Bundestagswahl 2021: Was für die Versicherer in den nächsten vier Jahren auf dem Spiel steht

Nach der 16-jährigen Amtszeit mit Angela Merkel steht der Standort D nun vor einigen historischen Entscheidungen. PixelAnarchy auf Pixabay

Die Versicherer blicken nach der Wahlentscheidung gespannt darauf, was kommt. Nach der 16-jährigen Amtszeit mit Angela Merkel steht der Standort D nun vor einigen historischen Entscheidungen. Im Wahlkampf kamen vor allem die Debatten um die Altersvorsorge kurz. Versicherung war kein Thema. Hinzu kommen Fragen wie teuer der Klimawandel sein wird und wie es nach der Coronakrise weitergeht.7

Das Rennen zwischen CDU und SPD war enger als gedacht. Die Panne des CDU-Kandidaten Armin Laschet, er hatte seinen Wahlzettel unverdeckt präsentiert und damit gegen Wahlbestimmungen verstoßen, hatte wohl keine Auswirkungen mehr auf die Wählerentscheidung. Dennoch, für CDU/CSU ist es laut ARD das „schlechteste Wahlergebnis bei einer Bundestagswahl“.

Das sehr vorläufige Ergebnis

Nach Hochrechnungen von ARD und ZDF liegt die SPD mit über 25 Prozent knapp vor der CDU. Den dritten Platz haben die Grünen mit rund 14 Prozent inne, gefolgt von FDP und AFD mit 11,7 und 10,9 Prozent. Die Linke pendelt um die Fünfprozenthürde herum.

Die vorläufigen Ergebnisse sind mit Vorsicht zu genießen, wohl noch nie gab es so viele Briefwähler, sodass erst das amtliche Ergebnis Klarheit bringen wird. Aus der Versicherungsbranche gab es bereits am Sonntagabend erste Stimmen:

„Der starke Einfluss, den die FDP auf die Regierungsbildung haben wird, lässt vermuten, dass sie von beiden Seiten einen entsprechenden Preis fordern wird und etliches aus ihrem Wahlprogramm umsetzen will. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer Koalitionsvereinbarung, die von der FDP mit unterschrieben wird, die von ihr entwickelte Aktienrente wiederfindet, ist also nicht klein. Da dieses Konzept keine Mehrbelastungen für die Versicherten vorsieht und die Übergangsphase zur ergänzenden Aktienrente haushaltsfinanziert sein soll, könnten sich damit unter Umständen sowohl SPD als auch CDU damit anfreunden. Für die Grünen, die in beiden Konstellationen mit an Bord sind, wäre die Aktienrente auch nicht weit von den eigenen Vorstellungen entfernt. Wir müssen also davon ausgehen, dass wir in nächster Zeit über eine neue ergänzende Form der Altersvorsorge diskutieren werden. Ein weiterer Vorteil der FDP dabei: Sie hat mit wissenschaftlicher Hilfe ein recht fundiertes Konzept entwickelt, was auf die Vorschläge der anderen Parteien zur Rente nicht unbedingt zutrifft.“

Klaus Morgenstern, Sprecher des Deutschen Instituts für Altersvorsorge

„Jetzt die Aufbruchstimmung nutzen, sich gemeinsam auf den Weg machen und das dringend benötigte Modernisierungsjahrzehnt einläuten als wieder monatelang einen 174-seitigen Koalitionsvertrag auszuhandeln, der das Papier nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist!“

VOTUM-Vorstand Martin Klein.

Bei diesem Ergebnis sind viele Regierungskonstellationen möglich, Kenia, Ampel, große Koalition, der Machtpoker hat begonnen. Die Wahlprogramme lassen erste Schlüsse zu, wer zu wem passen könnte. Die DWS, der Vermögensverwalter der Deutschen Bank, hat sie analysiert.

