Verabschieden sich die Lebensversicherer von ihrem USP?

Harut Movsisyan auf Pixabay
Ein Dreivierteljahrhundert, 75 Jahre, gibt es das Magazin Versicherungswirtschaft schon. Früher hätte man vielleicht gesagt, das sei ein Menschenleben. Heute hört man, man sei immer nur so alt, wie man sich fühlt. Die „VW“ gehört zu den jung Gebliebenen. Allein schon deshalb, weil sie wie in unserem Fall, Monat für Monat immer wieder neu entsteht. In diesem für uns speziellen Monat blicken führende Top-Manager auf Potenziale, Probleme und Veränderungsbedürfnisse der Branche. Heute im Blickpunkt: der Wettbewerb in der Lebensversicherung.
Angebote – neben der klassischen Lebensversicherung – für das Alter vorzusorgen, sind ebenso umfang- wie chancen- und vor allem risikoreich. Die erwähnenswertesten sind wohl Immobilien, festverzinsliche Wertpapiere, Aktien und ihre entsprechenden Fonds-Alternativen. Wie zielgenau diese „Lebensversicherungs-Alternativen“ zur sicheren und liquiden Altersversorgung führen, sei hier nicht weiter behandelt. Eines ist sicher: Insbesondere Arbeitnehmer müssen, um ihren Lebensstandard im Alter auch nur annähernd zu halten, zusätzlich privat vorsorgen. Die gesetzlichen Rentenansprüche reichen nicht aus. Der demografische Wandel und die steigende Lebenserwartung stellen die gesetzliche Rentenversicherung selbst vor große Herausforderungen. Durch die Globalisierung und Digitalisierung verstärkt sich der Gap zwischen der Entwicklung der weltweiten Vermögen und der Haushaltseinkommen der Arbeitnehmer. Dies marginalisiert gesamtwirtschaftlich langfristig zusätzlich den Rentenwert und damit die Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Versorgungslücken sind heute schon beträchtlich.
„Politischer Wille für konzeptionellen Neubeginn nicht zu erkennen“
Darüber hinaus steigen die Kosten im Alter dramatisch, denken wir dabei nur an die Entwicklungen im Pflegebereich. Die vielfältigen Vorschläge für die Gestaltung einer zukunftsfähigen gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen starken politischen Strömungen und stehen zum Teil diametral zueinander. Die Intentionen gehen von einer staatlichen Einheitsrente über die Einbeziehung weitergehender Personen- und Berufsgruppen bis zur vollständigen Umstellung auf eine kapitalgedeckte Altersversorgung.
Der politische Wille für einen konzeptionellen Neubeginn ist seit Jahrzehnten nicht zu erkennen. Es ist nicht abzustreiten, dass auch der Liebling der Deutschen in Sachen Altersvorsorge – die klassische Lebensversicherung – vor immensen Aufgaben steht. Die auf unabsehbare Zeit angeordnete Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank erschwert das Erzielen nachhaltig attraktiver Renditen und beeinträchtigt die Kapitalanlageerträge der Lebensversicherer dramatisch. Die Konsequenz: Der Höchstrechnungszins in der Lebensversicherung wird zum 1. Januar 2022 erneut abgesenkt – von 0,9 Prozent auf 0,25 Prozent.
Klassik wird weiterhin nachgefragt
Das extrem niedrige Zinsniveau erfordert neben einer angepassten Kapitalanlagestrategie umfangreiche Neukalkulationen der Produkte. Ein bloßer Austausch des Rechnungszinses ist nicht ausreichend. Die Solvenzberichte für 2020 nach Solvency II der Lebensversicherer liegen seit April 2021 vor. Trotz rückläufiger Solvenzquoten gegenüber dem Vorjahr liegen die Quoten im Marktschnitt einschließlich Volatilitätsanpassung und Übergangsmaßnahmen immerhin noch bei 385 Prozent. Ein Großteil der Branche kann die Mindestanforderung von 100 Prozent auch ohne Übergangsmaßnahmen darstellen. Auch die zunehmenden Aktivitäten von Zweitmarktspezialisten kann man als Hinweis auf die nachhaltige Qualität der bestehenden Lebensversicherungsverträge interpretieren.
Um den Herausforderungen zu begegnen, hat sich das Geschäft mit Lebensversicherungen schon jetzt grundlegend verändert. Von dem USP der deutschen Lebensversicherer, der 100-Prozent-Beitragsgarantie, haben sich bereits einige namhafte Versicherer verabschiedet. Die klassische Lebensversicherung als Garantieprodukt wird aber weiterhin nachgefragt. Bundesweit ist noch immer jeder Dritte bei einem Neuabschluss an einem solchen Produkt interessiert.
Man darf nicht vergessen, seit Jahrzehnten war es das herausragende Merkmal der Lebensversicherer, ihren Kunden nicht das vollständige Risiko der richtigen oder falschen Kapitalanlageentscheidung zu überlassen. Nur kurz zur Riester-Rente: Wird der Höchstrechnungszins abgesenkt und weiter an der 100-Prozent-Beitragsgarantie in der Riester-Rente festgehalten werden, bedeutet dies das Aus für die aktuelle staatlich geförderte private Altersvorsorge. Hintergrund dafür sind auch die durch den umfangreichen regulatorischen Aufwand bedingten Verwaltungskosten.
HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR DIE ZUKUNFT:
1. Kapitalmarktnahe Produkte: Das Geschäftsmodell sukzessive von klassischen auf kapitalmarktnahe Produkte umstellen – aber bitte behutsam und im Einklang mit den Kundeninteressen.
2. Kostenreduzierungen: Die Aufwendungen für den Versicherungsbetrieb weiter reduzieren. Die digitale Transformation steht dabei ganz oben auf der Agenda.
3. Solvenzstärke: Die Solvenzquote bei allen unternehmerischen Entscheidungen berücksichtigen. Das sollte jedoch nicht dazu führen, Kunden im Übermaß Eigenmittel vorzuenthalten.
ZUKUNFTSVISION 2030 – EINE FIKTION?
Ein „Digital Native“ ist online auf der Suche nach einem Altersvorsorge- Angebot. Seine Vorstellungen: Ein hybrides Produkt, welches interessante Renditeoptionen und gewünschte Garantien verbindet. Es sollte klar und verständlich, sicher und variabel, interaktionsfähig und täglich veränderbar, customized und transparent und in Kryptowährung zahlbar sein. Bei Problemen steht ein kompetenter Gesprächspartner – ein Avatar? – per Klick zur Verfügung.
Autor: Rainer M. Jacobus, Vorstandsvorsitzender Ideal Versicherungsgruppe
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