Montagskolumne mit Torsten Oletzky: „Etablierte Player stehen vor der Frage, wie sie neue Geschäftsmodelle finden“
 Top-Entscheider exklusiv 

Torsten Oletzky, Digitalisierungsexperte und Kolumnist bei VWheute. Quelle: TH Köln/Thilo Schmülgen - bearbeitet von VWheute.

Die Digitalisierung ist der wohl wichtigste Trend unserer Zeit. Vieles spricht dafür, dass zukünftige Generationen, wenn sie einmal auf die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts zurückblicken werden, vom Zeitalter der Digitalisierung – oder doch wenigstens der Frühphase der Digitalisierung – sprechen werden.

Frühphase der Digitalisierung? Erste Computer wurden doch bereits in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Stimmt, aber Digitalisierung heißt nicht vormals analoge Prozesse eins zu eins digital nachzubilden, sondern Geschäftsmodelle und Prozesse völlig neu zu denken. Digitalisierung heißt, die Potenziale systematisch zu nutzen, die sich daraus ergeben, dass Kunden über ihre Computer, Tablets, Smartphones und andere Endgeräte 24/7 online erreichbar sind, Gegenstände des Alltags – Auto, Haus, Kühlschrank – digital miteinander vernetzt sind, Daten nahezu beliebiger Volumina gespeichert und in ungekannter Geschwindigkeit verarbeitet werden können. Bei der Nutzung dieser Möglichkeiten stehen wir tatsächlich in vielen Bereichen noch in den Anfängen.

Es ist keine völlig neue Erkenntnis, dass die Frage, wie schnell und flexibel wir uns diese neuen Möglichkeiten erschließen, über die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und Branchen entscheiden wird. Also schauen wir einmal genauer hin.

In den Sonntagsreden der Politik hat die Digitalisierung seit Jahren einen festen Platz und an gut klingenden Konzepten herrscht kein Mangel. Kaum kam es in der Corona-Pandemie aber zum Ernstfall, wurden die deutschen Schwächen in der Umsetzung schonungslos offengelegt. Eine systematische digitale Nachverfolgung des Infektionsgeschehens? Mehr als eine halbherzig umgesetzte Feigenblatt-App auf freiwilliger Basis lässt der Datenschutz bei uns leider nicht zu.

Digitale Kommunikation zwischen den Gesundheitsämtern? Das Faxgerät funktioniert doch noch. Ein digitaler (europäischer) Impfpass? In Deutschland stempeln wir lieber gelbe Pappkarten. Ja, auch in anderen Ländern läuft nicht alles rund, aber wir wollen uns doch mit den Besten messen. Wenn wir bei der Digitalisierung den Anschluss an die führenden Nationen halten wollen, dann müssen wir deutlich schneller und flexibler werden.

Schauen wir also doch lieber auf die Digitalisierung in der Versicherungswirtschaft; vielleicht fällt dieser Blick ja ein wenig positiver aus. Seit etwa zehn Jahren hat die Digitalisierung auch die Versicherungswirtschaft voll erfasst. Etablierte Marktteilnehmer stehen vor der Frage, wie sie alte Geschäftsmodelle weiterentwickeln und neue Geschäftsmodelle finden können. Die Versicherer tun sich dabei naturgemäß nicht ganz leicht.

Versicherung ist bekanntlich ein langfristig ausgerichtetes Geschäft. Verträge bleiben mitunter viele Jahrzehnte im Bestand und die IT-Infrastrukturen der Versicherer sind über lange Zeiträume gewachsen. Und die bestehenden Geschäftsmodelle funktionieren ja noch, allenfalls schleichend verlieren sie an Bedeutung. Wir wissen, dass die nachrückende Kundengeneration Versicherungen anders kaufen wird als ihre Eltern, eine andere Ansprache wünscht und einen anderen, digitaleren Service erwartet. Aber noch dominieren die klassischen Kundengruppen das Geschäft.