Dabei kommen die Analysten zu dem Schluss, dass Wahlprogramme von Parteien, die mit großer Wahrscheinlichkeit an der neuen Regierung beteiligt sein werden, ihre Vorhaben nur sehr vage adressiert haben und sich damit einer Detailanalyse entziehen. „Alle Parteien wissen, dass sie nur in einer Koalition regieren können werden“, stellt die DWS fest. Wer im Vorfeld „rote Linien“ ziehe, der werde es in Koalitionsverhandlungen umso schwerer haben.

Schlüsselthema Klima

Die Neuausrichtung der Klimapolitik haben sich die meisten Parteien, von der AfD einmal abgesehen, auf die Fahne geschrieben. Alarmsignale der Klimaerwärmung gibt es genug. Und hautnah ist es in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zu spüren, wo Starkregen kleine Flüsse zu reißenden Stromschnellen werden ließ, die viele Tote und Verwüstungen hinterließen.

Ob der neuen Konkurrenz legten Bündnis 90/Die Grünen noch einmal in einem siebenseitigen Papier nach. „Wir werden im Kabinett das größte Klimaschutzpaket beschließen, das es jemals gegeben hat“, heißt es in dem Papier. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Co-Parteichef Robert Habeck forderten vor der Presse unter anderem die Einrichtung eines Klimaschutzministeriums mit Vetorecht.

Die Windenergie und die Fotovoltaik sollen massiv ausgebaut werden. Die Stimmung im Land ist schon für mehr Klimaschutz, wenn die Kosten hierfür allerdings im eigenen Portemonnaie etwa an der Tankstelle ankommen, sieht es schon anders aus.

„Viele Menschen wollen zwar den Umbau, er soll aber nichts kosten. Die Politik muss endlich ehrlich sagen, dass Klimaschutz ohne deutlich höhere Kosten bei Mobilität, Energie und teilweise auch Lebensmitteln nicht möglich ist. Und natürlich bedeutet Klimaschutz auch Verzicht in vielen Bereichen des Lebens; man sagt den Menschen einfach nicht die Wahrheit“, erklärte Allianz-Chef Oliver Bäte vor wenigen Tagen im Interview mit dem Handelsblatt.

Vielen sei nicht klar, dass gerade das gesamte Geschäftsmodell Deutschlands auf dem Spiel stehe. Die deutsche Volkswirtschaft hänge an einer starken Industrie. „Wenn wir beim Energieumbau Fehler machen, ist eine Wirtschaftskrise unausweichlich, weil der Kern unserer Wirtschaft in Schwierigkeiten gerät“, warnt Bäte. Außerdem müsse man akzeptieren, dass der Umbau viel kosten werde. Da müsste massenhaft privates Kapital reingehen, dafür gibt es aber bisher keinen regulatorischen Rahmen. „Wir würden bei der Gestaltung der Finanzierung konzeptionell jederzeit mitarbeiten, aber es kam noch zu keinem Gedankenaustausch mit der Politik.“

Die Corona-Pandemie scheint trotz einer drohenden vierten Welle unter Kontrolle zu sein, zumal ausreichend Impfstoff vorhanden ist. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und das Robert-Koch-Institut (RKI) warnen aber angesichts der sich stetig verbreitenden Delta-Variante des Virus vor einem neuen Aufflammen von Corona im Herbst.

Außenpolitische Linie noch nicht klar umrissen

Droht eine neue Migrationswelle nach der Aufgabe der Nato in Afghanistan? Nach rund 20 Jahren hat sich das westliche Militärbündnis aus Afghanistan zurückgezogen, ohne eine stabile Infrastruktur hinterlassen zu können. Die Taliban sind auf dem Vormarsch und viele Menschen denken an Flucht über den Iran nach Europa. Ob die Türkei weiterhin ihre Grenzen für Flüchtlinge schließt, ist ungewiss oder liegt an der Zahlungsbereitschaft der Europäischen Union. Auf der anderen Seite reagiert der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko auf EU-Sanktionen mit der Öffnung seiner Außengrenzen nach Europa für durchziehende Flüchtlinge.

