Regulierung, Reformstaus und der Evergreen Bürgerversicherung: Die politische Branchenagenda sechs Monate vor der Wahl

Kuppel des Reichstagsgebäude in Berlin: Der Zulauf für die AfD war zuletzt auch unter Versicherungsvermittlern deutlich zu spüren. Quelle: Steffen Wahl auf Pixabay.

In knapp sechs Monaten ist Bundestagswahl. Nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz wird sie wohl noch spannender als erwartet. Von der politischen Neuausrichtung in Berlin hängen für die deutsche Versicherungswirtschaft entscheidende Weichenstellungen ab, auch in Brüssel. Was nun auf dem Spiel steht. Eine Expertenanalyse von Michael Wolgast.

Hinweis in eigener Sache: Die nächste reguläre Ausgabe des Tagesreports erscheint wieder am kommenden Dienstag, dem 6. April 2021 – wie immer um 00.04 Uhr. In der Zwischenzeit versorgen wir Sie bei Bedarf mit unseren beliebten Sprint-Meldungen. Die Redaktion wünscht allen Leserinnen und Lesern schöne und erholsame Ostertage!

Für die deutschen Versicherer hängen von den Ergebnissen der Bundestagswahl entscheidende Weichenstellungen ab, und zwar nicht nur in Berlin, sondern auch in Brüssel. Längst werden natürlich auch für die Versicherungswirtschaft die rechtlichen Rahmenbedingungen zunehmend auf europäischer Ebene gesetzt, auch wenn vielleicht kaum ein anderer Teil der Finanzdienstleistungen in der EU noch so stark auch von nationalen Regeln geprägt ist wie die Versicherungswirtschaft. Für die Finanzmarktgesetzgebung in Brüssel bis 2024 – dem Ende der Amtszeit der EU-Kommission – kommt es jedoch entscheidend auf den Wahlausgang in Deutschland an.

Kampfplatz Europa

Gegenwärtig stehen in Europa eine ganze Reihe wichtiger Dossiers an, die die Zukunft der deutschen Versicherungswirtschaft entscheidend prägen werden, darunter

  • die Gesetzgebung zur Solvency II Review, die nunmehr für 2021/2022 erwartet wird, sich aber voraussichtlich noch länger hinziehen wird. Die Vermeidung überhöhter und übermäßig schwankender Kapitalanforderungen – Stichworte „Extrapolation der Zinskurve“ und „Volatility Adjustment“ –, der Abbau wirtschaftspolitisch falscher regulatorischer Hemmnisse für langfristige Anlagen, etwa in Aktien oder Immobilien, und der für kleine und mittlere Versicherer übermäßige Verwaltungsaufwand sind hier voraussichtlich heiße Eisen. Und auch weitere europäische Vorgaben im Versicherungsbereich in Anlehnung an die Bankenunion – in den Bereichen „Sanierung und Abwicklung“ und „Insurance Guarantee Schemes“ – sind noch nicht vom Tisch.
  • die Gesetzgebung zu Sustainable Finance. Hier geht es – im Zuge der Arbeiten an der Taxonomie – vor allem um die neuen Beratungs- und Berichtspflichten, aber auch um mögliche weitere Anforderungen an die Versicherungswirtschaft. Mit Spannung wird derzeit insofern die „Renewed Sustainable Finance Strategy“ der EU-Kommission erwartet. Bereits jetzt ist klar, das das Thema auch vor neuen aufsichtsrechtlichen Anforderungen nicht Halt machen wird, etwa im Risikomanagement, bei den Kapitalanforderungen, ggf. aber auch in der Tarifierungs- und Zeichnungspolitik.
  • die Umsetzung der „Digital Finance Strategy“ der EU-Kommission. Der Bereich „Digital Finance“ ist für die Versicherungswirtschaft von besonderer Relevanz, in der zunehmenden Digitalisierung und Fragmentierung der Wertschöpfungskette, vor allem aber auch in der Bewirtschaftung ihrer Daten. Im stärkeren Datentausch – Stichwort „Open Finance“ – liegen dabei Chance und Risiko dicht nebeneinander. Zum zukünftigen Ordnungsrahmen gehören hier auch neue Fragen der Aufsicht und Regulierung, nicht zuletzt auch zur Gewährleistung eines Level Playing Field gegenüber neuen Akteuren am Versicherungsmarkt.

Und auch über die Anpassungen bei Solvency II hinaus ist das Projekt der Europäischen Kapitalmarktunion (Capital Markets Union) für die Versicherer von Relevanz ein schwieriges Dossier, das allerdings – richtig  umgesetzt – erhebliche zusätzliche Möglichkeiten in der grenzüberschreitenden Kapitalanlage in der EU-27 mit sich bringen könnte.

