Wie Versicherer die Chancen der Digitalisierung nutzen können

Bildquelle: Axa Deutschland

Die traditionelle Versicherungsbranche gilt – trotz der aktuellen Coronakrise – als wirtschaftlich stabil und erfolgsverwöhnt. Etablierte Player blicken auf eine zum Teil über 200-jährige Geschichte zurück. Da fällt es nicht leicht, bewährte Geschäfts- und Vertriebsmodelle, Kundenbeziehungen oder Prozesse umzuwerfen. Und doch führt kein Weg an der Digitalisierung vorbei. Eine Marktanalyse aus wissenschaftlicher Sicht.

Aktuelle Studien belegen, dass Versicherungsunternehmen viel Geld in digitale Technologien investieren, ohne damit bislang deutliche wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Laut einer aktuellen Studie der Beratung ZEB (2019) haben die Digitalisierungsinvestitionen bislang weder zu neuen Versicherungsprodukten noch zu grundlegenden Prozessinnovationen geführt.

In diesem Beitrag berichten wir über Ergebnisse einer mehrstufigen Studie, in der wir die Auswirkungen der Digitalisierung für große, bereits am Markt etablierte Versicherer untersucht haben. Da sich die Digitalisierungsforschung noch in einem frühen Stadium befindet und so belastbare Theorien fehlen, haben wir publizierte Fallstudien zur Digitalisierung verschiedener Unternehmen als Ausgangspunkt gewählt, um Hypothesen über potenzielle Implikationen für die Versicherungsbranche abzuleiten.

In diesem Beitrag wollen wir fünf Hypothesen näher vorstellen (nämlich H5, H6, H8, H11, H14), die aus unserer Sicht besonders interessante Diskussionen hervorgebracht haben, aus denen sich konkrete Handlungsmöglichkeiten für etablierte Versicherer ableiten lassen.

VON DER SCHADENSKOMPENSATION ZUR -PRÄVENTION”

Die Analyse der Industriefallstudien hat gezeigt, dass die Vermeidung von Ausfällen durch eine frühzeitige Erkennung von technischen Fehlern für viele Unternehmen eine attraktive Erweiterung ihres bestehenden Wertbeitrags darstellt. Entsprechende Geschäftsmodelle haben sich unter dem Begriff „Predictive Maintenance” etabliert: So sammelt der Aufzughersteller Schindler beispielsweise Echtzeitdaten zu Nutzung und Zustand seiner Aufzüge, um Wartungsarbeiten zu prognostizieren und Systemausfälle zu verhindern (Sebastian & Ross, 2016). General Electric hat ein ähnliches Konzept für Flugzeuge und Windkraftanlagen entwickelt (Sebastian et al., 2017) und Porsche kann über die Analyse von Motorengeräuschen technische Ausfälle seiner Autos frühzeitig erkennen (Auf der Mauer et al., 2018). Davon ausgehend, dass das eigentliche Bedürfnis der Versicherungsnehmer nicht die finanzielle Kompensation von Schäden, sondern Sicherheit und damit der Schutz vor Schäden ist, stellt die Prävention auch für Versicherer eine sinnvolle Ergänzung ihres Wertbeitrags dar. Wir haben deshalb folgende Hypothese aufgestellt: Der Wertbeitrag der Versicherer wird sich verschieben, weg von der reinen Schadenskompensation hin zur Schadensprävention.

Die Umsetzung umfassender Schutzmaßnahmen wird den Versicherern vor allem durch die zunehmende Verfügbarkeit von (Kunden-)Daten, unter anderem durch das sogenannt Internet of Things (IoT) sowie intelligente Analyseverfahren ermöglicht. Dass Kunden tatsächlich Interesse an präventiven Versicherungsservices haben, bestätigt eine Studie der ZEB (2019) zum aktuellen Stand der Digitalisierung im europäischen Versicherungsmarkt. Dieser zufolge würden 41 Prozent der Befragten präventive Services ihrer Versicherung nutzen. Von einer erfolgreichen Prävention können jedoch nicht nur die Kunden profitieren, auch Versicherer sparen Schadenzahlungen.

Daneben bietet die Prävention für Versicherer noch eine weitere wesentliche Chance: Bislang beschränkt sich die Kommunikation zwischen Kunden und Versicherern auf wenige, meist durch Schadenereignisse negativ konnotierte Kontaktpunkte. Durch das aktive Verhindern von Schadenereignissen können Versicherer die Kontaktfrequenz zu ihren Kunden intensivieren und positive Erlebnisse schaffen, beispielsweise indem sie einen drohenden Wasserrohrbruch über Sensoren erkennen, den Kunden über eine App warnen oder sogar die Wasserzufuhr kurzfristig abschalten.

