Die Versicherungsbranche ist dabei, die Digitalisierung zu verschlafen
Neue Wettbewerber und ein sich wandelndes Umfeld setzen die Branche unter Druck. Doch interne und externe Hürden erschweren den Innovationsprozess. Von Timo Heuer, Thorsten Schröder und Ann-Sophie Winter, TLGG Consulting.
Neue Wettbewerber und ein sich wandelndes Umfeld setzen die Branche unter Druck. Doch interne und externe Hürden erschweren den Innovationsprozess. Von Timo Heuer, Thorsten Schröder und Ann-Sophie Winter, TLGG Consulting.
Die Versicherungsbranche ist schwerfällig, konservativ und sträubt sich gegen den Wandel. Das gängige Klischee bewahrheitet sich inmitten der Digitalisierung an vielen Stellen. Im Kern läuft vor allem bei den großen Namen noch immer vieles über Filialen und Provisionen, häufig sind Versicherer zudem Teil noch größerer Finanznetzwerke – das macht sie behäbig und lässt sie im Rennen um die digitale Wende weiter zurückfallen. Dabei verändern sich die Rahmenbedingungen für die Branche schon heute dramatisch und die Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren weiter beschleunigen.
“Die Megatrends von heute werden auch den Bedarf an Versicherungsprodukten beeinflussen”, prophezeit Timo Heuer, der die Industrie als Berater bei TLGG Consulting seit Jahren verfolgt. Kunden seien dank Online-Plattformen wie Check24 oder Diensten wie Clark heute sehr viel besser informiert als noch vor zehn oder 15 Jahren.
Auch neue Konkurrenten setzen die traditionellen Spieler unter Druck. Direct-to-Consumer- Marken wie Lemonade oder Coya werben um Kunden auf Instagram und bieten den Abschluss direkt über die App an. Das hat die ehemals mühsame Akquise dramatisch beschleunigt: Versicherungsvertreter, die an Türen klopfen, braucht es heute nicht mehr.
Stattdessen setzen die neuen Anbieter auf flexible Vertragsmodelle und modulare Policen, die stärker auf die Lebenswirklichkeit der meist jungen Zielgruppe abgestimmt ist. Auch die Schadensabwicklung läuft ohne aufwendige Formulare und unnötigen Briefverkehr ab.
Das stellt neue Herausforderungen an die Branche. Die traditionellen Anbieter müssen eine neue Perspektive auf ihr Kerngeschäft entwickeln. Wie soll ein Schaden in Zukunft abgewickelt werden? Wie kann er erfasst oder vielleicht sogar im Vorhinein verhindert werden? Das sind die Fragen, die die Branche in den kommenden Jahren beschäftigen werden. In einer Welt, in der immer mehr über Algorithmen gesteuert wird, ergeben sich neue Herausforderungen.
Schon heute können Sensoren den Niederschlag auf Feldern messen und so frühzeitig warnen, wenn eine Dürre die Ernte bedroht. Wearables messen unsere Herzfrequenz und werden schon in wenigen Jahren vorhersagen können, ob wir mit unserem Lebensstil bestimmte Krankheiten fördern. Und auch gegen Fehlentscheidungen der Algorithmen selbst gibt es inzwischen Versicherungspolicen. All das hat auch Implikationen für das Versicherungsgeschäft.
Wie also müssen die alten Anbieter reagieren, um die eigene Position zu sichern?
Die erste Erkenntnis: Es braucht neue Produkte. Die großen traditionellen Anbieter müssen stärker auf modulare Ansätze bauen, um auf Veränderungen flexibler reagieren zu können, meint Timo Heuer. Vor allem jüngere Kunden wollen heute situative Produkte, keine undurchsichtigen Pauschalpakete. Micro-Insurances könnten zum Beispiel im Mobility-Bereich angesichts zahlreicher Sharing- und On-Demand- Modelle eine immer größere Rolle spielen. Längst gibt es zudem produktspezifische Policen nicht mehr nur bei Elektronik-Anbietern wie Apple. Auch der Automobilhersteller Tesla bietet optional eine eigene Versicherung für seine Modelle an. Versicherungsprodukte würden in Zukunft immer stärker direkt in den Checkout-Prozess integriert werden, so Heuer. Kunden könnten schon heute für immer mehr Produkte – von der Waschmaschine bis zum Handy – einzelne Policen erwerben.
Das zweite große Schlagwort: Ökosysteme. Versicherungen würden sich immer mehr zu integrierten Features innerhalb bestehender Produkte und Ökosystem entwickeln, sagt Heuer. “Über alle Industrien hinweg – auch in der Finanz- und Versicherungsbranche – findet eine Verschiebung von Einzelprodukten hin zum integrierten Ökosystem statt.” Die technische und kulturelle Fähigkeit, sich modular in bestehende Ökosysteme zu integrieren, wird deshalb in Zukunft ein entscheidender Wettbewerbsvorteil werden.
