„Lauf, Forrest lauf!“: Debeka-Vorständin Biederbick über moderne Hilfsmittel und die Grenzen der Solidargemeinschaft
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Annabritta Biederbick, Mitglied der Vorstände der Debeka. Quelle: Debeka - von der Reaktion bearbeitet

Gelegentlich müssen wir uns klarmachen, dass die realen Grenzen in der (Medizin-)Technik weiter liegen als wir vermuten. Doch nicht alles, was möglich ist, kann in der Breite finanziert werden, weiß Debeka-Vorständin Annabritta Biederbick. Sie stellt in ihrer Kolumne unbequeme und absolut nötige Fragen hinsichtlich Moral, Kosten und Grenzen der Solidar­gemeinschaft.

Kennen Sie den Film Forrest Gump? Tom Hanks spielt darin einen amerikanischen Antihelden, in dessen Leben beiläufig die Wendepunkte einer ganzen Generation aufblitzen. Kurz vor der Einschulung wird bei Forrest ein Intelligenzquotient von gera­de mal 75 festgestellt. Bedenklich niedrig, doch außerdem muss er wegen eines Wirbelsäulenleidens auch noch Beinschienen tragen. Dies macht ihn zum leichten Opfer der Hänseleien seiner Altersgenossen. Als es ernst wird und Forrest von bösen Jungs gejagt wird, ruft seine Freundin ihm „Lauf, Forrest lauf!“ zu. In Panik und ohne nachzudenken beginnt er tatsächlich zu laufen – und es gelingt. In Zeitlupe sehen wir, wie sich die Beinschienen von seinem Körper lösen und in Einzelteilen davon­fliegen. Forrest, trotz Gehbehinderung, rennt seinen Verfolgern einfach davon. Wie im Märchen, denkt die geneigte Zuschauerin.

Forrest Gump müsste man sein – das mag sich Johannes Floors aus Leverkusen gedacht haben. Er wurde Wikipedia zufolge mit einem Fibula-Gendefekt geboren: seine Füße waren deformiert, die Wadenbeine zu kurz. Ständig litt er unter Schmerzen. Mit 16 beschloss er, sich die Unterschenkel amputieren zu lassen; dies sollte sich als „die beste Entscheidung seines Lebens“ erweisen. Er erlernte den Beruf des Orthopädietechnik-Mechanikers und fing an, Maschinenbau zu studieren.

Dieser Johannes Floors läuft dann am 3. September 2021 bei den Paralympics in Tokio das 400-Meter-Rennen in sensationellen 45,85 Sekunden, nur knapp über dem geltenden Weltrekord, der zuvor von ihm selbst gesetzt wurde. Er ist bereits Europa­meister und Weltmeister; nun holt er paralympisches Gold. Damit löst Johannes Floors den „Blade Runner“ Oscar Pistorius ab und gilt fortan als weltweit schnellster Mann auf zwei Prothesen.

Forrest Gump und Johannes Floors, Fiktion und Realität: die passenden Hilfsmittel können ein Leben dramatisch verbessern. Deshalb werden Hilfsmittel und Prothesen in allen Bereichen der Medizin eingesetzt. Sofern eine medizinische Indikation vor­liegt, werden sie selbstverständlich – soweit medizinisch notwendig – von den privaten wie gesetzlichen Krankenkassen auch erstattet.

Nische? Von wegen

Der Begriff „Hilfsmittel“ ist genau definiert: Damit meinen wir medizinisch-technische Mittel, Körperersatzstücke und Geräte, die der Diagnostik oder Therapie des Patien­ten bzw. dessen Lebenserhaltung dienen. Sie mildern Behinderungen, Krankheits- oder Unfallfolgen und gleichen ihre Auswirkungen aus, so gut es geht.  Wir erstatten Aufwendungen in angemessener Höhe, wenn das Hilfsmittel medizinisch notwendig sowie wissenschaftlich allgemein anerkannt ist, also nicht „nur“ der allgemeinen Lebenshaltung dient.

Was schätzen Sie, wie hoch die Erstattung ausfällt? Bei der Debeka waren es im Jahr 2019 über 203 Mio. Euro – fast 10 Prozent mehr als im Jahr davor. Alle Privaten Krankenversicherer gaben dafür 1,6 Mrd. Euro aus, bei den GKV waren es neun Milliarden. Man sieht, es ist schon ein gewaltiger Posten, mit dem man sich beschäftigen muss.

Einzellösungen und Volumengeschäft

Forschung und Entwicklung ermöglichen heute durchaus spektakuläre Hilfsmittel; das sind dann natürlich nicht gerade Schnäppchen. So kann man dank eines Exoskeletts – sinngemäß ein Skelett außerhalb des eigenen Körpers – bei bestimmten Beinlähmun­gen dennoch eigen­ständig gehen. So eine Konstruktion nach Maß kostet dann schon mal 120–130.000 Euro. Hat der Patient schwerste motorische Beeinträchtigungen wie etwa ALS, ist sogar eine Steuerung allein durch Augenbewegungen möglich. Das Hilfsmittel kann dann in einem Fall ein Sprachprozessor sein, der „Sprechen“ simu­liert, obwohl die physischen Voraussetzungen gar nicht gegeben sind. In einem an­deren Fall ist es ein Roboterarm, mit dem Essbesteck und Geschirr verwendet werden können. Auch hier liegen die Kosten im Einzelfall rasch bei 100.000 Euro und mehr, schließlich muss die neu entwickelte Technik mitfinanziert werden.