Auch die befragten Praktiker bestätigen, dass präventive Services in der Versicherungswirtschaft an Bedeutung gewinnen werden. Gegenwärtig jedoch stoßen die bereits am Markt bestehenden Präventionsangebote wie Telematik- und Gesundheits-Apps nur auf eine mäßige Nachfrage. Die Befragten begründen diese Verhaltenheit mit dem hohen Zusatzaufwand, der auf Kundenseite entsteht und den teils invasiven Eingriffen in deren Lebensrealität. Einen vielversprechenderen Ansatz sehen die Praktiker in der Analyse bestehender Datenbestände. Als Anwendungsfälle werden die Analyse von Gesundheitsdaten zur Früherkennung von Krankheiten oder die Auswertung von Kfz-Schäden zur Aufdeckung von Produktionsfehlern in Fahrzeugreihen genannt. Bedenken äußern die Befragten bezüglich der Bereitschaft der Kunden, ihren Versicherern die entsprechenden Daten zur Verfügung zu stellen. Eine Studie des IT-Dienstleisters NTT DATA (Duft & von Basewitz, 2017) relativiert diese Sorge. Vor allem die befragten Jugendlichen wären mehrheitlich bereit ihre Gesundheitsdaten mit ihrer Versicherung zu teilen, wenn sie dadurch Kosten sparen könnten. So verlockend die Idee der vollständigen Prävention auch sein mag, so klar ist auch, dass ein hundertprozentiger Schutz vor Risiken Utopie bleibt. Dennoch eröffnet die Digitalisierung Möglichkeiten zur Prävention die – kombiniert mit Schadenskompensationselementen – neue Versicherungsprodukte möglich machen.

WERTSCHÖPFUNG: DIGITALES ÖKOSYSTEM

Mit einer Ausweitung des Wertbeitrags von der reinen Schadenskompensation hin zur -prävention würden sich die Leistungen der Versicherer um Tätigkeiten erweitern, die heute nicht in ihr Kerngeschäft fallen und alleine kaum zu erbringen sind. Andere Industrien, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen, begegnen diesen durch den Aufbau von Ökosystemen, in denen eigene Leistungen mit Komplementärleistungen von Partnern aus teils völlig anderen Branchen gebündelt werden. Ein Beispiel hierfür liefert Google’s Mutterkonzern Alphabet, der ein Gesundheits-Ökosystem aufbaut, welches mithilfe von Big Data und Musteranalyse Krankheiten diagnostizieren soll. Um die notwendigen Patientendaten zu beschaffen, ging das Unternehmen eine Partnerschaft mit dem Gesundheitsdienstleister Ascension ein, der in den USA mehr als 2.600 Gesundheitseinrichtungen betreibt.

Zudem akquirierte es fitbit, einen Anbieter für Wearables, der die Gesundheitsdaten von mehr als 28 Millionen Nutzern trackt. Auch etablierte Versicherer müssen sich den Herausforderungen der Digitalisierung nicht alleine stellen. Sie können ebenfalls von Ökosystemen profitieren in einer immer komplexeren Wertschöpfung. Daher haben wir folgende Hypothese aufgestellt: Über den Erfolg der Versicherer wird zukünftig immer mehr ihr Ökosystem entscheiden, weniger ihre eigene Wertschöpfung.

Technisch gesehen sind es insbesondere digitale Infrastrukturen, die es Unternehmen ermöglichen, einfacher als je zuvor organisations- und branchenübergreifende Kooperationen einzugehen und Ökosysteme aufzubauen. Für Versicherer bedeutet die Wertschöpfung in solchen Ökosystemen, dass sie ihre klassischen Produkte um versicherungsfremde Dienstleistungen anreichern können. Durch die modularergänzbaren Produkte oder Dienstleistungen von anderen Teilnehmern des Ökosystems lassen sich Produkt-Service- Pakete schnüren, die weit über die bereits thematisierten Risikopräventionen hinausgehen. Eine direkte Folge dessen ist das Verschwimmen zwischen Produkten und Dienstleistungen innerhalb des Ökosystems. Wie die aktuelle Studie der ZEB (2019) zeigt, scheint sich die Wertschöpfung in der Versicherungswirtschaft bereits in ähnlicher Form zu verändern. 35 Prozent der befragten Unternehmen geben an, sich derzeit mit dem Aufbau eines Ökosystems zu beschäftigen, nur acht Prozent haben noch keine entsprechenden Überlegungen unternommen.

Auch die Befragten sind sich einig darüber, dass sich der Wertbeitrag der Versicherer durch die Entstehung von Ökosystemen massiv verändern wird. Über die Rolle, die Versicherern dabei zukommt, wird allerdings kontrovers diskutiert. Ein Teil der Befragten ist der Auffassung, Versicherer sollten dominierende Rollen im Ökosystem den Unternehmen mit einer bestehenden digitalen Plattform überlassen und sich in existierende Systeme integrieren. Der andere Teil der Befragten ist davon überzeugt, dass es Versicherern gelingen kann, sich weiterhin an der Kundenschnittstelle zu positionieren.

