Die Furcht vor dem Shitstorm: Dürfen Impfängste im Vertrieb genutzt werden?
Kasse machen oder legitime Beratung; ist es schamlos oder geboten, wenn Vermittelnde die Impfangst vieler Deutscher als Beratungsansatz nutzen oder Versicherer das Thema Schlaganfall zu Werbezwecken „plakativ und eindrücklich“ schildern? Die Meinungen divergieren, die Rechtslage ist eindeutig.
Das Thema Angst im Vertrieb polarisiert. Viele Befragte nahmen die Beine in die Hand und waren am Horizont verschwunden, bevor die Anfrage zu Ende formuliert war. In der heutigen Shitstorm-Realität verständlich, aber vor dem Hintergrund der momentanen Relevanz bedauerlich; denn einige Versicherungsberater und -unternehmen haben die aktuelle Debatte um Impfschäden für sich aufgegriffen.
„Es ist völlig legitim, mit den Kunden über die Fälle zu sprechen, die passieren können“, erklärt der Makler und Buchautor Klaus Hermann. Dabei würden auch Ängste entstehen. „Jeder Autohändler erklärt mir die SOS-Funktion im Fahrzeug, im Flugzeug bespricht man das Verhalten im Falle des Absturzes“, unweigerlich würden dadurch „Bilder im Kopfkino“ entstehen.
„Ein wesentlicher Teil der Arbeit der Versicherungsvermittler besteht darin, den Kunden Lücken in der Absicherung gegenüber den Risiken des Lebens aufzuzeigen“, erklärt auch Michael H. Heinz, Vermittler und Präsident des Bundesverbandes für Versicherungskaufleute (BVK). Dass beim Aufzeigen von Versicherungslücken beim Kunden „unangenehme Gefühle“ ausgelöst werden, liege dem Versicherungsvermittler fern. Die Beratungssituation sollte so gestaltet werden, dass diese von „rationalen Abwägungen gekennzeichnet“ ist. Der Abschluss eines Versicherungsvertrages sollte aufgrund „kognitiver Einsicht“ und nicht aufgrund einer „Bauchentscheidung“ erfolgen, führt Heinz aus.
Das sieht auch die Gothaer so. „Risiken sind ein unvermeidbarer Bestandteil des Lebens, genau wie die Furcht davor“. Mittels einer guten Absicherung könne die „Angst vor einigen existenziellen Risiken verschwinden“, was Unternehmertum und Entwicklung ermögliche.
Skandal oder Alltag – die Werbung mit Impfgefahren
Theoretisch ist alles geklärt, die Bedarfsanalyse ist sinnvoll, Ängste sind so weit wie möglich zu verhindern. Wie schwierig das im Alltag ist, zeigt das Thema Impfschäden. Obwohl die Zahlen des Paul Ehrlich Instituts eine geringe Schadenhäufigkeit zeigen, haben einige Berater und Versicherer das Thema aufgegriffen, wie die Fernsehsendung PlusMinus kritisch hervorhebt. Die Branche würde mit der Angst vor Impfstoffen „Kasse machen“, lautet der Vorwurf. Dem widersprechend berichten sowohl Versicherer wie Berater von zahlreichen Anfragen zum Thema. Die Nachfrage nach Schutz komme vom Kunden, nicht aus dem Markt. Es sei normal, dass Kunden bei Fragen zur Absicherung bei den Versicherungskaufleuten ihres Vertrauens um Aufklärung ersuchen, sagt Heinz.
„Wie schlecht würden wir unseren Job machen, wenn wir (erst) im Jahr 2022, nachdem schon 60 Millionen Impfungen erfolgt sind, darauf hinweisen, dass Impfschäden über die Unfallversicherung mitversichert werden können?“, fragt Hermann rhetorisch. Das gelte besonders dann, wenn „in vielen Fällen“ der Schutz durch eine Vertragsumstellung und Optimierung ohne Mehrbeitrag möglich sei. „Die Verbraucherschützer würden sich mit großer Freude über uns hermachen und feststellen, dass die Beratungen mangelhaft waren“.
Die angesprochenen Verbraucherschützer sind mit der Arbeit der Versicherer und Vertriebe beim Thema Impfung allerdings gar nicht einverstanden. „Versicherungen würden mit den Ängsten der Menschen spielen“, heißt es auf der Webseite der Verbraucherzentrale, bei Plusminus wird von „gezielter Werbung“ gesprochen.
Ein Impfschaden ist selten, doch ein Hinweis darauf ist deswegen nicht unmoralisch oder falsch. Es ist wichtig, auch auf Risiken hinzuweisen, „die sehr selten auftreten“, schreibt die Gothaer. „Wie häufig sind extreme Wetterereignisse? Früher seltener, heute, mit gesteigertem Bewusstsein, ein relevanter Teil des Beratungsgesprächs mit Kunden.“ Genauso verhalte es sich mit Impfrisiken. Diese seien „sehr, sehr selten“ und dennoch machen sich Menschen darüber Sorgen, „wie wir gerade aktuell sehen können“. Die Gothaer deckt in ihrem aktuellen Unfallversicherungstarif mögliche Impffolgeschäden ab, trägt es aber nicht offensiv nach außen. „Wir haben uns ganz bewusst dagegen entschieden, diesen zusätzlichen Schutz für unsere Versicherten aktiv zu bewerben. Wir sind uns sehr bewusst, dass das Thema Impfschäden zu einer Verunsicherung in der Bevölkerung führen könnte, zumal solche Schäden äußerst selten auftreten“, schreiben die Kölner. Bei den mit der Pandemie verbundenen Ängsten ist es sicherlich ratsam, „besonders sensibel vorzugehen“, sagt auch Hermann, der Hinweis zur Abdeckung mittels Unfallversicherung sei allerdings legitim, „weil sich Menschen darüber Gedanken machen“.
