Risikomodellierer Marescot sieht „Mangel an Verständnis und Bewusstsein“ bei tatsächlichen Elementarrisiken

Laurent Marescot, Insurance Catastrophe Risk Management Experte beim Risikomodellierer RMS.

Rückversicherung und Klimawandel gehören zusammen wie Blitz und Donner. Damit Versicherer die Gefahren für Geschäft und Planet kennen, nutzen sie Experten wie Laurent Marescot, Insurance Catastrophe Risk Management-Experte beim Risikomodellierer RMS. Warum die Anforderungen der Kunden steigen, was die Modelle der Branche bringen und ob es die perfekte Vorhersage gibt, wollte VWheute im Zuge des Reinsurance Meeting 2021 wissen.

VWheute: Was können Ihre Modelle den Versicherern sagen?

Laurent Marescot: Die Cat-Modelle liefern traditionell einen gegenwärtigen bis kurzfristigen Ausblick darüber, welche Folgen Wetterrisiken (z.B. Flut oder Windsturm) haben könnten. In der Regel interessieren sich Versicherer für eine Perspektive von einem bis fünf Jahren. Unsere Cat-Modelle sind probabilistisch (Wahrscheinlichkeit berücksichtigend) entwickelt. Diese zeigen anhand von Millionen an Szenarien auf, was heute oder morgen passieren könnte. Sie umfassen Situationen, die nie zuvor beobachtet wurden, zum Beispiel die Flut Bernd in diesem Sommer. Aus diesem Grund bieten Modelle Versicherungen eine viel umfassendere Risikoperspektive, als wenn nur Schadenerfahrungen aus der Vergangenheit herangezogen werden

VWheute: Welche Ansprüche stellen die Kunden aktuell an Sie?

Laurent Marescot: Unsere Aufgabe als Risikomodellierer hat sich dahingehend gewandelt, dass die Versicherer zum großen Thema Klimawandel längerfristige Prognosen wünschen. Damit wollen sie Vorhersagen für die Zukunft ihres Geschäfts tätigen und sich gegenüber Kunden, Aufsichtsbehörden und Aktionären erklären, was immer wichtiger wird. Das generelle Ziel ist, dem Versicherer einen Überblick über die Gefahren in 10 oder mehr Jahren zu geben. Hier können probabilistische Cat-Modelle des Klimawandels wirklich helfen. Natürlich liefern sie eine Perspektive über die damit verbundene Unsicherheit der Projektion, weniger eine exakte Vorhersage.

VWheute: Und je länger der prognostizierte Verlauf in der Zukunft liegt, desto ungenauer werden die Vorhersagen.

Laurent Marescot: Ganz genau, das hat den Hintergrund, dass zu viele Faktoren in Klimawandelprojektion hineinspielen, die vorab nicht komplett simuliert werden können. Aus diesem Grund haben wir in unseren Modellen verschiedene Szenarien mit verschiedenen Zeitperspektiven für den Klimawandel verfügbar gemacht.

VWheute: Können Sie das am Beispiel Covid erläutern, die Risikomodelle wurden häufig kritisiert.

Laurent Marescot: Das ist ein sehr gutes Beispiel. Als Risikomodellierer brauchen wir qualitativ hochwertige Datensätze, um ein Modell zu kalibrieren. Die Anwendung von vorliegenden nicht passenden Datensätzen auf Covid ist schwierig. Die aktuelle Pandemie zeigte Spezifika, die vorherige Pandemien wie Ebola oder SARS nicht aufwiesen. Hinzu müssen die Maßnahmen der Staaten und die länderübergreifende Zusammenarbeit berücksichtigt werden, denn diese Faktoren haben erhebliche Auswirkungen auf Verbreitungsgeschwindigkeit, Mutation und die Entwicklung eines Gegenmittels. Das bringt natürlich eine große Unsicherheit mit sich. Der wichtigste Punkt ist, dass wir aus jedem neuen Ereignis lernen und unsere Modellierungsfähigkeiten verbessern.

VWheute: Apropos Daten, welche nutzen Sie?

Laurent Marescot: Wir verwenden unterschiedliche Datensätze, der Grundsatz ist: je mehr, desto besser. Aber Daten sind oft unvollständig und nicht homogen. Für die Flutvorhersage benutzen wir beispielsweise die europäischen Niederschläge der letzten 50 Jahre, die Aufzeichnungszeit und -qualität ist allerdings nicht bei jeder Wetterstation gleich. Was in welchem Ausmaß genutzt und gewichtet wird, entscheiden die Experten, die die Daten reinigen und einsetzen.

VWheute: Was können Rückversicherer mit ihren datenoptimierten Modellen tun?

Laurent Marescot: Sie können ihr Spartenrisiko berechnen, was letztlich die Tarifierung bestimmt. Es können Risiken transferiert werden und Kapazitäten und Verletzlichkeit gegenüber bestimmten Schadenszenarien bestimmt werden. Da wir jetzt zahlreiche neue Modelle zum Klimawandel liefern, können die Versicherer damit „herumspielen“ und sehen, welche Auswirkungen und Chancen ihre Entscheidungen hätten. Ohne Cat-Modelle ist es sehr schwierig, das Risiko und die Ungewissheit zu quantifizieren.

VWheute: Thema Risiko, die Rückversicherer warnen vor zunehmenden secondary perils, die Modelle seien nicht genau genug. Stimmen Sie zu?

Laurent Marescot: Das hängt von der Definition der sekundären Gefahren und von den Regionen ab, die von Interesse sind. Wenn wir über Hagel und Waldbrände sprechen, ist dies etwas, was wir schrittweise überbrücken. Letztes Jahr haben wir zum Beispiel ein völlig neues Modell für Hagel, schwere Gewitter und Tornados in Europa veröffentlicht.

VWheute: Sind die secondary perils-Berichte für alle Regionen verfügbar?

Laurent Marescot: Das ist der Punkt; die Verfügbarkeit und Qualität der Berichte ist auch abhängig von der Lokalität und dem Interesse der Kunden. Die Hauptmärkte der Rückversicherer wie Europa, USA oder Teile Asiens sind gut abgedeckt. In anderen Regionen liegen weniger Daten vor, was Güte und Menge an Modellen reduziert. Doch die Lücke wird nach und nach geschlossen, auch weil vor dem Hintergrund des Klimawandels mehr Unternehmen wissen möchten, welche Gefahren sie in einem bestimmten Land heute und künftig erwarten. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir innovativ sein. RMS hat zum Beispiel „Machine Learning“ benutzt, um eine globale Flutkartenlösung zu entwickeln, die es dem Rückversicherer ermöglicht, ihre globale Kumulierung zu verwalten.

VWheute: Swiss Re-Manager Frank Reichelt kritisiert, dass zu wenig Menschen die Elementargefahren kennen und sprach der Versicherungsbranche eine Mitschuld zu. Ihre Meinung als Gefahren-Experte?

Laurent Marescot: Es gibt tatsächlich einen Mangel an Verständnis und Bewusstsein gegenüber den tatsächlichen Elementarrisiken. Das ist sehr menschlich, eine große Flut wie in Deutschland kommt vielleicht alle 60 oder 150 Jahre vor. Die Menschen haben es zuvor noch nicht erlebt und fragen sich, warum sie möglicherweise jahrzehntelang für etwas bezahlen sollen, was dann doch nicht passiert. Die Versicherungsbranche als Ganzes muss mehr Bewusstsein für die steigenden Gefahren schaffen, doch die Richtung stimmt.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.

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