Coface-Manager Böhm: „Tatsächlich sind die Insolvenzzahlen mit Vorsicht zu betrachten“

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Heute ziehen die Kreditversicherer ihre alljährliche Bilanz für das wirtschaftliche Ausnahmejahr 2020. Ein Fokus liegt dabei auch auf der Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen. Laut aktuellen Daten der Wirtschaftsauskunftei Creditreform ist die Zahl der Pleiten auf einen neuen Tiefstand gesunken – bei immer höheren Schäden.

Nach Angaben der Analysten ist die Zahl der Unternehmensinsolvenzen demnach deutlich um 13,4 Prozent auf 16.300 Fälle (2019: 18.830) gesunken. Das ist der niedrigste Stand seit der Einführung der Insolvenzordnung (InsO) im Jahr 1999. Dabei gab es vor allem bei Kleinbetrieben durch die Aussetzung deutlich weniger Insolvenzmeldungen. Ein deutlicher Anstieg der Insolvenzen war dagegen bei größeren Unternehmen zu verzeichnen, heißt es bei Creditreform weiter.

Allerdings habe die Corona-Krise vor allem bei Großunternehmen zu einer überdurchschnittlich hohen Zahl an Insolvenzen geführt. Zu den größten Unternehmenszusammenbrüchen des bisherigen Jahres zählen die Warenhauskette Galeria Kaufhof Karstadt und zahlreiche Unternehmen im Modeeinzelhandel wie Esprit und Bonita. Prominentestes Beispiel dürfte jedoch die Pleite des Finanzdienstleisters Wirecard sein.

„Insolvenzen sind ein wichtiger Mechanismus zum Schutz der Volkswirtschaft. Unternehmen ohne tragbares Geschäftsmodell müssen vom Markt genommen oder von Grund auf saniert werden, damit die deutsche Wirtschaft als Ganzes auch nach Corona wettbewerbsfähig bleibt.“

Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform

Demnach stieg die Zahl der Insolvenzverfahren bei den Untermehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 5,0 bis 25,0 Mio. Euro deutlich um 26,4 Prozent an. Bei den Firmen mit einem Jahresumsatz von 25,0 bis 50,0 Mio. Euro stieg die Zahl der Insolvenzen um 36,4 Prozent an. Bei den Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 50,0 Mio. Euro hätten sich die Fallzahlen sogar verdoppelt.

Einen spürbaren Anstieg verzeichnete die Wirtschaftsauskunftei auch bei der Höhe der insolvenzbedingten Schäden: Diese stiegen im Jahr 2020 deutlich auf schätzungsweise 34,0 Mrd. Euro – nach 23,5 Mrd. Euro im Vorjahr. Pro Insolvenzfall muss im Durchschnitt voraussichtlich die Rekordsumme von etwa zwei Mio. Euro an Forderungsverlusten abgeschrieben werden, konstatiert Creditreform weiter. Von der Insolvenz betroffen waren insgesamt rund 332.000 Arbeitnehmer; eine deutlich höhere Zahl als im Vorjahr (2019: 218.000 Beschäftigte).

Ruhe vor dem Sturm?

Allerdings dürften die genannten Zahlen wohl nur bedingt aussagekräftig sein. So verzeichnete Creditreform vor allem deutliche Rückgänge bei den Insolvenzen im Baugewerbe (minus 16,4 Prozent) sowie im Handel (minus 16,3 Prozent). Während das Baugewerbe weiterhin eine gute Konjunkturlage verzeichnet, dürften insbesondere im Handel die staatlichen Hilfsmaßnahmen für den deutlichen Rückgang verantwortlich sein.

Zudem müsse bei der Einordnung der aktuellen Insolvenzentwicklung berücksichtigt werden, dass Finanzspritzen und die Aussetzung der Insolvenzanzeigepflicht wohl auch „echten“ Pleitekandidaten das Überleben zunächst ermöglicht haben. Auch im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor verringerten sich die Insolvenzzahlen. Insgesamt nimmt der Anteil des Dienstleistungsgewerbes am Insolvenzgeschehen zu.