Ein „Wir schaffen das“ von Merkel im Jahr 2015 zur Grenzöffnung für Flüchtlinge wird es ganz sicher nicht mehr geben.  Noch ist es relativ ruhig, obwohl Berichte über Vergehen von Menschen mit Migrationshintergrund besonders an Frauen stark verunsichern. Der Einfluss auf das Wahlergebnis könnte durchaus bemerkbar werden.

Reformen in der Altersvorsorge

An einem wird die neue Bundesregierung nicht vorbeikommen: Die Altersvorsorge muss neu justiert werden, denn der demografische Wandel steht vor der Tür. Die Baby-Boomer der 60er-Jahre kommen ins Rentenalter. In dem von der Bundesregierung zum Ende der Legislaturperiode gerade vorgelegten Sozialbericht wird auf die Verschiebung der Altersstruktur hingewiesen, ohne allerdings Lösungsansätze vorzuschlagen. Von den 21,1 Millionen Rentenbeziehern (einschließlich Erwerbsminderungsrentner) befinden sich dem Bericht zufolge 18,5 Millionen Rentner im Alter von über 65 Jahren.

Das Verhältnis von Rentnern im Alter von über 65 Jahren zur Bevölkerung im Alter zwischen 20 bis 64 Jahren werde sich bis 2045 von derzeit 36 Prozent auf 53 Prozent erhöhen. Dann würden 53 Personen im Rentenalter 100 Personen im erwerbsfähigen Alter gegenüberstehen, heißt es in dem Sozialbericht, den Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) zu verantworten hat. Eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze über das 67. Lebensjahr hinaus befürworten etwa der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) und Arbeitgeberverbände als Antwort auf die stetig steigende Lebenserwartung der Menschen, die dadurch immer länger ihre Rente beziehen.

Die Rente mit 67 ist aber schon heute absolut unbeliebt, und es käme einem politischen Selbstmord gleich, sich für eine noch höhere Altersgrenze ab dem Jahr 2030 in diesem Wahljahr einzusetzen. Immerhin sind die Rahmenbedingungen bei der gesetzlichen Rente bis 2025 gesetzt. Auf Druck der SPD wurden sogenannte Haltelinien beim Rentenniveau (nicht unter 48 Prozent) und Beitragssatz (nicht über 20 Prozent) eingezogen. Dafür haftet letztlich der Bundeshaushalt.

Dass allein die gesetzliche Rente einen auskömmlichen Lebensstandard nicht absichern kann, stellt auch der Sozialbericht fest. Allerdings haben sowohl die betriebliche Altersversorgung (bAV) als auch die staatlich geförderte private Altersvorsorge (Riester-Rente) an Dynamik verloren. Das BRSG ist bislang weitgehend ins Leere gelaufen und Riester hat sich als zu kompliziert konzipiert erwiesen. Die neue Bundesregierung muss sich der Herausforderung stellen, wie die zweite und dritte Säule der Altersvorsorge neu belebt werden können. Für den GDV ist jedenfalls eine Riester-Neuaufstellung durchaus machbar, wenn man den Kreis der Begünstigten erweitert, Bürokratie abbaut und vor allem Rückforderungen staatlicher Zulagen verhindert. Die Politik denkt eher an ein standardisiertes, staatlich gefördertes Vorsorgemodell, das kostengünstig im Internet abgeschlossen werden kann. Die SPD hatte jedenfalls in der aktuellen Koalitionsregierung kein Interesse an einer Riester-Reform, obwohl dies im Koalitionsvertrag mit der Union vereinbart war.

Die Stimmen aus der Branche indes sind durchaus kritisch. Sebastian Grabmaier, Vorstandsvorsitzender Jung, DMS & Cie., erklärte bei Cash.Online seinen aktuellen Gemütszustand mit Blick auf die Politik so: „Wenn man sich die Wahlprogramme der großen Parteien genauer ansieht, kann es einem um die Finanzdienstleistungsbranche tatsächlich angst und bange werden: Kein Plan für die Riester-Rente, staatlich kontrollierte Kranken- und Rentenversicherung – wohlklingend als Bürgerversicherung und Staatsfonds getarnt – statt PKV und private Altersvorsorge, Druck auf bestehende Vergütungsmodelle sowie Einschränkungen für die Immobilienbranche (…) Ich erhoffe mir von jeder künftigen Bundesregierung steuerlichen Weitblick und den Erhalt persönlicher Freiheit in Sachen Wahl der (privaten) Alterssicherung und praktikable Regelungen, um das bewährte Leistungsniveau der privaten Krankenversicherung aufrechtzuerhalten.“

