Montagskolumne mit Debeka-Vorständin Annabritta Biederbick: Politikversagen in der Pflege?
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Annabritta Biederbick, Mitglied der Vorstände der Debeka. Quelle: Debeka - von der Reaktion bearbeitet

Hat der Staat bei der Pflege versagt und was bedeutet das für die kommende Wahl? Debeka-Vorständin Annabritta Biederbick schreibt in der Montagskolumne über die „Pflicht zum Ungehorsam“.

„Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit.“

Henry David Thoreau

Es kann so schnell gehen, und es kann jeden treffen. Die Motorradfahrerin, die übersehen wird, man nimmt ihr die Vorfahrt: Sturz, Hirnschaden, Atmung schwer beeinträchtigt. Der Mann, Ende achtzig, bereits dement im fortgeschrittenen Stadium, erleidet einen Schlagan­fall. Das Frühgeborene, dessen Atem- und Herz-Kreislaufsystem noch nicht ausgereift ist. Der Segler, der nach einem schweren Segelunfall zu lange unter Wasser war und ein Atemtrauma erleidet. Sosehr diese tragischen Fälle auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben: Sie alle ziehen eine sogenannte außerklinische Intensivpflege nach sich.

Etwa 20.000 Menschen sind in unserem Land auf diese besonders intensive Form der Be­treuung und Überwachung angewiesen. Und ihre Zahl wächst kontinuierlich. Denn je älter wir im Schnitt werden, desto länger wird auch jene letzte Lebensphase, in der wir auf Pflege – und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Intensivpflege – angewiesen sind. Galt dies bis vor kurzem noch im Schnitt für die letzten beiden Lebensjahre, werden wir bald von drei bis vier Jahren und mehr ausgehen müssen. Neben der demografischen Entwicklung spielt auch der medizinische Fortschritt eine bedeutende Rolle. Denn wir können bei vielen Krebsarten, Parkinson, Multipler Sklerose sowie schweren Nerven- und Lungenkrankheiten zwar das Leben verlängern, nicht aber die Krankheit heilen. Die gewonnene Lebenszeit setzt intensive Pflege voraus.

Enormer Aufwand in jedem Einzelfall

Außerklinische Intensivpflege – für alle Betroffenen und ihre Angehörigen ist das ohnehin eine immense seelische und meist auch körperliche Belastung. Häufig von einem Tag auf den anderen werden sie aus ihrer gewohnten, vertrauten Umgebung gerissen, so vieles wird anders und fremdbestimmt, bei ungewissem Ausgang. Sie benötigen von Anfang an Unter­stützung und Entlastung, deren Kosten wiederum die Krankenversicherung zu tragen hat. Und die sind erheblich: monatlich 20.000 Euro und im Einzelfall auch deutlich mehr.

Das Versicherungsunternehmen hat an diesem Punkt eine Doppelaufgabe: Sicherzustellen, dass die Patienten optimal versorgt werden, ohne dass die Kosten aus dem Ruder laufen. Um­gesetzt wird dies in Form des Case Managements: Qualifizierte Mitarbeiter betrachten und bewerten jeden Fall einzeln: Befindet sich der Versicherte am richtigen Ort, im richtigen Krankenhaus, beim richtigen Spezialisten, in der passenden Reha? Sind die Angehörigen gut eingebunden? Wird der Antrag zügig bearbeitet? Ist die Versorgung sichergestellt? Was kann noch verhandelt werden?

Um all das zu gewährleisten, haben wir bei der Debeka die Zuständigkeiten rund um die außerklinische Intensivpflege in einer Hand zentralisiert und bieten zusätzlich eine Fallbe­ratung durch Case Manager an. Das ist ein erheblicher interner Aufwand, den wir aber gerne leisten, denn an diesem Punkt ist die Qualität der Betreuung für unsere Mitglieder entschei­dend. Hier kommt es zum Schwur. Hier können wir beweisen, ob wir wirklich für sie da sind, wenn sie uns am meisten brauchen – wie auch im folgenden Fall.

Wenn das Krankenhaus aus der Not agiert

Frühjahr 2020: Die Ehefrau eines unserer Mitglieder beantragt für ihren Mann außerklinische Intensivpflege 24 Stunden am Tag. Vorgesehen ist die Versorgung in der Wohngemeinschaft eines Pflegedienstes für außerklinische Intensivpflege. Eine erste Prüfung führt zu offenen Fragen: Ist die außerklinische Intensivpflege wirklich der einzige Weg? Gibt es keine Alter­nativen? Wir sprechen mit der Ehefrau und schalten dann unser Case Management ein.

Unsere Mitarbeiter finden bald heraus, dass die außerklinische Intensivpflege verordnet wurde, weil das behandelnde Krankenhaus keine alternative Versorgungsmöglichkeit sah. Das Mitglied lag im Wachkoma und die Behandlung war sehr speziell, sodass die bekannten stationären Pflegeeinrichtungen der Region sie nicht hätten leisten können. Daraufhin ermit­telt unser Case Management den tatsächlichen, effektiven Versorgungsbedarf. Anschlie­ßend finden wir einen wohnortnahen ambulanten Pflegedienst, der die Versorgung in einer Wohn­gemeinschaft für Wachkomapatienten leisten konnte.

