Candriam-Experte Niemczyk: „ESG-Analyse muss der Finanzanalyse gleichgestellt sein“

Marie Niemczyk ist Head of Insurance Relations beim Analysehaus Candriam.

Nachhaltigkeit wird für Versicherer immer mehr zur Notwendigkeit. Doch welche Art der Umsetzung von Nachhaltigkeit im Portfolio ist am sinnvollsten? Um potenzielle Nachhaltigkeitschancen zu identifizieren und zu nutzen, kann es hilfreich sein, einen nachhaltigen Anlageansatz zu wählen, der über bloße Ausschlüsse hinausgeht. Welche Anreize es gibt, als Versicherer nachhaltig zu investieren und welche Punkte man bei der Umsetzung im Portfolio betrachten sollte, erläutert Marie Niemczyk, Head of Insurance Relations bei Candriam, in ihrem Gastbeitrag.

Der Druck auf Versicherer, Nachhaltigkeit bei ihren Investments zu berücksichtigen, wächst von allen Seiten. Sowohl Regulierer als auch Verbraucher wünschen sich mehr Nachhaltigkeit, nicht zuletzt, weil die durch den Klimawandel bedingten Risiken zunehmen. Doch auch bei Nachhaltigkeit gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Wichtig ist, dass die Umsetzung von Nachhaltigkeit nicht nur auf die regulatorischen Anforderungen passt, sondern auch auf die Gegebenheiten des Versicherers und auf die Zusammensetzung des Portfolios zugeschnitten ist.

Umfassenderes Risikomanagement durch nachhaltiges Investieren

In einem Umfeld, in dem risikofreie Renditen minimal oder sogar negativ sind, ist eine gründliche Risikoanalyse und deren Management von entscheidender Bedeutung. Nachhaltiges Investieren kann hier zu einem ganzheitlicheren Risikomanagement verhelfen. Durch die Integration von Umwelt-, sozialen und Unternehmens-/Regierungsführungskriterien (ESG) in den Anlageprozess werden nicht nur die traditionellen finanziellen Risiken, sondern auch die ESG-bezogenen Risiken analysiert.

Die Integration von ESG-Faktoren kann Versicherungsgesellschaften also helfen, jene Risiken zu erkennen, zu messen und zu steuern, die nicht durch finanzielle Analysen erfasst werden. Denn diese können sich erheblich auf Vermögenswerte auswirken – Versicherer müssen ihre Portfolios gegen sie absichern, um Kapital zu erhalten und dadurch langfristig ihre Verpflichtungen erfüllen zu können.

Ein hervorragendes Beispiel für die Risiken, die durch eine ESG-Analyse vermieden und gesteuert werden können, sind Umweltrisiken. Die Autoren einer Studie der Economist Intelligence Unit schätzen, dass der Klimawandel im Zeitraum zwischen 2015 und 2100 potenzielle Verluste von 4,2 Billionen US-Dollar zur Folge haben könnte für Vermögenswerte, die weltweit von Finanzinstituten (ausschließlich Banken) gehalten werden. Die Folgen der Erderwärmung verursachen nicht nur Umweltzerstörung. Sie sind auch zum „ultimativen Risiko-Multiplikator“ für die Gesellschaft geworden und können zu wirtschaftlichen Ungleichheiten, weitreichenden gesundheitlichen Schäden, unkontrollierbarer Migration und zwischenstaatlichen Spannungen führen. Diese komplexe Situation erfordert es, dass Versicherer Nachhaltigkeitsrisiken in ihr Risikomanagement einbinden.

Ursachen von Naturkatastrophen im Zeitverlauf. Quelle: Munich Re über Candriam.

Nachhaltigkeitsrisiken können Reputationsrisiken mit sich bringen

Gleichermaßen trägt die Einbeziehung von ESG-Faktoren dazu bei, Reputationsrisiken zu mindern. Unternehmen mit schlechten ESG-Praktiken oder schwerwiegenden Verstößen sind in den vergangenen Jahren in die öffentliche Kritik geraten. Mehr und mehr werden auch die Investoren, die in diese Unternehmen investieren, infrage gestellt. Versicherer sind von Haus aus daran gehalten, Risiken zu bewerten und zu managen. Deswegen sind sie gut beraten, sich durch die Integration von ESG-Kriterien in Anlageentscheidungen auch im Reputationsmanagement für die Zukunft robust aufzustellen.