Zukunft der Krankenversicherung

In der Krankenversicherung haben die Sozialdemokraten ebenfalls dafür gesorgt, dass es für die Private Krankenversicherung (PKV) keine Reformschritte (etwa bei den Regeln für Beitragsanpassungen) gibt. Wie es hier weitergeht, muss sich noch zeigen. In einem Interview mit dem PKV-Verband machte sich zuletzt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, für einen Wettbewerb zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung stark. Ein Vorteil für die Versicherten – und für die Leistung unseres Gesundheitswesens.

„Ich glaube, die soziale Marktwirtschaft wird durch Wettbewerb stark. Und durch den Wettbewerb zwischen Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung ist ein wesentlicher Innovationstreiber in unserem Gesundheitswesen identifiziert. Das ist gut für die Versicherten, und es ist gut für die Leistung des Gesundheitswesens insgesamt. Und Wettbewerb ist auch immer ein Kostenbegrenzer. Von daher sehe ich keinen guten Grund, am Dualismus im deutschen System irgendetwas Grundlegendes zu ändern“, so Kampeter im O-Ton.

Wirtschaftliche Erneuerung

Dr. Michael Heise, Chefökonom HQ Trust fordert, dass sich die Wirtschaftspolitik insbesondere auf die Investitionen und Innovationen in der Wirtschaft sowie auf die Qualität des Humankapitals konzentrieren sollte, um das langfristige Wachstumspotenzial und die Produktivität zu steigern und damit möglichst gut bezahlte Arbeitsplätze langfristig zu sichern. Gerade in einer Zeit, in der sich die Wirtschaft in einer doppelten Transformation hin zur Klimaneutralität und zur weitgehenden Digitalisierung befindet, sind ausreichend hohe Investitionen, wirkungsvolle Innovationen und sehr gut qualifizierte Arbeitskräfte gefragt.

Wie lässt sich das erreichen? In der privaten Wirtschaft hängt es vor allem von den Rahmenbedingungen und der Attraktivität des Standorts Deutschland ab, in welchem Umfang Kapazitäten aufgebaut werden. Dabei spielen Kriterien wie steuerliche Belastungen, Lohnkosten, Energiekosten, Bürokratielasten, zügige Planungs- und Genehmigungsprozesse, Rechtssicherheit, qualifizierte Arbeitskräfte und die Qualität der öffentlichen Infrastruktur in Bezug auf Verkehr, Digitalinfrastruktur sowie Energienetze eine wichtige Rolle. „Manches ist sehr gut in diesem breiten Katalog an Rahmenbedingungen in Deutschland, doch in der Gesamtschau ist der hiesige Standort offenbar nicht so attraktiv, wie es für eine ausgewogenere und stärkere Steigerung des Wohlstands erforderlich wäre“, schreibt Heise.

Am Ende komme es darauf an, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und ihre Investitions- und Innovationsfähigkeit zu stärken und die Sozialsysteme und die Finanzierungsmittel des Staates langfristig zu sichern. Das gelte vor allem in einer Zeit mehrfacher „Mega“-Herausforderungen, wie die notwendige Dekarbonisierung oder Digitalisierung der Wirtschaft. Diese Aufgaben seien unter der Bedingung eines zunehmend knapper werdenden Erwerbspersonenpotenzials und einer alternden Gesellschaft umso schwerer zu bewältigen. „Es bleibt zu hoffen, dass sie nach dem Wahlkampf in das Zentrum der Aufmerksamkeit der neuen Regierung rücken“, so Heise.

Autor: VW-Redaktion, Manfred Brüss