Dass dies auch für Unternehmen ohne Technologie-Vergangenheit möglich ist, zeigt der chinesische Versicherer Ping An, auf den die Praktiker verweisen. Das Unternehmen stärkte seine technologischen Fähigkeiten und nutzte sie zum Aufbau von Ökosystemen – sogar über die Versicherungsbranche hinaus (Fromme, 2018). So schuf das Unternehmen Ökosysteme wie Ping An Good Doctors (eine medizinische Beratungsplattform), Ping An Hoafang (Chinas größte Immobilienbörse) oder Autohome (der landesweit größte Gebrauchtwagenmarkt). Wenngleich dieses Modell nicht für alle Versicherer passt, beweist es, dass es auch für etablierte Player möglich ist, führende Positionen in neuen Ökosystemen einzunehmen. Die meisten Unternehmen sind sich über ihre mögliche Rolle in zukünftigen Ökosystemen jedoch noch nicht im Klaren. Sie sollten diese Situation als Chance nutzen, um verschiedene Optionen auszuprobieren.

Der Beitrag ist stark gekürzt, lesen Sie die vollständige Analyse der weiteren Hypothesen in der aktuellen Juli-Ausgabe der Versicherungswirtschaft.

Autoren: MSc. ISM Sara Schiffer, Dr. Jan Stockhinger und Dr. R. Alexander Teubner, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Literatur:

  • Auf der Mauer, M., Behrens, T., Derakhshanmanesh, M., Hansen, C., & Muderack, S. (2018). Applying Sound-Based Analysis at Porsche Production: Towards Predictive Maintenance of Production Machines Using Deep Learning and Internet-of-Things Technology. In: N. Urbach & M. Röglinger (Hrsg.), Digitalization Cases. How Organizations Rethink Their Business for the Digital Age (S. 79–100). Cham: Springer
  • Baier, D., Rese, A., Nonenmacher, N., Treybig, S., & Bressem, B. (2018). Digital Technologies for Ordering and Delivering Fashion: How Baur Integrates the Customer’s Point of View. In: N. Urbach & M. Röglinger (Hrsg.), Digitalization Cases. How Organizations Rethink Their Business for the Digital Age (S. 59–78). Cham: Springer
  • BaFin (o.J.). Schlagwort „Insurtechs“. https://www.bafin.de/DE/Aufsicht/FinTech/Insurtech/insurtech_node.html
  • Bitkom (2019). https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Jeder-Zweite-hat-schon-online-eine-Versicherung-abgeschlossen
  • Chandler, A. D. (1962). Strategy and Structure. Chapters in the History of the Industrial Enterprise, MIT Press: Cambridge
  • Duft, N., von Basewitz, B. (2017). Trendstudie: Digitalisierung in der Versicherungsbranche. Betriebsmodelle auf dem Prüfstand. https://de.nttdata.com/-/media/NTTDataGermany/Files/2017-DE-Study-Digitalisierung-in-der-Versicherungsbranche.pdf
  • Fonstad, N., & Mocker, M. (2016). How IT Drives Digital Innovations at Audi. CISR Research Briefing, 16 (7), 1–3
  • Fromme, H. (2018). Ping An investiert in Berlin. Süddeutsche Zeitung, S. 18. Artikel vom 20. November 2018
  • Kottmann, D., Dördrechter, N. (2019). Die Zukunft von Insurtech in Deutschland. Der Insurtech-Radar 2019 (Oliver Wyman). https://www.oliverwyman.de/content/dam/oliver-wyman/v2-de/publications/2019/jul/insurtech-092019/MUN-MKT40506-001_InsurTech_Germany_D_20190913_Online.pdf
  • Schiffer, S. (2019). Digitalisierung als Herausforderung für die Versicherungswirtschaft und mögliche strategische Antworten. Masterarbeit, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
  • Sebastian, I. M., Mocker, M., Ross, J. W., Moloney, K. G., Beath, C.,& Fonstad, N. O. (2017). How Big Old Companies Navigate Digital Transformation. MIS Quarterly Executive, 16 (3), 197–213
  • Sebastian, I. M., & Ross, J. W. (2016). The Schindler Group: Driving Innovative Services and Integration with Schindler Digital Business AG. MIT Sloan CISR Working Paper Nr. 411
  • Teubner, R. A., Klein. S. (1998). Planning and Designing Web-Based Electronic Commerce: a case study in the insurance industry. Australasian Journal of Information Systems, 6 (1)
  • ZEB (2019). ZEB.digital pulse check insurance 2019

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