„Es wird wohl auch diesmal die schwierigste Erneuerungsrunde aller Zeiten“, neckt Kolumnist Frank Reichelt
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Frank Reichelt. Quelle: Swiss Re - von der Redaktion bearbeitet.

Nach der Erneuerungsrunde ist vor der Erneuerungsrunde, weiß unser Kolumnist Frank Reichelt. Was König Fußball und die Versicherungswelt gemeinsam haben und warum ein ehemaliger Bundestrainer in Wahrheit (auch) ein Rückversicherungsweiser war, erklärt unser Kolumnist und Swiss Re-Deutschlandchef in der Montagskolumne.

Das nächste Spiel ist immer das schwerste! Diese, den meisten Fußballfreunden wohl vertraute Erkenntnis, stammt vom früheren deutschen Fußball Bundestrainer Sepp Herberger, der dies seinen Spielern kurz nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in einem Brief vom 20. August 1954 mit auf den Weg gab. In Analogie hierzu gilt die jeweils nächste Erneuerungsrunde in unserem Team stets als „die schwierigste Erneuerungsrunde aller Zeiten“ – selbstverständlich auch im Herbst 2021!

Von den traditionellen zwei großen Branchentreffs in Europa liegt das virtuelle Monte Carlo bereits hinter uns, zum zweiten trifft sich ein Teil der Versicherer und Rückversicherer physisch in Baden-Baden. Diejenigen, die auf den Trip in den Schwarzwald auch in diesem Jahr verzichten, behelfen sich mit einzelnen Reisen und individuellen Besuchen zum Meinungsaustausch. Übrigens, ob Monte Carlo noch eine Zukunft als Standort für das bekannte „Rendez-vous de Septembre“ hat, ist aktuell eher zu bezweifeln, trotz aller Historie seit 1957.

Die maßgeblichen Spieler der Branche befinden sich also bereits auf dem Spielfeld. Die Natur und der Klimawandel haben in diesem Jahr gerade in Deutschland den Anstoß der Partie allerdings bereits in den Juni vorverlegt, und die Branche mit Sturm- und Hagelschäden belastet. Im folgenden Monat wurde dann der Leidensdruck noch erhöht, die – mit vielem menschlichen Leid einhergehenden – Starkregen und Überschwemmungen haben der deutschen Versicherungswirtschaft das schadenträchtigste Jahr aller Zeiten beschert. Auch die Rubrik „Industrie-Feuerschäden“ hat mit zwei jeweils über 200 Mio. € eingeschätzten Schäden für den Gesamtmarkt die Ergebnisse 2021 getroffen.

Nachdem von den genannten Schäden ca. zwei Drittel vom Rückversicherungsmarkt übernommen werden, befindet sich das Team Rückversicherung in der Defensive und wird im Hinblick auf die Erneuerungsrunde wohl zur Aufholjagd blasen. Dass mit dem Retrozessionsmarkt – der wiederum einen Teil der Schäden einzelner Rückversicherer übernimmt – ein weiterer Spieler mit substanziellen Preiserhöhungen mitmischt – dürfte die Rückversicherungseinkäufer diesmal noch zusätzlich unter Druck setzen.

Die deutschen Versicherer diskutieren gerade viel Grundsätzliches: Wie geht es weiter mit der Pandemie? Pflichtversicherung für Flut – ja oder nein? Eigentlich will die Branche sie nicht wirklich, zu groß ist die Sorge um die Einmischung des Staates. Man verweist besorgt auf mögliche nachlassende Präventionsmaßnahmen und befürchtet eine staatlich verordnete Festprämie. Das Schlagwort von der „risikogerechten Prämienkalkulation“ ist in die Mittelstürmerposition gebracht worden – wird sie auch scoren? Wie schön wäre es, wenn die Rückversicherungseinkäufer im Spiel mit ihren Rückversicherern auch einmal die Notwendigkeit risikogerechter RV-Prämien einräumen würden. Aber hierzu haben die Einkäufer seit vielen Jahren eine Mauer nach bester Schule des alten italienischen Catenaccio (italienische Verteidigungstaktik) aufgebaut. Die negative Ergebnislage deutscher Rückversicherungsverträge in 2020 (Betriebsschließung) und 2021 (Naturgefahren, Feuer) verleiht den angreifenden Rückversicherern sicherlich „Schusskraft“ à la Lewandowski.

Ein noch junger Akteur auf dem Spielfeld ist „Cyber“. Allerorten werden diesem enorme Wachstumschancen und eine große Zukunft prophezeit. Allerdings mehren sich auch hier die dunklen Wolken am Horizont: Wie umgehen mit „Cyber War“, mit terroristischen Angriffen auf die IT-Infrastruktur ganzer Volkswirtschaften? Ähnlich der Pandemie würde in einem derartigen Schreckensszenario die Diversifikation nicht greifen: Der Schaden könnte schließlich weltweit und zur gleichen Zeit eintreten. Wie lassen sich hier Kumulierungen ermitteln und kontrollieren? Hinzu kommt, dass viele bestehende Sach-, aber auch Haftpflichtpolicen schon länger bestimmte Deckungselemente des Cyber-Risikos enthalten, oftmals nicht sonderlich transparent, selten quantifiziert. Der Umgang mit diesem sogenannten „Silent Cyber“-Exposure ist eines der wichtigen Themen dieser Erneuerungsrunde. Ob und inwieweit hierfür Deckung von den jeweiligen Rückversicherungsmärkten zu bekommen ist, wird sich in den kommenden Wochen – um im Fußballjargon zu bleiben, erst in der zweiten Halbzeit – entscheiden.

Sie haben bislang das Thema „Nachhaltigkeit“ vermisst? Keine Sorge, es nimmt natürlich auch in der Erneuerung eine zentrale Position ein. Gerade der Klimawandel mit seinen Auswirkungen auf Frequenz und Ausmaß bestimmter Naturkatastrophen (insbesondere Dürre, Flut, Starkregen, Wald- und Flächenbrände) stellt die Branche vor die Herausforderung, sich an die sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen, Naturgefahrenmodellierungen neu zu bewerten und zu aktualisieren. Es ist davon auszugehen, dass eine Reihe von Versicherern für 2022 mehr Rückversicherungskapazität kaufen will als bislang. Der Rückversicherungsmarkt steht hierfür bereit.

Selbstverständlich gibt es noch eine Vielzahl anderer spezifischer Diskussionspunkte in den bilateralen Gesprächen. Ein guter Rückversicherer zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er pauschale Forderungen an seine Klientel stellt, sondern individuell Portefeuilles mit ihren enthaltenen Risiken bewertet.

Die unterschiedliche Sicht von Rückversicherungseinkäufer und Rückversicherer auf die Ergebnisse derartiger Analysen, verschiedene Auffassungen zur risikogerechten Prämie und zum Deckungsumfang des jeweiligen Vertrages gehören zum jährlichen Ritus der Erneuerungsrunde. Es wird auch diesmal nicht leicht sein, stets schnell einen Konsens zu finden. Deshalb wird es wohl auch diesmal die schwierigste Erneuerungsrunde aller Zeiten.

Zur Person: Frank Reichelt ist Managing Director beim Rückversicherer Swiss Re und unter anderem Hauptbevollmächtigter der Niederlassung in Deutschland.

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