„Die Branche ist hochgradig sexistisch“: VersicherungswirtschaftCLUB übt harsche Kritik am Umgang mit Frauen und fordert Umdenken in Sachen Karrieren
Studium, Vorstandsassistent und dann CEO? Von einem durchgetakteten Fast-Track-Programm in der Assekuranz halten die Teilnehmer des VersicherungswirtschaftCLUB wenig. Vor allem aber bei den Themen Frauen, Image und dem Zeitalter des Homeoffice wurde deutlich, dass die Versicherer eine Menge Arbeit vor sich haben. Tobias Vögele (Signal Iduna), Lena Lindemann (Ergo), Marco Adelt (Clark) und Katharina Höhn (BWV) legten den Finger in die Wunde – und lieferten Verbesserungsvorschläge gleich mit.
„Ich hatte als Vorstandsassistent begonnen und dachte danach, dass ich zum CEO ernannt werde“, gestand Vertriebsvorstand der gastgebenden BGV Badische Versicherungen, Moritz Finkelnburg, in seiner Eröffnungsrede. „Mit diesen vollkommen falschen Illusionen muss ein Personalvorstand umgehen können.“ Und nicht nur diesen. Welche Qualitäten muss ein Bewerber mitbringen, wo und über welche Kanäle spreche in geeignete Kandidaten und sind Versicherer als Arbeitgeber überhaupt attraktiv genug – auch im Vergleich zu den modern wirkenden Insurtechs? Der Startschuss für die Diskussion im Talkformat VersicherungswirtschaftClub war gefallen.
Ohne Fachlichkeit geht es nicht, aber das setzten die Teilnehmer der Talkrunde voraus, wenn es darum geht, ganz nach oben in der Assekuranz zu schaffen. Für den Personalchef der Signal Iduna, Tobias Vögele, ist es wichtig, dass der Manager Spaß an seiner Arbeit hat und „Interesse zeigt“, an den Dingen, die um ihn herum passieren. Er müsse dann auch mal „fachfremd arbeiten“. Darüber hinaus sei eine gute Wertewelt relevant. Lena Lindemann würde nicht den Begriff „Interesse“ verwenden, sondern es „Leidenschaft“ nennen. Aber eigentlich tut sich die zukünftige Ergo-Vorständin auf Gruppenebene eher schwer mit dem richtigen Rezept für eine erfolgreiche Management-Karriere. „Wenn man ein Rezept hätte, dann birgt das die Gefahr, dass jeder Manager gleich ist und das brauchen wir nicht.“
Gefühlt gleich scheint jedoch, dass die Mehrheit im Vorstand aus dem Consulting kommt. Das verteidigte Lindemann, denn diese Ex-Berater haben „eine gute Analysefähigkeit und weisen eine hohe Resilienz auf“. Aber es komme auf die Mischung an. „Wir brauchen diverse Management-Teams mit unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen, genau das wird uns besser und erfolgreicher machen.“ Sie wies auch darauf hin, dass auch bei der Ergo Kollegen gebe, die es von der Ausbildung bis zum Vorstand geschafft haben.
Das gibt es nicht nur bei der Debeka, wo Thomas Brahm es im eigenen Haus bis zum CEO geschafft hat. Vögele machte deutlich, dass es bei einem Gegenseitigkeitsversicherer wie Signal Iduna eine ganze andere Kontinuität in den Gremien vorzufinden sei. Deshalb seien Hauskarrieren bei den Dortmundern bis an die Spitze gar nicht so ungewöhnlich. Förderlich sei hierbei natürlich ein gutes Ausbildungsprogramm und der Kontakt zur Führung. „In unterschiedlichen Formaten geht unsere Führung in den Dialog mit den Nachwuchskräften, es werden Diskussionen geführt, die viel offener sind als früher. Es ist viel weniger Distanz jetzt da.“
Auch das Insurtech Clark bildet seine Nachwuchskräfte selbst aus. Für eine Spitzenkarriere gab Gründer Marco Adelt den Rat, sehr achtsam und effizient mit der Zeit umzugehen. Das würden alle erfolgreichen Menschen so machen. Ihm ist aber auch bewusst, dass Auszubildende erst noch Zeit brauchen, herauszufinden, was die persönliche Leidenschaft sei. Eine Orientierungslosigkeit nach der Schule sei erstmal ganz normal. Das bestätigte auch BWV-Geschäftsführerin Katharina Höhn, die ihre Tochter zum Begriff „Karriere“ gefragt hat. „Karriere klingt nach einer steilen Treppe, das klingt altmodisch und junge Menschen möchten das nicht. Sie wissen nach der Schule überhaupt nicht was sie machen wollen – geschweige denn CEO werden.“ Sie wollen erstmal ihre Talente entdecken und in der Arbeitswelt Fuß fassen, gleichzeitig haben sie auch klare Vorstellung, was das Gehalt und eine gute Work-Life-Balance angeht, betonte Höhn. Marco Adelt hat indes Bauchschmerzen beim dem Begriff Work-Life-Balance. Man trenne hier Arbeit und das Leben, dabei gehöre die Arbeit zum Leben.