Die neue Lösung ist nun für alle Beteiligten besser: Unser Mitglied wird in einer ange­neh­meren, privateren Umgebung mit vergleichbaren Patienten untergebracht und ist optimal ver­sorgt. Die Besuchswege für seine Angehörigen verkürzen sich. Der medizinisch nicht ge­rechtfertigte Auf­wand für eine Intensivbetreuung kann vermieden werden, somit sinken die Behand­lungskosten gegenüber dem ersten Ansatz um beachtliche 58 Prozent. Ein Win-Win in jeder Hinsicht.

Und dann noch die Politik

So sehr es sich anbietet, hier über die weiteren Vorzüge des Case Managements zu schrei­ben, müssen wir beim Thema Kosten bleiben. Wenige Wochen vor der nächsten Bundes­tagswahl sollten wir uns verdeutlichen, wie der Gesetzgeber in letzter Zeit agiert hat und was von ihm für die kommende Legislaturperiode zu erwarten ist. Dies ist der Rahmen, in den unsere gesamte Leistungserbringung einzuordnen ist.

Krankenhausstrukturgesetz, Hospiz- und Palliativgesetz, Terminservice- und Versorgungs­gesetz: Wir sehen mit zunehmender Sorge, dass der Gesetzgeber die Leistungen in den letzten zehn Jahren immer mehr ausgeweitet hat, ohne die entsprechende Finanzierung sicher­zustellen. Vor dem Ende der Legislaturperiode verabschiedete der Bundestag im Juni dieses Jahres hastig die „Pflegereform 2021“. Auch darin fehlt eine nachhaltige Finanzierung. Wohin dieser Kurs führt, sieht man heute schon in der Rentenversicherung. Da es bei der Stärkung der betrieblichen und privaten Altersversorgung kaum Fortschritte gibt, muss der Rententopf mit mittlerweile über 100 Milliarden Euro aus Steuermitteln gestützt werden.

Die Demografie verheißt wenig Gutes. Die Generation der Babyboomer steht heute noch im Erwerbsleben und zahlt kräftig Beiträge. Noch. Denn bereits ab 2025 wird sie nach und nach in Rente gehen, während am anderen Ende der Verteilung nur halb so viele junge Beitragszahler nachrücken, mit deutlich geringeren Beiträgen. Wenig zu hoffen gibt es in der Politik, wenn wir die Politikerinnen und Politiker größerer Parteien beim Wort nehmen, so­fern sie sich zur zukünftigen Finanzierung des Gesundheitswesens äußern. Als Beispiel nenne ich nur den 2015 gegründeten „Pflegevorsorgefonds“ in der Sozialen Pflegeversiche­rung – eine sinnvolle, wenn auch bei Weitem nicht ausreichende Maßnahme. Obwohl der Fonds als Sondervermögen zur Sicherung der Beitragssatz-Stabilität gesetzlich geschützt ist, gibt es schon Absichtserklärungen, ihn nach der Wahl aufzulösen, „um das Geld unverzüglich zu nutzen“. Ob die heute junge Generation auch in vielen Jahren im Fall der Fälle eine angemessene Versorgung in Form der außerklinischen Intensivpflege vom Krankenversicherungssystem erhalten wird, steht doch in den Sternen, wenn wir schon heute alles ausgeben und den Blick in die weitere Zukunft gar richten.

Die Möglichkeiten einer Privaten Krankenversicherung, selbst der Marktführerin, sind be­grenzt. Jeder Versicherte sorgt mit seinem Vertrag dafür vor, dass er auch im Alter die Versicherungsleistungen erhält, die er benötigt. Angesichts der erdrückenden Faktenlage im gesamten Gesundheitssystem sehen wir uns gezwungen, auf die gewalti­gen Probleme hinzuweisen, die auf die gesetzlichen Sicherungssysteme zukommen. In un­serem Tagesgeschäft hingegen können wir am meisten bewegen, indem wir unseren Mitglie­dern die bestmögliche Leistung so kosteneffizient wie möglich zukommen lassen. Das Case Management in der außerklinischen Intensivpflege ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Für die junge Generation wünschen wir uns Gesetze, vor denen wir wieder Respekt haben können und die gerecht für jede Generation sind.

*Henry David Thoreau, Buch „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat.“ engl.: „It is not desirable to cultivate a respect for the law, so much as for the right.“

Zur Autorin: Annabritta Biederbick ist Mitglied der Vorstände der Debeka. Sie ist u.a. zuständig für Krankenversicherung, Risikomanagement und Compliance. Sie besitzt jahrzehntelange Erfahrung in der Branche und schreibt für VWheute Themen, die ihr wichtig sind.

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