Heinz kann die Medienberichte über ein „angebliches Schüren von Impfschäden als ‚Verkaufsargument‘ für den Abschluss von Unfallversicherungen“ vor dem Hintergrund der Realität und der vom BVK vertretenen Ethik des ehrbaren Kaufmanns „nicht nachvollziehen“.
Nahezu alles erlaubt
Die Verbraucherschützer stören sich an der „Aufmachung und Tonalität der Kundenbriefe und Anzeigen“ zum Thema Impfen, doch rein rechtlich haben sie nur in Ausnahmefällen eine Handhabe.
Selbst als anstößig empfundene Werbung „ist hinzunehmen“, erklärt Peter Breun-Goerke, Syndikusrechtsanwalt bei der Wettbewerbszentrale. Er verweist auf die damaligen Kampagnen der Modemarke Benetton, die mit ölverschmierten Enten, HIV-Patienten oder religiös verfälschten Motiven arbeiteten. Werbung darf mehr als anecken und sogar Gefühle verletzen, ohne verboten zu werden.
Im Jahr 2015 kam es zu einer Gesetzesänderung, der Hintergrund war die EU-Rechtsprechung hinsichtlich unlauterer Geschäftspraktiken. Seit diesem Zeitpunkt haben die Werbenden mehr Freiheiten als in der Vergangenheit. Lediglich „aggressive, geschäftliche Handlungen“ sind unzulässig, wenn sie unter „Berücksichtigung aller Umstände“ dazu geeignet sind, die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers „erheblich zu beeinträchtigen“. Insgesamt seien die Grenzen für unzulässige Werbung „höher gesetzt worden“, erklärt Breun-Goerke.
Verboten sind nach §4a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, nach wie vor drastische Verstöße. Dazu gehören beispielsweise die Verwendung drohender oder beleidigender Formulierungen wie auch Verhaltensweisen. Ebenso verboten ist die „bewusste Ausnutzung von konkreten Unglückssituationen“ oder „Umständen von solcher Schwere“, dass sie das Urteilsvermögen des Verbrauchers beeinflussen.
Aus Sicht der Wettbewerbszentrale „muss es bei der Bewerbung von Risikoversicherungen“ möglich sein, das versicherte Risiko aufzuzeigen und zu beschreiben, damit sich der Kunde dagegen absichern kann.
Den Ausführungen von Breun-Goerke folgend sind dem Vermittler also Hinweis, Werbung und Beratung zum Thema Impfschäden erlaubt, selbst wenn er dazu „plakative und eindrückliche“ Mittel einsetzt. Verboten ist dagegen die Ausnutzung einer konkreten Unglückssituation.
Guter Geschmack und Schlaganfall
Das Problem mit der Nutzung von Angst im Vertrieb geht weit über das Thema Impfen hinaus. Der Wettbewerbszentrale liegt ein Werbefilm und Testimonial für ein Pflegeversicherungsangebot eines deutschen Anbieters vor, dass „sehr plakativ und eindrücklich“ die Folgen eines Schlaganfalls aufzeigt. Nach dem Erscheinen hatten sich Verbraucher beschwert, dass dadurch Werbung mit Angst betrieben werde. Laut der Wettbewerbszentrale ist die Werbung „im Hinblick auf den guten Geschmack grenzwertig“, eine „aggressive geschäftliche Handlung“ gemäß den gesetzlichen Vorgaben „liege aber wohl nicht vor“. Im Hinblick auf die geltende Rechtslage sei eine auf versicherte Gefahren hinweisende „plakative Werbung“ zulässig.
Allerdings ist „zulässig“ nicht mit „sinnvoll“ gleichzusetzen. So mancher Vermittler sah sich nach einer Werbung mit Hinweis auf Impfschäden einem waschechten Aufbegehren in den sozialen Medien gegenüber, der den Werbeeffekt mindestens aufhob. Der für die Schlaganfall-Werbung verantwortliche Versicherer hat sein Tun wohl auch noch einmal überdacht, zumindest war die Werbung auf die Schnelle nicht mehr zu finden.
Der Kunde soll „rational“, nicht im Gefühlsaffekt entscheiden, gibt der BVK eine Richtschnur für das Handeln des einzelnen Vermittlers vor. Weniger bedrohlich sei ein Hinweis, wenn er im „Konjunktiv statt Indikativ“ aufgezeigt wird, ergänzt Hermann.
Letztlich muss der Vermittelnde alleine entscheiden, wie weit er gehen will. Die Grenzen des Erlaubten sind weit, die des moralisch vertretbaren, gerade während einer hitzigen öffentlichen Debatte sind deutlich enger. Es ist nicht der schlechteste Einfall, die eigene Werbeidee einigen Freunden vorzulegen und deren Eindrücke vor der Veröffentlichung einfließen zu lassen.
Anmerkung der Redaktion: In einer ursprünglichen Version des Textes stand, dass Herr Breun-Goerke bei der Verbraucherzentrale arbeitete. Es ist aber die Wettbewerbszentrale. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Autor: Maximilian Volz