digitalisierung und Entbürokratisierung. „In unserer Branche ist es das Thema Umsetzung der Nachhaltigkeitsvorgaben“. Der politische Wille, gigantische Geldströme in nachhaltige Anlagen umzulenken, wird auch einen „gigantischen Einfluss“ auf Produkte und damit auch auf den Vertrieb haben.

Der GDV fordert eine rasche Regierungsbildung

Auch für Jörg Asmussen ist politisch alles möglich. „Nach der Bundestagswahl sind verschiedene Konstellationen für eine mehrheitsfähige Regierung möglich. Jamaika und Ampel haben die höchsten Wahrscheinlichkeiten“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Die politische Mitte sei  fragmentierter als früher, doch könne eine sich abzeichnende Dreierkoalition „handlungsfähig sein“. Das würden auch die Erfahrungen in zahlreichen europäischen Ländern zeigen.

Es sei wichtig, dass die Parteien der demokratischen Mitte jetzt rasch eine handlungsfähige Regierung bilden. Die Themen warten nicht, stellt Asmussen fest und zählt auf: Im November findet die UN-Klimakonferenz COP 26 statt. Ab 1. Januar übernimmt Frankreich die EU-Präsidentschaft. Und aus Sicht der Versicherer stehen „zentrale Dossiers“ wie die Solvency-II-Review auf der Tagesordnung.

Er mahnt die neue Regierung zur Arbeit an: „Die Reformagenda für den Standort Deutschland ist lang: die Anpassung an den Klimawandel, die Digitalisierung samt vernünftiger Regelungen für Datenschutz und KI, Föderalismusreform und Verwaltungsmodernisierung.“ Der demografische Wandel erfordere qualifizierte Zuwanderung. Das Rentensystem muss nachhaltig mit allen drei Säulen im Blick reformiert werden, sagt Asmussen. „Die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge ist ein integraler Bestandteil eines Gesamt-Altersvorsorgesystems. Die Versicherer haben zu allem Vorschläge gemacht und sind bereit zur Diskussion mit allen demokratischen Kräften.“

Der Votum-Verband sieht das ähnlich: Die staatlich geförderte private Altersvorsorge sei das wichtigste Thema, eine Reform schon seit „längerer Zeit überfällig“.

Und die Gesundheit?

Die privaten und gesetzlichen Krankenkassenverbände sind nicht so redselig wie ihre Vermittlerbrüder. Dennoch konnten ihnen kurze Statements entlockt werden. „Für die gute medizinische Versorgung braucht es eine solide Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer auch immer das Gesundheitsministerium übernehmen wird, ist hier besonders gefordert“, sagt Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbandes. „Hinter uns liegt wohl einer der spannendsten Bundestagswahlkämpfe aller Zeiten. In den nun anstehenden Koalitionsgesprächen gilt es, eine Bundesregierung zu finden, die die großen Zukunftsfragen engagiert anpackt“, sagt sein Gegenpart, PKV- Verbandsdirektor Florian Reuther. Dazu zählen aus seiner Sicht vor allem die Herausforderungen des Klimawandels und die sozialpolitischen Folgen der alternden Bevölkerung in unserem Land. „Nur wenn es hier schnell nachhaltige Lösungen gibt, werden die Freiheitsräume der jüngeren Generationen gewahrt bleiben“.

Auch der Verbraucherzentrale Bundesverband hat eine Meinung zur Wahl – dass er direkt nach der PKV steht, ist natürlich reiner Zufall. „Die Wähler:innen haben am Sonntag den Parteien ihr Mandat ausgesprochen. Diese müssen jetzt im Sinne der Verbraucher:innen handeln und das Vertrauen in ihre Politik weiter stärken“. Die Erwartungen an die neue Bundesregierung sind klar: „Die Alltagssorgen der Menschen müssen wieder stärker auf die politische Agenda gehoben werden. Verbraucherschutz nimmt die Alltagsprobleme in den Blick und muss daher Bestandteil der nächsten Bundesregierung sein.“

Eine grundlegende Kritik an Politik und Wähler hat Stefan M. Knoll, seines Zeichens CEO der Deutschen Familienversicherung. Wirtschaftlichen Fragen werde generell zu wenig Platz eingeräumt und zudem interessiere es die Menschen nicht. „Während zum Teil höchst individuelle Probleme in der irrigen Erwartung geäußert werden, dass ein künftiger Kanzler diese lösen könnte, erscheint es, als wären alle froh, wenn die leidigen Wirtschaftsfragen wieder verlassen werden“. Insbesondere Erfahrungen aus der wirtschaftlichen Praxis von Unternehmern „scheinen geradezu verstörend auf das Publikum zu wirken“.  Offensichtlich habe man sich daran gewöhnt zu glauben, dass die Wirtschaft unabhängig von den politischen Rahmenbedingungen schon genug Arbeitsplätze schaffen und genug Ertragssteuern abliefern wird. Das sei aber ein großer Irrtum, denn die Regel wäre: Je schlechter die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, desto weniger wirtschaftliche Ertragskraft gib es.“

Die Versicherungsbranche hat insgesamt klare Anforderungen an die neue Regierung. Ob deren Geschenke  – oder Strafen – schneller kommen als der Weihnachtsmann?

Autor: Maximilian Volz

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, die Linke hättes über die Überhangsmandate in den Bundestag geschafft. Es ist aber die Grundmandatenklausel.