Die große Herausforderung besteht darin, neue Geschäftsmodelle zu finden, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. Manche Versicherer haben sich entschieden, die neuen Geschäfts­modelle unter neuen Marken eigenständig neben die bestehenden Geschäfts­modelle zu stellen, siehe Friday (Basler) oder Nexible (Ergo). Dies schafft Freiheitsgrade bei der Neuentwicklung, wirft aber gleichzeitig die Frage auf, wie zügig die so geschaffene digitale Innovation auch die Bestandskunden erreicht. Andere Versicherer konzentrieren sich auf die digitale Weiterentwicklung ihrer Kerngeschäftsmodelle, benötigen dafür in der Regel aber entsprechend länger.

Zum Autor: Torsten Oletzky lehrt an der TH Köln. Zuvor arbeitete er unter anderem bei  McKinsey und war Vorstand bei der Mannheimer und Ergo. Der Digitalisierungsexperte ist Vorstand beim Insurlab Germany in Köln.

Neben den bestehenden Versicherern versucht sich eine Reihe neuer Unternehmen an der Digitalisierung der Versicherungswirtschaft; in der ersten Gründungswelle vor allem mit vertrieblich ausgerichteten Geschäftsmodellen. Einige sind dabei wie erwartet auf der Strecke geblieben. Die hohen Kosten für die Neukundengewinnung stellten für manchen Neuling mit unbekannter Marke eine nicht zu überwindende Hürde dar. Durchgesetzt haben sich neben Check24 als Aggregator vor allem Neugründungen wie wefox und CLARK, die ihr Geschäftsmodell in Richtung B-to-B-to-C weiterentwickelt haben.

Daneben hat sich eine Reihe sogenannter „Digital Enabler“ etabliert, die einzelne Prozesse aus dem Geschäftsmodell Versicherung digitalisieren und diese als Dienstleister den etablierten Versicherern anbieten. Diese spezialisierten InsurTechs haben sich in ihren Nischen eingerichtet, sorgen aufgrund ihrer meist überschaubaren Größe aber selten für Schlagzeilen.

Relativ ruhig ist es in Deutschland auch um die neugegründeten Vollversicherer geworden – Ottonova in der privaten Krankenversicherung, Coya oder mailo in der Schaden-/Unfall­versicherung. Diese Unternehmen waren mit hohen Erwartungen gestartet, tun sich aber offensichtlich noch schwer, nennenswert Marktanteile zu gewinnen. Etwas optimistischer klingen die Nachrichten von Neodigital und der wefox Insurance AG (vormals: One), aber auch hier steht der ganz große Durchbruch noch aus.

Hat sich der Angriff der InsurTechs auf die etablierten Versicherer damit also schon erledigt? Ich empfehle den Versicherungsvorständen, sich nicht zu früh in Sicherheit zu wiegen. Wer sich fragt, wie die Zukunft der InsurTechs aussehen könnte, dem sei ein Blick in die USA empfohlen. Dort nimmt gerade die 2. Welle der InsurTech-Revolution Fahrt auf. Unternehmen wie Lemonade, Metromile, Oscar Health oder Hippo haben sich mit ihren Geschäftsmodellen etabliert und milliardenschwere Börsengänge hingelegt. Diese Börsengänge erfolgen oftmals unterstützt durch sogenannte SPACs (Special Purpose Acquisition Companies), die den InsurTechs den Weg an die Börse verkürzen und ihnen so Zugang zu Kapital in Größenordnungen verschaffen, die durch klassische Venture-Capital-Finanzierungen nicht zu erreichen sind.

Spätestens mit diesem Schritt werden diese Unternehmen zu ernstzunehmenden Wettbewerbern für die etablierten Versicherer. Wenn die deutschen InsurTechs ihre Hausaufgaben in den Geschäftsmodellen machen, ist es aus meiner Sicht nur eine Frage der Zeit, bis wir eine ähnliche Entwicklung auch in Deutschland sehen werden. Die Digitalisierung der Versicherungswirtschaft sollte durch eine solche Entwicklung einen neuen Schub erhalten – und das kann für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Versicherungswirtschaft nur gut sein.

Autor: Torsten Oletzky

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

fünf × eins =