Europa räumt Betriebsrentnern mehr Rechte in der Insolvenz ein

Das Landgericht Mannheim erlässt eine einstweilige Verfügung gegen die Kompass Group Deutschland (Symbolbild). Quelle: Hermann Traub auf Pixabay

Das Jahr 2019 endete für das deutsche Betriebsrentensystem mit einem Donnerschlag aus Europa. Am 19. Dezember 2019 entschied nämlich der Europäische Gerichtshof (C-165/18 Bauer), dass letztlich auch Pensionskassenzusagen im Falle einer Arbeitgeberinsolvenz eine Mindestsicherung haben müssen. Die Folge war eine Änderung des BetrAVG, sodass seit 24. Juni 2020 auch Pensionskassenzusagen, falls die Einrichtung nicht durch Protektor geschützt ist, unter den Schutz des PSV fallen und ab 2021 PSV-pflichtig sind.

Nun führt der europäische Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Zahlungsunfähigkeits-Richtlinie fort (Urteile vom 9. September 2020 in den verbundenen Rechtssachen C-674/18 und C-675/18). Das Bundesarbeitsgericht hatte 2018 diese beiden Verfahren dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (Beschlüsse vom 16.10.2018, 3 AZR 139/17 (A)). Das Bundesarbeitsgericht wollte, dass der Europäische Gerichtshof letztlich überprüft, ob die deutschen Regelungen zum Umgang mit Betriebsrenten im Falle einer Insolvenz mit der Betriebsübergangs-Richtlinie (2001/23/EG vom 12.3.2001) und Artikel 8 der Zahlungsunfähigkeits-Richtlinie (2008/94/EG vom 22.10.2008) vereinbar sind. Beide Richtlinien enthalten Schutzvorschriften für Betriebsrenten.

Der EuGH kommt nun zum Urteil, dass möglicherweise nicht immer der europäische Mindestschutz in Deutschland gewährleistet ist. Das öffnet erneut für die Betroffenen die Tür zur Staatshaftung.

Die Fallkonstellationen: Es ging um eine Insolvenz mit anschließendem Betriebsübergang auf einen Erwerber nach § 613a BGB. Den beiden Klägern sind Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zugesagt worden. Nach der Versorgungsordnung berechnet sich ihre Betriebsrente nach der Anzahl der Dienstjahre und dem – zu einem bestimmten Stichtag vor dem Ausscheiden – erzielten Gehalt. Über das Vermögen ihrer Arbeitgeberin wurde am 1. März 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Im April 2009 ging der Betrieb aufgrund eines Betriebsübergangs auf den Erwerber über. Der Erwerber wurde von den beiden Arbeitnehmern verklagt.

Fallkonstellation 1 (verfallbare Anwartschaft, Rechtssache C-674/18): Die Anwartschaft des einen Klägers war bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht gesetzlich unverfallbar, die gesetzliche Unverfallbarkeit trat erst nach der Insolvenz ein. Damit war die erreichte Anwartschaft auch nicht durch den PSV geschützt. Der Kläger wollte trotzdem eine Betriebsrente in voller Höhe – also unter Einbeziehung der Beschäftigungszeiten, die vor der Insolvenz liegen – vom Betriebserwerber beziehen.

Nach deutschem Recht haftet der Betriebserwerber nur für den Teil der Betriebsrente, der auf Zeiten beruht, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beruhen.

Fallkonstellation 2 (Stichtag Insolvenz, Rechtssache C-675/18): Der andere Kläger erhält seit August 2015 von dem Betriebserwerber eine Betriebsrente iHv. ca. 145,00 Euro und vom Pensions-Sicherungs-Verein (PSV) – dem gesetzlich bestimmten Träger der Insolvenzsicherung – eine Altersrente iHv. ca. 817,00 Euro. Bei deren Berechnung legte der PSV – wie im Betriebsrentengesetz vorgesehen – das zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens maßgebliche Gehalt des Klägers zugrunde. Der Kläger hält den Betriebserwerber für verpflichtet, ihm eine höhere Betriebsrente zu gewähren; diese müsse sich nach den Bestimmungen der Versorgungsordnung auf der Basis des zum Stichtag vor dem Versorgungsfall bezogenen Gehalts unter Berücksichtigung aller Dienstjahre, also auch der Dienstjahre vor Eintritt der Insolvenz, unter bloßem Abzug des Betrags errechnen, den er vom PSV erhalte. Damit würde sich die Rentenzahlung durch den Betriebserwerber auf rund 295 Euro verdoppeln.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht (17.1.1980 – 3 AZR 160/79) beschränkt sich die Haftung des Erwerbs nur auf den Anteil der Betriebsrente, der durch den Arbeitnehmer nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erdient ist.

