Die Börse spielt verrückt? Nein, der Markt hat immer recht
Ist die Börse ein Tollhaus? Die größte Rezession der modernen Wirtschaftsgeschichte droht, Konjunkturdaten und Unternehmensgewinne brechen ein, in Deutschland sind Millionen auf Kurzarbeit, aber die Kurse steigen. Dafür gibt es viele plausible Gründe.
In vielen Kommentaren ist zu lesen, dass sich die Börse von der Realwirtschaft abgekoppelt habe und eine Blase entstehe. In dieser Aussage schwingt der Vorwurf mit, dass das Geschehen an den Finanzmärkten mit rationalem Handeln nichts zu tun habe. Der Markt irrt also? Er müsste viel tiefer stehen? „Der Markt hat aber immer recht“, könnte man mit einer Börsenweisheit entgegnen.
Geldschwemme und die Hoffnung auf ein Impfstoff
Es lassen sich auch ganz plausible Gründe für die Börsenralley finden: Großen Anteil daran hat zum einen die Flut von geschnürten Rettungspaketen, Hilfsprogrammen und Zinssenkungen. Da Anleihemärkte kaum noch Renditen abwerfen, sind Aktien die einzige vernünftige Alternative. Zum anderen wird an den Börsen stets die Zukunft gehandelt. Wie schlimm die aktuelle Lage auch sein mag – und mit dem Lockdown vermuteten die Anleger, dass das der Tiefpunkt sei – entscheidend ist die antizipierte Lage. Während man noch über Lockerung sprach, trieb das bereits die Kurse. Jetzt wo die Öffnung Realität ist, bewegen sich die Papiere an einigen Tagen seitwärts, weil eine zweite Infektionswelle droht. Dazwischen gibt es jedoch immer wieder ein Kursfeuerwerk für den gesamten Markt, wenn ein Pharmariese Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffs meldet.
Drittens: Aktienmärkte haben nicht den Anspruch, die reale Wirtschaft abzubilden. Nur eine begrenzte Anzahl an Unternehmen lässt ihre Papiere auf dem Parkett handeln. Hierbei muss man differenzieren und fragen, was man eigentlich mit der „Börse“ meint. Meistens redet man von de Indizes Dax, Dow Jones oder Nasdaq 100. Letztere notierte im Jahr 2000 bei 4.000 Zählern – es war der Höhepunkt der Internetblase. Es folgte in den Jahren darauf der Einbruch auf 1.000. Seitdem ging es steil bergauf. Nach einem kurzen Fall im März auf 7.000 Punkte steht sie fast wie vor der Corona- Zeit kurz vor dem Allzeithoch bei 9.500.
Die Indexgewichtung spielt eine große Rolle
Nur weil der Index steigt, heißt es nicht, dass alle dort geführten Unternehmen gleich an Wert gewinnen. Die Technologiebörse Nasdaq 100 selektiert die in ihm enthaltenen 100 Aktien nach Größe in Form der Marktkapitalisierung. Die größten sind Microsoft, Facebook, Apple, Amazon, Google oder Netflix. Allein diese sechs Unternehmen machen fast die Hälfte der Kursbewegungen des gesamten Index Nasdaq 100 aus. Und just diese Firmen haben ein Geschäftsmodell, das der Pandemie trotzt – und sie waren vor der Coronakrise erfolgreich.
Ähnlich verhält es sich mit dem Dax. Die größte Gewichtung nimmt der Softwarekonzern SAP ein. Dessen Produkte sind nach wie vor gefragt. Im Gegenzug trennten sich die Anleger – so rational wie sie sind – von Aktien der Luftfahrt oder der Autobranche. Nur ist deren Anteil am Dax relativ gering und deren Verluste bewegen den Index kaum. Die Allianz belegt bei der Gewichtung mit 6,5 Prozent den 5. Platz, die Munich Re mit 2,7 Prozent den 13. Platz. Beide Papiere wurden abgestraft, da die Krise im Versicherungsgeschäft und im Kapitalmarktportfolio tiefe Spuren hinterlässt. Die Jahresziele wurden gestrichen, aber das Festhalten an der Dividende zeigt, dass das Geschäftsmodell robust ist, was Anleger zu einem günstigen Aktienkauf animierte.
Warum die Indizes langfristig immer steigen
Viele behaupten, dass wir zum Wachstum verdammt sind, damit wir unsere Schulden begleichen. Es ist umgekehrt: Weil wir wachsen, können wir uns solche Schulden überhaupt leisten. Absolut steigen sie, aber man muss diese in Relation zum BIP sehen, denn dieser steigt ebenfalls. Bis ins Mittelalter nahm das, was die Länder auf der Welt von Jahr zu Jah pro Kopf produzierten, kaum zu. Dann kam die Spezialisierung und die Produktivität stieg. Der Mensch steht bis heute nicht still, es wird immer Innovationen geben. Und innovative Firmen wie Apple, Google oder Tesla ersetzen diejenigen mit veralteten Geschäftsmodellen – auch als Schumpeterische kreative Zerstörung bekannt.
Ebenso wie das Wachstum wird auch der Dax langfristig steigen. Weil nach Börsenumsatz und Wert schwache Firmen aus dem Index fliegen. Das Fintech Wirecard verdrängte das Traditionshaus Commerzbank. Nun fliegt Lufthansa aus dem Dax. Verständlich und rational. Ein Tollhaus sieht anders aus.
Autor: David Gorr