Allerdings betont die Witschaftsauskunftei auch, dass die Bundesregierung zahlreiche Hilfs- und Stützungsmaßnahmen für die Wirtschaft beschlossen und die Insolvenzantragspflicht mehrere Monate lang ausgesetzt hat. Nachdem die Insolvenzanzeigepflicht bei Zahlungsunfähigkeit (nicht aber Überschuldung) ab Oktober wieder in Kraft ist, dürften die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und ein Ende der Eindämmungsmaßnahmen die Insolvenzen im kommenden Jahr insgesamt wieder steigen lassen.

Dabei stünden vor allem Branchen wie Autoindustrie, Luftfahrt und Einzelhandel ohnehin vor drastischen Umwälzungen. „Der Strukturwandel wird durch diese Maßnahmen teilweise verzögert“, konstatiert Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform,

„Tatsächlich sind die Insolvenzzahlen mit Vorsicht zu betrachten. Durch die teilweise ausgesetzte Anmeldepflicht ist das Bild schief. Ohne diese Maßnahme und ohne die massiven Unterstützungsprogramme hätten wir ganz sicher deutlich mehr Insolvenzen. Wir werden voraussichtlich einen ‚Nachlauf‘ erleben. Im Moment ist es aber so, dass wir keine wirklich großen Schäden verzeichnen, auch bei den Frequenzschäden ist das Ausmaß überschaubar. Aber wie gesagt. Das dürfte sich im nächsten Jahr ändern.“

Jochen Böhm, Underwriting Director bei Coface für Nordeuropa

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Thomas Langen, Senior Regional Director Deutschland, Mittel- und Osteuropa von Atradius: „Die Lockerung der Insolvenzantragspflicht sorgt auch aus unserer Sicht dafür, dass die Zahl der Insolvenzen in Deutschland aktuell noch sehr niedrig ist und die tatsächliche Situation der deutschen Firmen nicht widerspiegelt. Mit jeder Woche, in der die Sonderregelung aufrechterhalten wird, steigt die Zahl der Unternehmen, die eigentlich den Gang zum Amtsgericht antreten müssten, weil sie ihre Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen können. Hier lauert eine große Gefahr für Lieferanten und Dienstleister. Denn wenn das Insolvenzrecht seine Kernaufgabe nicht erfüllen kann und nicht mehr die Abnehmer vom Markt nimmt, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können, steigt das Risiko für Forderungsausfälle immens. Lieferanten und Dienstleistern geraten so dann selbst schnell in die Zahlungsunfähigkeit, weil ihre Liquidität dann rasch schwindet.“

Zudem geht der Vorsitzende der Kommission Kreditversicherung im GDV davon aus, „dass im kommenden Jahr wieder deutlich mehr Insolvenzen gemeldet werden, sobald das Insolvenzrecht wieder vollumfänglich in Kraft getreten ist. Derzeit kämpfen schon mehrere Branchen mit ernsten und schwerwiegenden Problemen. Zuallererst betrifft es Bereiche, in deren Mittelpunkt der körperlich anwesende Mensch steht, darunter zum Beispiel der Tourismus oder die Gastronomie. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Gewinner der Pandemie, zu ihnen zählen unter anderem Anbieter digitaler Dienste, Pharma-Unternehmen oder Hersteller von Hygieneartikeln.“

„Bisher waren die Insolvenzen in Deutschland stark rückläufig und dieser Trend dürfte sich auch im Gesamtjahr 2020 durchziehen. Das zeigt, dass sowohl der Schutzschirm für die deutsche Wirtschaft als auch die Konjunkturpakete erfolgreich waren und ihr Ziel, Insolvenzen zu vermeiden, voll erfüllt haben. Die deutsche Wirtschaft hat sich in einer der schwersten Krisen als vergleichsweise robust erwiesen. Allerdings haben wir in Deutschland trotzdem einen erheblichen Anstieg bei den Großinsolvenzen gesehen. In den ersten neun Monaten des Jahres haben 43 große Unternehmen Insolvenz angemeldet – im Vorjahreszeitraum waren es 27. Das ist eine Zunahme von  fast 60 Prozent.“

Ron van het Hof, Deutschlandchef von Euler Hermes

Welche Konsequenzen sich daraus konkret für die Kreditversicherer ergeben und wie sich der Schutzschirm von Bundesregierung und Kreditversicherern auswirkt, werden die heutigen Zahlen des Branchenverbandes zeigen.

Autor: VW-Redaktion

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