Nach deutschem Recht wären beide Klagen also erfolglos. Doch das Bundesarbeitsgericht wollte wissen, ob eine solche einschränkende Geltung von § 613a Abs. 1 BGB im Fall eines Betriebsübergangs im Insolvenzverfahren mit Art. 3 Abs. 4, Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/23/EG (Betriebsübergangs-Richtlinie) im Einklang steht und ob ggf. Art. 8 der Richtlinie 2008/94/EG (Zahlungsunfähigkeits-Richtlinie) vorliegend unmittelbare Geltung entfaltet und sich der Arbeitnehmer deshalb auch gegenüber dem PSV auf diesen berufen kann.

Die Entscheidung des EuGH:

  1. Die Betriebsübergangs-RL sieht in Artikel 3 Abs. 4a vor, dass Anrechte auf Betriebsrenten nur dann auf den Erwerber übergehen, wenn dies vom nationalen Gesetzgeber so vorgesehen ist. Dies gilt auch für den Betriebsübergang nach einer Insolvenz.
  2. Deutschland kann also in einer nationalen Regelung – auch in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – vorsehen, dass der Erwerber für Betriebsrenten nur ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens haftet.
  3. Für die Zeiten vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist dann aufgrund der Betriebsübergangs-Richtlinie einen Mindestschutz der Betriebsrenten im Umfang der Zahlungsunfähigkeits-Richtlinie vorzusehen (mindestens 50 Prozent unter Beachtung der Armutsgefährdungsgrenze – gemäß EuGH-Urteil vom 19.12.2020, C-165/18, Bauer).
  4. Der EuGH prüfte auch, ob und wie Ansprüche, die zum Zeitpunkt der Insolvenz noch verfallbar sind, zu schützen sind und kommt letztlich zu dem Schluss, dass auch verfallbare Anwartschaft mit dem Mindestschutz der Zahlungsunfähigkeits-RL (mindestens 50 Prozent unter Beachtung der Armutsgefährdungsgrenze) zu schützen sind (Rz 91-93).
  5. Die Ansprüche können gegen den PSV geltend gemacht werden, wenn sich der vom Gesetz dem PSV aufgetragene Insolvenzschutz auf die Arten von Leistungen bei Alter erstreckt, für die nach Art. 8 der Zahlungsunfähigkeits-RL einen Mindestschutz vorzusehen ist.

Fazit: Das Urteil muss nun vom Bundesarbeitsgericht auf die beiden anhängigen Fällen angewandt werden. Es hat große Bedeutung für die deutsche Insolvenzsicherung von Betriebsrenten allgemein und die Haftung und Belastung von Betriebserwerbern nach dem Eintritt einer Insolvenz. Hier wird es nun darauf ankommen, ob das Bundesarbeitsgericht an seiner Rechtsprechung festhält, dass die Haftung des Erwerbers bei einem Betriebsübergang erst ab Eintritt der Insolvenz greift.

Das Urteil entfaltet Wirkung für alle Durchführungswege. Der Schutz von verfallbaren Anwartschaften, d.h. von arbeitgeberfinanzierten Versorgungen, ist bisher nur für die versicherungsförmigen Durchführungswege durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eröffnet. Der Bundesgerichtshof (BGH, zum Beispiel Urteil vom 5. Dezember 2013, IX ZR 165/13) geht – anders als das Bundesarbeitsgericht – davon aus, dass ein Bezugsrecht mit dem Vorbehalt, dass gesetzliche Unverfallbarkeit eingetreten ist, im Falle einer Insolvenz als unwiderruflich anzusehen ist. Dadurch ist auch ein Schutz der noch verfallbaren Anwartschaften sichergestellt. Für Pensionszusagen und Unterstützungskassen greift hingegen der PSV-Schutz erst ab Eintritt der gesetzlichen Unverfallbarkeit.

Das Urteil des EuGH ordnet keinen Vertrauensschutz an, insofern erstreckt es sich auch auf Altfälle.

Autor: VW-Redaktion

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