Regulierung vorwegnehmen

Staaten und supranationale Instanzen haben in den vergangenen Jahren eine wachsende Zahl an neuen Vorschriften erlassen, die zu einem großen Teil auch die Nachhaltigkeit von Geldanlagen regeln – und weitere werden folgen. Eine der derzeit wichtigsten Regulierungen ist die Offenlegungsverordnung für ein nachhaltiges Finanzwesen (SFDR). Sie sieht Offenlegungspflichten und eine Klassifizierung von Anlageprodukten vor – Versicherer müssen die wesentlichen ESG-Risiken, denen sie unterliegen, offenlegen und zudem die potenziellen negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Investitionen aufzeigen.

Nachhaltigkeitschancen nutzen

Wenn man Nachhaltigkeit nur aus dem Blickwinkel der Risiko-, Reputations- und Regulierungsperspektive betrachtet, könnte man sie lediglich als unvermeidliche Einschränkung sehen. Nachhaltigkeit bietet jedoch auch Chancen und lässt sich so umsetzen, dass dadurch potenzieller Mehrwert geschaffen wird. Die Integration von ESG-Faktoren in die Investmentprozesse kann dazu beitragen, neue Anlagemöglichkeiten mit langfristigem Wachstumspotenzial zu identifizieren. In den meisten Regionen werden strukturelle Nachhaltigkeitstrends wie der Übergang zu einer kohlenstoffneutralen und kreislauforientierten Wirtschaft zunehmend durch Regulierung unterstützt und es entstehen spannende neue Wirtschaftsfelder und Anlagethemen. Und auch Verbraucher fordern Nachhaltigkeit bei Anlage- und Versicherungsprodukten zunehmend ein.

Ein Beispiel: Bei der Verringerung des CO₂-Ausstoßes werden Effizienzsteigerungen und der Übergang zu erneuerbaren Energien eine wichtige Rolle spielen. Unternehmen, die in diesen Bereichen innovativ sind, können Versicherern interessante Anlagemöglichkeiten in neuen Wachstumssektoren bieten. Durch ESG-Analysen können Investoren diese langfristigen Trends erkennen und in diese investieren, auch über thematische Strategien. Diese fokussieren sich auf spezifische nachhaltigkeitsbezogene Probleme, Themen oder Branchen und unterstützen entsprechende Lösungen.

Um solche Nachhaltigkeitschancen zu nutzen, ist es sinnvoll, einen nachhaltigen Anlageansatz zu wählen, der über bloße Ausschlüsse hinausgeht – deren Hauptziel liegt in der Risikovermeidung. Es geht vielmehr darum, auch zu analysieren, welchen strukturellen Nachhaltigkeitstrends eine Anlageopportunität ausgesetzt ist und wie sie davon profitieren kann.

Die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die das nachhaltige Investieren bietet, wird für das langfristige Ertragspotenzial der Versicherer und ihre Wettbewerbsposition entscheidend sein. Sie müssen ein starkes internes Know-how aufbauen oder ihre externen Partner sorgfältig auswählen. Unternehmen, die auf externe Expertise setzen, müssen Partner wählen, die echte Experten für nachhaltiges Investieren sind und sie bei der Umsetzung von nachhaltigen Strategien unterstützen können, die zum Portfolio und zu den jeweiligen Umständen passen.

Zur Autorin: Marie Niemczyk ist Head of Insurance Relations beim Assethaus Candriam.

Ein Kommentar

  • Bei dem Thema muss man mit Sicherheit die Kirche im Dorf lassen und darf die Erwartungen an Rendite oder Risikominderung durch ESG nicht überstrapazieren: Wir haben es mit weitgehend effizienten Kapitalmärkten zu tun, d.h., es ist davon auszugehen, dass die Risiken von „braunen Assets“ schon weitgehend in den Preisen verarbeitet sind – durch übermäßige aufsichtsrechtliche Betonung des Thema besteht im Gegenteil eher das Risiko einer „Green Bubble“, wenn künstlich hohe Nachfrage auf ein begrenztes Angebot an „grünen Assets“ trifft…

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