Meissner: „Es ist leider davon auszugehen, dass 2020, vielleicht auch 2021, die Zahl der Insolvenzen zunehmen wird“
Die Corona-Pandemie kann sich für die Vermittler „eine große Chance“ sein, meint Henriette Meissner, Generalbevollmächtigte für die bAV der Stuttgarter Lebensversicherung: „Jetzt zeigt sich, wer Kundenservice kann und wer es versteht, die Kundenbindung entscheidend zu stärken.“ Im Exklusiv-Interview mit VWheute spricht sie zudem über die Folgen der Pandemie für die Pensionskassen und die bAV.
VWheute: Frau Meissner, derzeit ist viel los in der Welt, wenig davon erfreulich. Bevor wir ins Detail gehen, welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf die Welt der betrieblichen Altersvorsorge (bAV)?
Henriette Meissner: Die Corona-Krise hat ganz offensichtlich die Wirtschaftswelt geschockt: Arbeitgeber bricht der Umsatz weg, andere Arbeitgeber – wie z.B. Kliniken – haben alle Hände voll zu tun, andere waren mit der Umorganisation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Home-Office beschäftigt: Die Förderung der betrieblichen Altersversorgung stand da sicherlich nicht an allererster Stelle. Und die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist natürlich ein Spiegelbild dieser Situation: Häufig Verunsicherung, Kurzarbeit, Sorge um den Arbeitsplatz, plötzlich Home-Office und Kinderbetreuung und natürlich die Sorge um die eigene Gesundheit und die der Lieben.
Die Vermittler wie auch wir als Versicherer haben das in Form von zahlreichen Anfragen erlebt. Und die ganze Branche – wie auch wir als Stuttgarter Lebensversicherung – haben sehr schnell flexible Angebote zur Überbrückung dieser Krisenzeit gemacht: Beitragsaussetzungen, -stundungen, gute Beratungsleistungen. Der Krisenmodus funktioniert. Ich meine gerade die Krise ist auch für die Vermittlerschaft eine große Chance: Jetzt zeigt sich, wer Kundenservice kann und wer es versteht, die Kundenbindung entscheidend zu stärken.
VWheute: Ist denn das Beratungs-Know-How für die Pandemie bei den Versicherern und Beratern vorhanden?
Henriette Meissner: Manches war ja bekannt aus der Finanzmarktkrise, wie z.B. das Kurzarbeitergeld. Doch auch diese Krise ist schon länger her und wir haben ja eine sehr dynamische Gesetzgebung zu COVID-19 erlebt. Die Versicherungsbranche hat sehr schnell die Rahmenbedingungen aufgearbeitet. Online-Seminare z.B. zum Thema Kurzarbeit waren sehr schnell da und auch rege besucht.
Allerdings waren wir überrascht über die Vielfalt und Komplexität der Themen in der Altersversorgung. Daher haben meinen Kollegen, Rechtsanwalt Frank Wörner und Alexander Schrehardt, der ein unglaubliches Fachwissen rund um die Biometrie und Absicherung der Arbeitskraft hat, die Themen zusammengetragen. Herausgekommen ist ein kompakter Leitfaden für Berater „(Betriebliche) Altersversorgung in der COVID-19-Pandemie“.
VWheute: Mitten in der Pandemie wird nun ein Gesetzesvorhaben zum Insolvenzschutz von Pensionskassen vorangetrieben. Was ist der Hintergrund?
Henriette Meissner: In allen Durchführungswegen der betrieblichen Altersversorgung ist der Arbeitnehmer durch die sogenannte Einstandspflicht des Arbeitgebers geschützt, wenn z.B. ein externer Versorgungsträger die Leistungen kürzt. Bekanntlich mussten Pensionskassen in den letzten Jahren häufiger auf die Sanierungsklauseln in ihren Satzungen zurückgreifen und die Leistungen kürzen. Für die Betriebsrentner wird das zum Problem, wenn der Arbeitgeber, der die Differenz aufgrund seiner Einstandspflicht ausgleichen muss, insolvent wird.
Der Europäische Gerichtshof hat im Dezember 2019 diesen Betriebsrentnern aufgrund einer europäischen Richtlinie einen Mindestschutz zugesprochen. Vereinfacht gesagt: Wenn der deutsche Gesetzgeber das nicht per Gesetz regelt und, wie jetzt geplant, den Pensions-Sicherungs-Verein (PSV) ins Spiel bringt, greift die Staatshaftung, d.h. die Prüfung und Befriedigung der Ansprüche müsste der Staat übernehmen. Das Gesetzesvorhaben ist im parlamentarischen Verfahren. Die öffentliche Anhörung im Ausschuss war am 20. April 2020 und dem Vernehmen nach soll es in der ersten Maiwoche auf der Tagesordnung des Parlaments stehen.
VWheute: Was bedeutet das für die Pensionskassen und Versorgungsberechtigten?
Henriette Meissner: Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass die Pandemie auch einen Schock für die Wirtschaft bedeutet. Es ist also leider davon auszugehen, dass 2020, vielleicht auch 2021, die Zahl der Insolvenzen zunehmen wird und damit auch potentiell die Zahl derer, die von einer Arbeitgeberinsolvenz betroffen sind. Durch die Gesetzesänderung werden die Versorgungsberechtigten von betroffenen Pensionskassen besser geschützt: bis 31. Dezember 2021 erhalten sie einen Mindestschutz nach dem Urteil des europäischen Gerichtshof, ab 1. Januar 2022 einen Vollschutz.
