Montagskolumne mit Annabritta Biederbick: „Patientenakte. Es wird Zeit“
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Annabritta Biederbick, Mitglied der Vorstände der Debeka. Quelle: Debeka - von der Reaktion bearbeitet

„Ich hoffe, ihr führt euren hitzigen Diskurs im Dienst des wissenschaftlichen Fortschritts!“ Der Gelehrte Ibn Sina tadelt mit diesen Worten seine Studenten, die gerade über Standesdünkel streiten. Die Handlung spielt im 11. Jahrhundert und die Rede ist vom Film Der Medicus, nach dem gleichnamigen Roman von Noah Gordon. Der Hauptdarsteller macht sich auf die lange Reise von England in den Orient, um diesen Rückstand aufzu­holen. Ganz so weit müssen wir heute nicht reisen, obwohl an anderer Stelle eine Menge aufzuholen ist: in der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland.

Der Grundgedanke ist bestechend einfach: Wäre es nicht wunderbar, wenn alle Akteure des Gesundheitswesens ihre Daten austauschen könnten, und zwar sicher, sektor­übergreifend und Systemgrenzen überwindend? Würde dann nicht vieles schneller und besser gelingen – Diagnostik, Abrechnung, Zugriff auf die komplette Historie? Und wäre es nicht noch besser, wenn allein die Versicherten entscheiden können, wo ihre Daten gespeichert werden und wer auf sie zugreifen darf?

Schließen wir kurz die Augen: Einen Arztbrief von A zu B übermitteln? Tastendruck – erledigt. Ein Notfall, die Notärztin muss lebenswichtige Informationen über Allergien und Unverträglichkeiten binnen Sekunden haben? Einmal aufs Display getippt, alles da. Der Facharzt will schnell eine Wechselwirkungsprüfung von Medikamenten ab­fragen? Geschieht im Hintergrund, noch während des Beratungsgesprächs. Patientin ist gerade umgezogen, der neue Arzt soll die gesammelten Befunde, Verordnungen und Rezepte erhalten, papierlos natürlich? Schon geschehen. Und so weiter.

Dass das nicht gerade ein Spaziergang wird, ahnt man schon bei der Aufzählung der Akteure: Krankenhäuser, Arzt- und Zahnarztpraxen, Apotheken, Leistungserbringer und Kostenträger wie Krankenkassen und -versicherungen sollen miteinander ver­netzt werden. Tausend Systeme, noch mehr Datenformate; selbst EDV-Laien schwant, was das bedeutet. Ermöglichen soll es die sogenannte „Telematik-Infra­struktur“ kurz „TI“ (Telekommunikation plus Informatik).

Seit, nun ja, 16 Jahren wird bereits an der Umsetzung gearbeitet. Seit 2005 gibt es die dafür gegründete gematik GmbH, an der das Bundesministerium für Gesundheit seit 2019 die Mehrheit hält; die übrigen Anteilseigner sind wesentliche Akteure des Gesundheitswesens. Der Verband der Privaten Krankenversicherungen (PKV), vor längerer Zeit ebenfalls Gesellschafter, ist seit April 2020 wieder dabei.

Bei IKEA ist es das Billy-Regal, beim iPhone SIRI: Jede Innovation hat ein Kern­ele­ment, das das Ganze symbolisiert. Bei der Telematik-Infrastruktur ist es die Elek­tro­nische Patientenakte, kurz ePA. Hier laufen alle relevanten Informationen zusam­men, hier können sie empfangen oder geteilt werden. Die ePA ist ein standardisiertes Datenobjekt, eine Art digitaler Ordner für alle Daten rund um die Gesundheit. Entsprechend sind im System sämtliche Schnittstellen und Datenleitungen so ausgelegt, dass der Austausch mit den ePA reibungslos funktioniert.

In der ePA können Arztbefunde, Medikationspläne oder Notfalldaten gespeichert werden. Bald soll es auch möglich sein, den Impfausweis, Mutterpass und das Untersuchungsheft für Kinder digital über die ePA abzurufen. Einen Anspruch auf die Nutzung der elektronischen Patientenakte (ePA) haben gesetzlich Versicherte seit dem 1. Januar 2021. Für die PKV wird die Einführung ab 2022 stattfinden.

