Mit Feuer und Flamme: Eine Zeitreise durch 200 Jahre Gothaer

Unternehmenssitz der Gothaer in Köln. Quelle: Gothaer

Der runde Geburtstag der Gothaer am 2. Juli 2020, bietet einen guten Anlass, an die Gründungsidee des Unternehmens zu erinnern. Denn obwohl die Gründung schon 200 Jahre zurückliegt, ist die Idee aktueller denn je: Die Gothaer wurde 1820 von Kaufleuten für Kaufleute gegründet – der Einzelne sollte im Schadenfall nicht allein dastehen, sondern das Kollektiv sollte helfen.

Auch heute sind kleinere und mittelständische Unternehmer eine bedeutende Zielgruppe des Unternehmens. Aber auch die private Absicherung der Kunden ist ein wichtiges Geschäftsfeld. Die Verbindung von Tradition und Innovation, das langfristige Denken und der Solidargedanke – dafür steht die Gothaer seit 200 Jahren. Der Gothaer Konzern gehört heute mit über 4,1 Mio. Mitgliedern und Beitragseinnahmen von 4,5 Mrd. Euro zu den großen deutschen Versicherungskonzernen und ist einer der größten Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit in Deutschland.

Der thüringische Kaufmann Ernst Wilhelm Arnoldi hatte sich schon seit einiger Zeit mit der Gründung einer überregionalen Versicherung getragen. Den letzten Anstoß gab dann der Brand in einer Gothaer Tabakfabrik, die bei der Londoner Feuerversicherung Phoenix versichert war, denn große deutsche Anbieter gab es Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht. Die englischen Anbieter nutzten ihre Monopolstellung in Deutschland für hohe Beiträge und dürftige Leistungen.

Getragen vom Erfolg der Gothaer Feuerversicherungsbank entwickelt Arnoldi die Idee, auch eine Lebensversicherung zu gründen. Seinen Plan zur Errichtung einer Lebensversicherungsbank für Deutschland reicht er am 1. Juli 1827 beim regierenden Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha ein. Der Herzog antwortet schnell: Eine solche Anstalt sei „in jeder Hinsicht Bedürfnis“. Sein Schreiben vom 9. Juli 1827 wird das Gründungsdatum der „Lebensversicherungsbank für Deutschland“, der heutigen Lebensversicherung der Gothaer.

Als die Lebensversicherung in Gotha 1829 ihren Betrieb aufnimmt, untersuchen Hausärzte diejenigen, die einen Versicherungsantrag stellen. 1839 stellt die Gothaer dafür eigene Vertrauensärzte ein. Um sie mit medizinischen und statistischen Erkenntnissen der Lebensversicherungsbank vertraut zu machen, gibt Arwed Emminghaus, der nach Gustav Hopf Generaldirektor wird, seit 1886 die „Monatsblätter für die Herren Vertrauensärzte der Lebensversicherungsbank für Deutschland zu Gotha“ heraus.

Sie werden 1910 vom Verband deutscher Lebensversicherungsgesellschaften übernommen und sind ein wichtiger Beitrag für einen neuen Zweig der Versicherungswissenschaft, die Versicherungsmedizin. 1842 kommt es dann zur großen Belastungsprobe der Gothaer Feuerversicherungsbank. Am 5. Mai gegen ein Uhr nachts entdeckt ein Nachtwächter ein Feuer im Lagerhaus Nummer 44 am Nikolaifleet. Bis zum Morgen des 8. Mai zerstören die Flammen ein Viertel der Stadt, darunter die Nikolai- und die Petrikirche und über 1.700 Gebäude. 51 Menschen kommen ums Leben, mehr als 20.000 werden obdachlos.

Betroffen sind auch 520 Mitglieder der Gothaer. Die Feuerversicherungsbank zahlt innerhalb von drei Monaten 1.377.651 Taler an Entschädigung aus und beweist, dass der Gegenseitigkeitsverein auch einer so großen finanziellen Herausforderung gewachsen ist. Da viele Versicherte Bargeld benötigen, lässt die Versicherung 250.000 preußische Taler in Säcken von Berlin auf dem Wasserweg nach Hamburg bringen. Um den Verlust auszugleichen, musste die Bank einen in der Unternehmensgeschichte einzigartigen Nachschuss von den Versicherten erheben. Er betrug 93 Prozent einer Jahresprämie, insgesamt rund 920.000 Taler.