Für Arbeitgeber, Pensionskassen und für den PSV bedeutet dies erhöhte Aufwände. Die betroffenen Arbeitgeber müssen künftig PSV-Beiträge zahlen, die Pensionskassen werden die Meldepflichten zu erfüllen haben und der PSV muss organisatorisch eine entsprechende Plattform auf die Beine stellen.
VWheute: Denken Sie, dass negative Schlagzeilen wie „Pleiten“ von Pensionskassen das Produkt bAV nachhaltig beschädigen?
Henriette Meissner: Negative Schlagzeilen sind in einer Welt wie der betrieblichen Altersversorgung, die auf Vertrauen in die Leistungsfähigkeit über zwei bis drei Generationen hinweg setzt, nie gut. Allerdings hat die betriebliche Altersversorgung in Deutschland auch in vielen Krisenzeiten gezeigt, wie gut sie letztlich aufgestellt ist. Und die nun anstehende Novellierung des Insolvenzschutzes zeigt das wieder. Damit bleibt die Betriebsrente ein wichtiger und verlässlicher Teil der gesamten Altersversorgung.
VWheute: Es gibt ja auch positive Impulse: Zum 1. Januar 2020 ist die Neuregelung eines Freibetrags für Betriebsrenten in Kraft getreten, es gibt bereits ein erstinstanzliches Urteil zur Anwendung. Was sagt die Expertin dazu?
Henriette Meissner: Zunächst einmal ist die Entlastung der Betriebsrenten zu begrüßen. Hier war seit 2004 ein hohes Hindernis in der Beratung vorhanden. Das ist nun deutlich niedriger geworden. Das Gesetzesverfahren wurde von Minister Jens Spahn in den letzten zwei Monaten des Jahres 2019 sehr schnell vorangetrieben. Das hat in den allermeisten Fällen dazu geführt, dass weder die Krankenkassen noch die Versorgungsträger oder Lohnabrechnungsprogramme die teilweise komplexen Neuregelungen zum 1. Januar 2020 umsetzen konnten.
Durch die schnellen Umsetzungsempfehlungen des GKV-Spitzenverbandes ist das nun auf einem guten Weg – spätestens ab 1. Oktober 2020 sollte „richtig“ abgerechnet werden können und auch die Krankenkassen, die teilweise verunsichert Bescheinigungen von den Beitragszahlern anforderten, sollten nun wissen, was zu tun ist. Allerdings bleibt die Rückabwicklung von Altfällen zwischen dem 1. Januar und dem 1. Oktober 2020 noch aufwändig. Das von Ihnen angesprochene Urteil zeigt allerdings, wie sensibel Betriebsrentnerinnen auf die Verbeitragung reagieren: Der entschiedene Sachverhalt sollte nun übergreifend geregelt sein. Wenn nicht, werden die Betroffenen Druck machen.
VWheute: Glauben Sie, dass das bAV-Neugeschäft nach der Krise wieder erstarkt oder werden sich die Unternehmen sich auf andere Dinge konzentrieren? Was empfehlen Sie?
Henriette Meissner: In der jetzigen „akuten“ Phase der Krise steht unserer Erfahrung nach nicht das Neugeschäft im Fokus. Doch schon jetzt sehen wir, dass gerade gut geführte mittelständische Unternehmen sehr agil am Markt agieren und sich auf die neue Situation einstellen, eine ganze Reihe von Unternehmen sind, weil sie das anbieten oder herstellen, was in der Krise gefragt ist, sogar im Aufwind. Immer wieder geht es auch darum, dass den „Corona-Helden“ auch künftig finanziell mehr Wertschätzung gezeigt wird.
Und last but least: Auch am Ende der Krise werden wir weiter Fachkräftemangel haben. Mit anderen Worten: in vielen Firmen und Branchen wird das Thema Mitarbeitergewinnung und -bindung weiter ein Mega-Thema sein und die betriebliche Altersversorgung wird einen hohen Stellenwert behalten. Und um den Kreis zum Anfang zu Ihrer ersten Frage zu schließen: Wer die Krise genutzt hat, um seine Kundenbindungen zu stärken, wird auch in der Phase nach der Krise gestärkt am bAV-Markt agieren können.
Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.
Liebe Frau Dr. Meissner,
stimme Ihnen absolut zu.
Aktuell ist Priorität Nr. 1 in der bAV die Absicherung und Aufrechterhaltung der Anwartschaften für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Corona Krise. Hier ist die Kulanz und Flexibilität der Versorgungsträger gefragt.
Priorität Nr. 2 für die Zeit nach Corona ist ein notwendiger Check Up für Arbeitgeber im Hinblick auf die Wahl des richtigen Versorgungsträgers für die Zukunft, denn die aktuelle Kapitalmarktkrise kann die Solvenz von Versorgungsträgern negativ beeinflussen. Das aktuelle Beispiel bei bestimmten Pensionskassen zeigt dies deutlich.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Günther
Dipl.-Betriebswirt (FH)
Sachverständiger für betriebliche Altersversorgung