Reformstau in der Altersvorsorgepolitik

Erst recht ist der Ausgang der Wahlen für die Branche auf nationaler Ebene von Bedeutung, vor allem in der Erstversicherung, und zwar nicht nur in den traditionell als „politisch“ geltenden Hauptsparten Leben und Kranken, sondern – vielleicht überraschenderweise – auch in der Schaden- und Unfallversicherung. In der (kapitalbildenden) Lebensversicherung werden wesentliche Rahmenbedingungen nach wie vor auf nationaler Ebene gesetzt, sei es in der Besteuerung und Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge, aber auch im Verbraucherschutz nach VAG und VVG, von der Regulierung von Überschussbeteiligung oder den Rückkaufswerten bis hin zu einem möglichen Provisionsdeckel oder der – immer noch umstrittenen – Zinszusatzreserve.

In kaum einem anderen Bereich ist der Reformstau so mit Händen zu greifen wie in der deutschen Altersvorsorgepolitik. Die 2001 und 2004 erreichten Verbesserungen in der Nachhaltigkeit des Umlagesystems der gesetzlichen Rentenversicherung wurden inzwischen zu einem großen Teil wieder zunichtegemacht. Die Riesterrente ist – zumindest gemessen an ihren Ansprüchen – gescheitert. Die Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung stagniert. Zu lange hat sich die Branche möglicherweise auf früheren vermeintlichen Lobby-Erfolgen ausgeruht und sich selbst dann noch gegen umfassende Reformen bei Riester und in der betrieblichen Altersversorgung ausgesprochen, als deren Bedarf längst offenkundig war.

Und aufseiten der Politik muss die vergangene Legislaturperiode als vertane Zeit gelten, sieht man einmal von dem – weitgehend folgenlosen – Gutachten der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ ab. Der im Koalitionsvertrag angekündigte Dialog mit der Versicherungswirtschaft mit dem Ziel eines „attraktiven und standardisierten“ Riesterproduktes blieb ohne Ergebnis. Umso größer ist hier jetzt der Handlungsdruck, aber auch der Handlungsspielraum für die Politik in der kommenden Legislaturperiode – mit hohem Einsatz für die Versicherungswirtschaft, die ihre zentrale Rolle in diesem Bereich verteidigen muss.

Evergreen Bürgerversicherung

In der Privaten Krankenversicherung (PKV) wird absehbar der Streit um die Einführung einer „Bürgerversicherung“ wieder aufleben – ein Evergreen in der sozialpolitischen Debatte in Deutschland. Tatsächlich ist vor allem das deutsche System der Beihilfe für die Beamten, verbunden mit einer quasi Pflichtmitgliedschaft in der Privaten Krankenversicherung, im internationalen Vergleich nahezu einzigartig. Auch hier kommt es darauf an, wer nach dem 26. September 2021 die politische Mehrheit in Deutschland bilden wird.

Die Schaden- und Unfallversicherung gilt anders als die beiden sozialpolitisch geprägten Hauptsparten oft als vergleichsweise unpolitisch – allerdings zu Unrecht. Die besondere wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Versicherungsschutzes auch im Komposit-Bereich hat so etwa zu einer Vielzahl gesetzlich normierter Pflichtversicherungen geführt, die immer wieder auch Gegenstand politischer Diskussionen sind. Umgekehrt prägen die Versicherer durch ihre Risikoforschung oder ihr Bemühen um Schadenverhütung die gesellschaftliche Diskussion um mögliche Risiken, etwa im Straßenverkehr oder bei der Absicherung von Wohngebäuden allgemein und insbesondere bei den Naturgefahren, also auch im Hinblick auf die Folgen des drohenden Klimawandels.

Aber auch die gesellschaftliche (Wunsch-)Vorstellung eines umfassenden Schutzes gegen etwaige Risiken auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber die Grenzen der privatwirtschaftlichen Versicherbarkeit führen immer wieder zu höchst politischen Diskussionen. Jüngstes Beispiel ist hier die Auseinandersetzung um Versicherungsschutz für Unternehmen gegen die finanziellen Folgen der Pandemie, etwa im Bereich der Betriebsunterbrechungsversicherung. Typischerweise kann in derartigen Situationen nur eine Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und privater Versicherungswirtschaft helfen, eine Public Private Partnership.

Ein Beispiel hierfür ist die nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 und einigen politischen Diskussionen seinerzeit gegründete Extremus Versicherungs-AG, die industrielle Terrorrisiken im Zusammenspiel zwischen privatem Versicherungsschutz und staatlichen Garantien absichert. Aber auch der in der Pandemie im April 2020 geschaffene „Schutzschirm“ für die Kreditversicherer ist in Wahrheit eine solche Partnerschaft, die es ermöglicht, auch in Zeiten stark erhöhter Risiken noch einen umfassenden Versicherungsschutz anzubieten.

Einmal mehr zeigt sich: Die Versicherungswirtschaft ist eine enorm „politische“ Branche – und die Bundestagswahl 2021 enorm wichtig für deutsche Versicherungswirtschaft.

Autor: Michael Wolgast, Partner bei Berlin Global Advisors

Die vollständige Expertenanalyse lesen Sie in der neuen April-Ausgabe der Versicherungswirtschaft.

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