Gothaer-CEO Oliver Schoeller: „Unternehmerische Initiative liegt im Gencode der Gothaer“

VWheute: Was macht die Gothaer aus?
Oliver Schoeller: Das Engagement und die unternehmerische Einstellung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Eigenschaften sind bei der Gothaer in ihrer DNA verwurzelt. Das zeigte sich besonders in harten Zeiten wie zum Beispiel 1945/1946: Nachdem die Rote Armee Gotha besetzt hatte, wurde der Betrieb von Versicherungsunternehmen in der sowjetischen Besatzungszone untersagt. Für die Gothaer-Gesellschaften war klar, dass es in ihrer Gründungsstadt keine Zukunft mehr für sie gab. Ab Herbst 1945 brachten Mitarbeiter deshalb heimlich wichtige Unterlagen in den Westen, zum Teil in Rucksäcken über die grüne Zonengrenze. So konnten die Versicherungen ihre Arbeit in der Nachkriegszeit wieder aufnehmen – die Lebensversicherungsbank wurde in Göttingen heimisch, die Feuerversicherungsbank in Köln.

Dass die Gothaer Gemeinschaft zusammenhält, zeigt sich an vielen Initiativen. Wie groß die Hilfsbereitschaft tatsächlich ist, bewies sich erst gerade in der Corona-Krise: Als Kindergärten und Schulen schlossen, standen viele Eltern trotz Homeoffice vor Betreuungs-Herausforderungen. Ein Mitarbeiter rief dann die Initiative ins Leben, Gleitzeitstunden für betroffene Eltern zu spenden und Kollegen zogen reihenweise mit. In der Aktion „GOforfamily“ wurden bislang rund 7.000 Gleitzeitstunden gespendet, dazu kamen 64 Urlaubstage von Leitenden und Vorständen. Die Gothaer verdoppelte den Einsatz.

VWheute: Stichwort Work-Life-Balance und Zusammenhalt – gibt es Unterschiede damals und heute?
Oliver Schoeller: Wir leben heute in einer ganz anderen Zeit. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug im 19. Jahrhundert in der Versicherungswirtschaft 72 Stunden. Samstagarbeit war damals Standard, im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde sie nach und nach reduziert. Ab 1933 galt bei der Gothaer Feuerversicherung die 43-Stunden-Woche, vier Jahre später gab sie ihren Mitarbeitern mittwochnachmittags frei. Im Jahr 1970 führt die Gothaer als erste Kölner Versicherung und als eines der ersten deutschen Unternehmen gleitende Arbeitszeiten ein.

Die 38-Stunden-Woche gibt es bei der Gothaer seit dem 1. Juli 1990. Heute steht die Work-Life-Balance der Mitarbeiter mehr denn je im Fokus. Wir haben den Anspruch, unseren Erfolg stark über unsere Attraktivität als Arbeitgeber zu erzeugen. Talente sind unser wichtigstes Gut. Diese entwickelt man nur in einer guten Mischung aus Entfaltungsmöglichkeit bei uns und der gleichzeitigen Unterstützung der eigenen Lebensentwürfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das gilt insbesondere auch für das Thema Vielfalt im Unternehmen.

VWheute: Wie geht die Geschichte weiter?
Oliver Schoeller: Abseits der gegenwärtigen Corona-Herausforderung leben wir heute in einer nie dagewesenen Zeit des Friedens und wirtschaftlichen Wohlstands. Das Besondere an dieser Zeit ist ihre Bedeutung für die Zukunft: In den nächsten Jahrzehnten werden ganz wesentliche Entscheidungen für zukünftige Generationen getroffen. Von dem nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten, über den ethischen Umgang mit den Technologiepotenzialen bis hin zu der Frage einer offenen und solidarischen Gemeinschaft in Europa und der Welt. Die Versicherungsindustrie ist ein Schmelztiegel dieser Fragestellungen, denn hier kumulieren sich die mit diesen Entwicklungen verbundenen Risiken. Wir arbeiten heute an Lösungen für unseren Kunden, die achtsam und nachhaltig mit den Ressourcen dieser Welt umgehen und solidarisch nutzbar machen. Dieser Blick auf Risikotransformation ist neu. Er entspricht aber gleichsam dem Gründungsgedanken von Ernst Wilhelm Arnoldi.