GKV-Versicherte haben einen gesetzlichen Anspruch auf die Nutzung der TI. Leis­tungs­erbringer sind verpflichtet, die Patienten bei der Nutzung zu unterstützen, wenn diese es wünschen. Leider gibt es die gleichen Rechte und Pflichten nicht für Pri­vatversicherte, ebenso wenig wie eine gesetzliche Verpflichtung der Leistungs­er­bringer, die Anwendungen nach Wünschen der privat versicherten Patienten zu nutzen. Das ist fatal, denn erfahrungsgemäß sind digitale Anwendungen nur dann erfolgreich, wenn sie Anwendern einen handfesten Nutzen bieten. Anders ausgedrückt: Gerade Privatversicherte bieten sich für einen echten Praxistest der TI an. Doch dafür muss der Nutzen der Anwendung durch die gesetzlichen Anforde­rungen erst sichergestellt werden.

Zurzeit ist der sichere Zugang zur ePA ausschließlich mit der elektronischen Gesund­heitskarte (eGK) möglich. Die eGK ist eine Art Scheckkarte mit Chip, auf dem die Daten sicher gespeichert werden. Freilich ist die Karte nicht zwingend erforderlich. Unsere Mitglieder werden ebenfalls eine ePA erhalten, jedoch bevorzugt über eine bereits bestehende Anwendung, wie unsere bereits genutzte Plattform „Meine Gesund­heit“, die wir gemein­sam mit Axa, Huk und Versicherungskammer betreiben. Denn dann würden die dort wichtigen Anwendungen für Privatversicherte – wie zum Beispiel das Rechnungsmanagement – und die ePA auf einer Plattform abgebildet.

Es ist schon eigenartig, wie lange manche Innovationen brauchen. Fintech-Nerds wissen, dass der allererste Einsatz einer Kreditkarte im Jahr 1950 erfolgt ist, an ei­nem Abend, der als „the first dinner“, „das erste Abendessen“, in die Annalen ein­ge­gangen ist. „Das erste“ im doppelten Sinne, da zum ersten Mal am Ort einer Leis­tungserbringung – im Restaurant – ein Zahlungsmittel akzeptiert wurde, mit dem zum ersten Mal beim Kreditinstitut eine Zahlung ausgelöst wurde.

Da ist es schon seltsam, dass wir fast drei Generationen später immer noch mit Karten hantieren, die nur gelegentlich kontaktlos funktionieren. So wie auch 16 Jahre seit der Gründung der gematik vergehen mussten … Ob in all den Jahren immer der Mensch im Mittelpunkt stand? Die Qualität der Lösung, der unbedingte Wille zur Innovation? Es braucht mehr Ibn Sinas in unserer Welt.

Wir arbeiten daran.

Zur Autorin: Annabritta Biederbick ist Mitglied der Vorstände der Debeka. Sie ist u.a. zuständig für Krankenversicherung, Risikomanagement und Compliance. Sie besitzt jahrzehntelange Erfahrung in der Branche und schreibt für VWheute Themen, die ihr wichtig sind.

Ein Kommentar

  • In der Tat kann sich der PKV-Versicherte bei jedem Leistungsantrag dann entscheiden, ob er seiner PKV den vollen von ihr zur Bearbeitung verlangten Zugang zur elektronischen Patientenakte erlaubt. Oder auf die weitere Bearbeitung seines Leistungsantrags verzichtet, weil er mit seiner Weigerung eine Obliegenheit verletzt hat.

    Die Leistungsbearbeitung in die PKV wird dann jedenfalls einfacher und schneller – auch gut begründete Ablehnungen und Kürzungen. Ebenso die Risikoprüfung etwa zur Ermittlung von Zuschlägen und Auschlüssen beim Tarifwechsel.

    Google, Facebook und andere Umsonst-Anbieter werben ebenso mit den enormen Vorteilen, die ihre Dienstleistung bietet, wie „Wir für Gesundheit“. Doch wer nicht allzu einfältig ist, merkt, dass vor allem auch der Anbieter den Vorteil aus seiner Datensammlung hat. Der Nutzer ahnt oft nicht einmal, was mit seinen dem Anbieter billig verkauften Daten gemacht wird. Diejenigen, die darüber nachgedacht haben, nutzen Facebook indes gar nicht, und das Internet samt Google über einen anonymen Zugang.

    Und sie zahlen nicht etwa nur gelegentlich mit der Kreditkarte kontaktlos, sondern gar nicht, weil sie bar zahlen, und auf die Frage an der Kasse nach der Paybackkarte mit dem Kopf schütteln.

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