Fortschritte bei der Fehlerkultur, Stillstand beim Thema Sexismus
In diesem Zusammenhang waren sich alle Teilnehmer einig, dass sogenannte Fast-Track-Programme nicht sinnvoll seien. Ebenso deckten sich die Meinungen, dass es an einer offenen Fehlerkultur in der Branche mangelt, aber es auch Fortschritte gebe. „Wir werden heutzutage auf Fehler konditioniert, wir werden auch dahin gedrängt auf die Fehler zu schauen. Eine entsprechende Fehlerkultur sehe ich nicht, eher das Gegenteil. Das ist in der Start-up-Szene ein Stück weit anders, dort wird offen mit Fehlern umgegangen“, resümierte Adelt.
Tobias Vögele gab aber zu verstehen, dass man diesbezüglich zwischen Insurtechs und Versicherern unterscheiden müsse. „Wir sind Risikoträger und sind reguliert. Gewisse Dinge dürfen bei uns nicht passieren, wir verwalten das Vermögen unserer Mitglieder und unserer Versicherten.“ Dennoch gebe es bei der Signal Iduna Fortschritte in Richtung einer positiven Fehlerkultur. „Es gibt nicht die klassische Suche den Schuldigen. Wir setzen uns zusammen und fragen uns, was man besser machen kann. Das wird klar vom Vorstand kommuniziert und vorgelebt.“ Bei der Ergo spielt in diesem Zusammenhang auch der Transformationsprozess der letzten Jahre eine tragende Rolle. „Wir erleben mit Stolz, was wir in den letzten fünf Jahren geschafft haben und das wirkt sich positiv auf den Umgang mit Fehlern aus“, erklärte Lindemann.
Die promovierte Juristin ist einer der wenigen Frauen im Vorstand eines Versicherers. Warum das so ist? „Da gibt es viele Gründe. Einer davon ist, dass Role Models fehlen, die gesehen werden, und damit andere Frauen ermutigen, und es erlebbar machen, dass man es schaffen kann.“ Dabei betonte sie, dass viele qualifizierte Frauen in den Startlöchern stehen würden.
Vögele von der Signal Iduna ging einen Schritt auf die Metaebene: „Ich glaube, dass wir dieses Thema automatisch verändern können, wenn wir gesellschaftlich etwas verändern. Es gibt kaum Manager, die ihre Eltern pflegen oder andere soziale Aufgaben machen. Das sind prozentuell viel weniger als Frauen.“ Dabei könne man Frauen von Top-Karrieren gar nicht ausschließen, da man nicht genug geeignete männliche Kandidaten habe.“ Höhn entgegnet: „Ich würde den schwarzen Peter nicht in die Gesellschaft schieben, wir müssen uns den Schuh selber anziehen als Branche.“ Dennoch sieht sie gewisse Fortschritte, da man bereits ein gewisses Störgefühl entwickle, wenn im Vorstandsgremium gar keine Frau vertreten sei – früher war das noch anders.
Dass es einen Frauenmangel gibt, wird auch durch sexistische Aussagen befördert wie es zuletzt Aviva-Chefin Amanda Blanc widerfuhr, VWheute berichtete. Wie ist die Situation in Deutschland? Solche offensichtlichen Angriffe gebe es zwar nicht, aber der unterschwellige Sexismus ist für Marco Adelt ohnehin schlimmer. „Wenn man auf unsere Branche schaut, die ist hochgradig sexistisch. Auf der Maklermesse sehen wir das typische Bild: Sportwagen und Hostessen. Wenn man jungen Menschen, ob Mann oder Frau, heute den Auftrag gibt, eine Vertriebsmesse zu organisieren, dann würde diese ganz anders aussehen.“
Auch BWV-Geschäftsführerin Katharina Höhn sieht noch große Probleme vor allem im Vertrieb. Frauen meiden den Vertrieb nicht, weil sie nicht verkaufen können, sondern weil das Umfeld abschreckt. „Wenn man den Sportwagen als Incentive anbietet, dann hat man eben entsprechende Menschen da. Dabei würden Frauen dem Vertrieb sehr gut tun.“ Dem stimmte Lindemann zu: „Wir wollen Frauen nicht nur für den Vertrieb begeistern, sondern auch die Bedenken bezüglich des Umfelds überwinden.“
Talente durch besseres Arbeitgebermarketing anlocken
Ein wichtiger Bestandteil der Karriere ist Führung, diese hat sich in den letzten Jahren akut verändert. Marco Adelt kritisierte während seiner Laufbahn stets Führungskräfte, die sich nicht die Zeit nehmen, das gesamte Lagebild genau zu analysieren, um darauf aufbauend eine fundierte Entscheidung zu treffen. „Remote ist das noch viel schwieriger geworden.“ Tobias Vögele stellte fest, dass diejenigen Führungskräfte, die vor dem Pandemie gut waren, während der Pandemie über sich hinausgewachsen seien. Sie müssten aber stets den Kontakt zu ihren Mitarbeitern aufrecht erhalten. Er gibt zu, dass Remote-Arbeit technisch und organisatorisch gut funktioniere, aber nicht den persönlichen Kontakt ersetzen könne.