Gleichzeitig werde die Integration verschiedener Anbieter auch in der Versicherungsbranche immer mehr zum Geschäftsmodell. Im Fintech-Bereich lässt sich das schon jetzt beobachten. Die deutsche Solarisbank etwa stellt anderen Finanzdienstleistern ihre Infrastruktur bereit und kümmert sich um den technischen Backbone. Zu ihren Kunden gehört unter anderem die Tomorrow Bank.
Zwar sei die Fintech-Branche dem “Insurtech-Geschäft” einige Jahre voraus, aber auch einige traditionelle Versicherer reagierten inzwischen und weiteten die eigenen Kompetenzen aus, sagt Timo Heuer. Der Rückversicherer Munich Re etwa kaufte im vergangenen Jahr den Daten-Dienstleister Relayr – ein wichtiger Schritt, um die eigenen Kompetenzen im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) und Datenauswertung auszubauen.
“In einer Welt, in der Daten als das neue Öl gelten, ist Data Analytics für Versicherer ein zentrales Asset”, so Timo Heuer.
In China zeigt die Branche der Konkurrenz im Westen schon jetzt, wohin die Reise in Zukunft geht. Ping An – mit rund 510 Millionen Online-Kunden und 180 Millionen Filialkunden einer der größten traditionellen Anbieter des Landes – gilt längst als Paradebeispiel der Transformation. Innerhalb weniger Jahre hat der Konzern sein gesamtes Portfolio aus Kundensicht neu gedacht, Nutzer können heute sämtliche Abteilungen und Dienste über eine App erreichen. Dank milliardenschwerer Investitionen in die Forschung sind zudem alle Angebote mit hauseigenen KI-Systemen gestützt. Die Zeit, die es braucht, um eine Schadensanfrage zu bearbeiten, wurde deutlich verkürzt, indem die Abläufe online und offline optimiert wurden.
Multi-Feature-Apps wie WeChat, über die Nutzer heute Essen bestellen, Bezahlungen vornehmen und mit Freunden chatten, würden auch für Versicherer oder Banken ein immer wichtigerer Anknüpfungspunkt, um Kunden frühzeitig zu erreichen, erklärt Heuer. Auch das Portfolio von Ping An ist im Zuge der Transformation deutlich gewachsen. Neben traditionellem Versicherungsgeschäft, Banking und Asset Management ist Ping An heute mit eigenen Plattformen auch im Mobilitäts- und Gesundheitsgeschäft aktiv: Kunden können hier ihr nächstes Auto finden oder online Antworten auf medizinische Fragen finden. Zum neuen Kerngeschäft gehört auch eine eigene Cloud-Plattform, die die Infrastruktur für hunderte von Banken liefert.
Doch es reicht nicht, wenn die Versicherer die Herausforderungen der Digitalisierung erkennen und in Einzelprojekten zu lösen versuchen. Um die Digitalisierung erfolgreich umzusetzen und auf die Veränderungen reagieren zu können, müssen sich die Unternehmen auch intern anpassen. Gerade hier gebe es aber bei Versicherern großen Nachholbedarf, sagt Ann-Sophie Winter.
Viele Organisationen funktionieren noch immer als separate Silos mit wenig bereichsübergreifender Zusammenarbeit, deshalb bleibe nicht nur Wissen oft ungenutzt – es herrsche oftmals auch ein interner Wettbewerb zwischen verschiedenen Bereichen und Abteilungen, der Innovation ausbremse. “Zu häufig stehen die Eigeninteressen der einzelnen Abteilungen im Vordergrund”, so Winter.
Deshalb greife es zu kurz, innerhalb einzelner Bereiche oder Abteilungen agiler zu werden. Man müsse an der ganzen Organisation ansetzen und systemisch denken, um die Organisation fit zu machen für den Wandel. Doch das ist gerade in der noch konservativen Versicherungsbranche schwierig.
Die Vorstandsebene treibe den internen Innovationsprozess oftmals nicht entschieden und konsequent genug voran. Das mittlere Management habe hier nur begrenzt Spielraum, Innovationsprozesse trotz Silos erfolgreich im Unternehmen voran zu bringen. “Es braucht Entschiedenheit und Konsequenz von ganz oben”, sagt Winter.
Doch an der fehlt es häufig, auch, weil es vielen Unternehmen heute noch sehr gut gehe. Der Handlungsdruck sei deshalb noch nicht groß genug, meint die Expertin. Doch sie warnt davor, sich darauf zu lange auszuruhen. “Es gibt genügend Beispiele von Firmen, denen es in einem Jahr noch gut ging und die wenige Jahre später insolvent waren.” Wer den kritischen Moment verpasse, dem könne das Kerngeschäft schnell wegbrechen.
Gastbeitrag von TLGG Consulting