Bei vielen anderen Geräten wie Brillen, Kontaktlinsen, Hörgeräten, Beatmungs- und Sauerstoffgeräten oder etwa Schlafapnoe-Therapiegeräten kommen wir schon mit Standardmodellen auf hohe Stückzahlen. Da lohnt es sich für eine Krankenversiche­rung, Kooperationen mit großen Anbietern einzugehen. Mit diesen werden rabattierte Preise und Pauschalen verhandelt, etwa wenn Hilfsmittel und Zubehör zu mieten sind. Solche Vereinbarungen haben mehrere Vorteile, denn über die besseren Preise hinaus sinken auch die Verwaltungskosten: Zubehör wird nicht mehr einzeln, sondern summarisch nach Stückzahl abgerechnet.

Win-Win auch für die Versicherten

Auch die Versicherten genießen Vorteile dank solcher Verträge, denn zu ihrer Unter­stützung vereinbaren wir mit den Kooperationspartnern eine ganze Palette an Dienst­leistungen. Diese können sein: die individuelle Anpassung und Erprobung der Mittel, Einweisung und Schulung in den sachgerechten Gebrauch der Hilfsmittel durch qualifiziertes Personal, ebenso die Montage, Wartung, Demontage, Einlagerung und sicherheitstechnische Kontrolle.

Der Ansatz, die Versicherten im direkten Kontakt mit den Lieferanten zu ermächtigen, ermöglicht dank moderner Technik, Digitalisierung und einer flexiblen Organisation eine Menge. Ein gutes Beispiel ist unsere Kooperation mit einem Online-Anbieter für orthopädische Schuheinlagen. Im ersten Schritt kann die Versicherte ihre Einlagen auf der Website selbst konfigurieren. Dann erhält sie per Post ein als Medizinprodukt zertifiziertes Abdruckset, mit dessen Hilfe sie ihre Fußabdrücke erstellen kann. Diese schickt sie an den Hersteller, bei dem erfahrene Orthopädieschuhmacher die maßgefertigten Einlagen herstellen. Das fertige Produkt wird wieder per Post zugestellt. Alles in allem ist es ein räumlich und zeitlich flexibler und effizienter Prozess ohne Bürokratie, Terminvereinbarung oder Wartezeiten. Eine zusätzliche Möglichkeit neben den Fachbetrieben vor Ort.

Wo sind die Grenzen?

Die Technik macht so vieles möglich. Gelegentlich müssen wir uns klarmachen, dass die realen Grenzen weiter liegen als wir vermuten. Nehmen wir das Thema 3-D-Druck. Bekanntlich kann man heute komplexe Gebrauchsgegenstände oder sogar komplette Häuser durch Druckverfahren herstellen. Aber wussten Sie, dass schon 2019 ein israelisches Forscherteam ein „bio-gedrucktes“, voll funktionsfähiges „menschliches“ Herz präsentieren konnte, das gerade mal die Größe einer Kirsche hatte? Das Organ verfügte über Zellen, Blutgefäße und Herzkammern. Es bestand aus einem soge­nannten Hydrogel, entwickelt aus dem – menschlichen – Fettgewebe des Patienten selbst, um das Risiko einer Abstoßung zu reduzieren. Der Druckvorgang dauerte gerade mal vier Stunden. Vergleichbare Ergebnisse gab es in den USA: eine Leber, ein Ohr, Hautteile, Eierstöcke, Bauchspeicheldrüsen – das alles wurde bereits erfolg­reich gedruckt.

Bevor wir uns aber endgültig in die schöne neue Frankenstein-Welt begeben, werden wir uns manche Grundsatzfragen stellen müssen. Wir als Versicherung, aber auch als Gesellschaft, als individuell Versicherte und als Steuerzahler. Wenn so vieles machbar ist, zu welchem Preis auch immer: Wann genau setzt die Pflicht der Solidar­gemeinschaft ein, die Kosten zu übernehmen? Und wo genau endet die moralische Pflicht der Versicherten, auf einen halbwegs gesunden eigenen Lebenswandel zu achten? Ist die druckbare, implantierbare Leber der gefällige Ausweg für den Alkoho­liker, dem sonst nur der anstrengende Weg in die Therapie bliebe? Muss es für jeden das Exoskelett für 120.000 Euro sein oder ist auch ein einfaches Modell als Basis angemessen, bei individueller Zuzahlung für mehr Komfort? Unbequeme Fragen. Wenn aber die Grenzen des Machbaren immer weiter rücken, dann werden wir nicht umhinkommen, sie eines Tages ehrlich zu beantworten.

Zur Autorin: Annabritta Biederbick ist Mitglied der Vorstände der Debeka. Sie ist u.a. zuständig für Krankenversicherung, Risikomanagement und Compliance. Sie besitzt jahrzehntelange Erfahrung in der Branche und schreibt für VWheute Themen, die ihr wichtig sind.

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