Die bislang unterschiedlichen Homeoffice-Regelungen in vielen Häusern sind für Vögele der Tatsache geschuldet, dass man eben noch in der Experimentierphase sei. „Ich glaube auf lange Sicht gleicht sich das an, weil uns die Bewerber selbst die Heimarbeit-Bedingungen vorgeben.“ Man müsse darauf eingehen, bevor man gute Talente verliere. Lindemann ist das bewusst, aber sie wehrt sich gegen diese Gleichmacherei. „Bewerber kommen zu uns wegen unserer Leute im Haus und die kann man halt nicht via Teams spüren und kennenlernen.“
Um die besten Talente zu akquirieren braucht man ein gutes Netzwerk. Darin waren sich die Gäste einig. Einige verlassen sich auf Empfehlungen, andere legen den Fokus auf Social Media und Karrieremessen. „Wir müssen erstmal herausfinden, auf welchen Plattformen diejenigen sind, die wir suchen und das zweite ist, wie wir sie ansprechen“, sagte Lindemann. Konsens gab es diesbezüglich, dass man sich besser vermarkten müsse und besser erklären müsse, warum es ohne Versicherung keinen Wohlstand und keine Gesundheit geben könne.
Warum sich nun ein Masterabsolvent gegen Google und für die Assekuranz entscheiden sollte? Dazu gab es unterschiedliche Ansätze. Vögele hob die spannenden Rahmenbedingungen hervor, für Lindemann könne man den Wandel besser gestalten als bei Google und Höhn verwies auf die „sinnvolle Arbeit“ in der Assekuranz. Adelts Empfehlung: „Tue, was dich glücklich macht.“
Autor: David Gorr
Als langjähriger Hauptbevollmächtigter in Deutschland tätiger Versicherer, der selbst zahlreiche Personalgespräche und -einstellungen durchgeführt hat, der zudem heute noch regelmäßig einem Personalberater hilft, Mitarbeiter für die Versicherungsindustrie zu finden, habe ich den Eindruck, das wirkliche Problem wird so gut wie nicht angesprochen. Ich beziehe mich dabei auf Gesprächsergebnisse aus meinem ganz privaten Familienumfeld, aus aktuellen Kandidatengesprächen bei der Personalsuche, aber auch aus meinem immer noch großen Bekanntenkreis auf der Entscheider-Ebene.
Im beschriebenen Forum sind sich alle Teilnehmer zurecht darüber einig, dass es zunehmend schwieriger wird, talentierte Nachwuchskräfte für unsere Industrie zu begeistern. Es ist aber nicht nur so, dass wir Probleme haben, Nachwuchskräfte zu finden, sondern es wandern auch zunehmend gute Leute in andere Branchen ab. Beides führt zu einem deutlich steigenden Trend, gute Kräfte von anderen Marktteilnehmern abzuwerben. Somit wird letzten Endes aus dem Miteinander in der Versicherungsindustrie deutlich zunehmend ein Gegeneinander.
Gute Leute zu finden und zu gewinnen ist also für die Zukunft unserer Versicherungswelt von ganz hoher Priorität. Diese Wichtigkeit spiegelt sich aber in meiner Beobachtung häufig nicht wider in der Besetzung der hierfür zuständigen HR-Abteilungen. Ich finde in etlichen Unternehmen junge, toll ausgebildete Sozialwissenschaftler oder Psychologen aller Geschlechter, die wichtige Entscheidungen im HR-Bereich treffen, aber oft überhaupt keine oder nur ganz wenig praktische Berufserfahrung in den Bereichen haben, für die sie Personal aussuchen sollen. Kandidaten erzählen mir häufig, dass sie in Erstgesprächen HR – Personen gegenübersitzen, die ganz offensichtlich im Studium erlernte Assessment- und Gesprächsmuster „durchziehen“, aber so gut wie keine Frage zu fachlichen Details stellen, vermutlich können sie das auch gar nicht. Auch persönliche Führungserfahrung und damit Menschenkenntnis fehlt häufig komplett. De facto fallen hier oft schon Kandidaten durch das Raster, ohne dass es überhaupt zu einem Interview mit jemandem aus dem Fachbereich kommt. „Schuld“ daran ist aber nicht das beschriebenen HR- Personal, man macht dort in der Regel einen guten und sicherlich hochmotivierten Job, sondern diejenigen im Management, die solchen für die Zukunft des Unternehmens lebenswichtigen Entscheidungen nicht mit entsprechenden Strukturen und Prozessänderungen begegnen. Es reicht also in meinen Augen bei weitem nicht aus, klingt sogar oberflächlich, was u.a. Frau Lindemann, Frau Höhn und Herr Vögele diskutieren, um die Assekuranz attraktiver für Talente zu machen, wenn die Kandidaten anschließend bei den Bewerbungsgesprächen in den Unternehmen nicht von Beginn an auf erfahrene Sparringspartner treffen, die auch inhaltlich so ins Detail gehen können, dass dem Kandidaten der Reiz und die Attraktivität unserer Industrie vermittelt wird.