Er verbindet die Solidarität der Gemeinschaft mit dem Privileg langfristigen Denkens. Bei der Frage nach der Zukunft ist die Botschaft schlicht: Der Wert der Gothaer bilden die Menschen, die den Mut zur Veränderung haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Vertriebspartner und allen voran unsere Kunden. Insbesondere ihre Vielfalt, ihre unterschiedlichen Perspektiven und ihr Gestaltungswille sind unser höchstes Gut. Wir setzen da auf, wo unsere Geschichte vor 200 Jahren begann: Als Initiative von Unternehmern.

Interview: VW-Redaktion

Neustart im Westen

Anfang April 1945 besetzen die Amerikaner Gotha, Anfang Juli übernimmt die Rote Armee Thüringen und damit auch Gotha. Thüringen ist jetzt Teil der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der Betrieb von Versicherungsunternehmen ist untersagt. Stattdessen entstehen staatliche Versicherungsanstalten mit Monopolcharakter. Da der Betrieb privater Versicherungsgesellschaften in der Sowjetischen Besatzungszone nicht mehr möglich sein wird, schaffen im Herbst 1945 die Mitarbeiter wichtige Unterlagen aus Gotha in zahlreichen Transporten heimlich über die grüne Zonengrenze nach Göttingen in die britische Besatzungszone.

Im November 1945 gründet die Lebensversicherungsbank hier offiziell eine Zweigniederlassung. Die Wahl fällt auf Köln, da dort schon Grundstücke im Besitz des Unternehmens sind. Damit endet zunächst die 125-jährige Geschichte der Feuerversicherung in Gotha. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen weitere Sparten und Geschäftsbereiche hinzu. 1980 wird die Gothaer Kranken gegründet, damit einhergeht der Aufbau des Maklervertriebs.

1995 versichert die Gothaer als einer der ersten Versicherer in Deutschland Windkraftanlagen und wird binnen weniger Jahre zum Marktführer in diesem Segment. 1997 fusioniert die Gothaer Kranken mit der Berlin-Kölnischen. 2001 erarbeitet das Unternehmen eine neue Struktur: Die Versicherungsvereine, die bislang gleichberechtigt an der Spitze des Unternehmens stehen, werden auf einen Versicherungsverein verschmolzen – die Gothaer Versicherungsbank VVaG. Das aktive Versicherungsgeschäft wird auf die Gothaer Allgemeine Versicherung AG mit der Schaden- und Unfallversicherung, die Gothaer Lebensversicherung AG und die Gothaer Krankenversicherung AG für die Krankenversicherung übertragen. Damit bleibt das Unternehmen an der Spitze ein Versicherungsverein.

Bis heute pflegt die Gothaer das Gegenseitigkeitsprinzip und ist ausschließlich der Gemeinschaft ihrer Versicherten verpflichtet und keinen Aktionären. Sie gehört mittlerweile zu den größten Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit in Deutschland. Dabei ist der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit weiterhin ein zukunftsträchtiges Geschäftsmodell: Eine Analyse über die Geschäftsentwicklung der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit im Vergleich zu den Aktiengesellschaften zeigt, dass der Anteil der gebuchten Bruttobeiträge der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit von 2009 bis 2018 um 3,4 Prozent steigt – die Aktiengesellschaften schrumpfen im selben Zeitraum um 2,3 Prozent und die öffentlich-rechtlichen Versicherer bleiben mit 0,1 Prozent unverändert.

Welche Rechtsform für die Bewältigung der zukünftigen versicherungstechnischen Herausforderungen besser geeignet ist, lässt sich auf Basis dieses Zahlenmaterials aber nicht sagen. Ein großer Allsparten-VVaG hat dieselben Herausforderungen zu bewältigen wie ein großer aktienrechtlich organisierter Allsparten-Versicherungskonzern. Das bedeutet, die Effizienz des Managements, die Kapitalmarktentwicklung und auch die politischen Rahmenbedingungen werden über die Zukunft von Versicherungsunternehmen entscheiden. Der Gothaer Konzern blickt mit viel Erfahrung und einem soliden Fundament in die kommenden Jahre.

Autor: Oliver Schoeller, Vorstandsvorsitzender der Gothaer

Eine ausführliche Zeitreise durch 200 Jahre Unternehmensgeschichte der Gothaer einschließlich Doppelinterview mit Oliver Schoeller und Vorgänger Karsten Eichmann lesen Sie in der neuen Juli-Ausgabe der Versicherungswirtschaft.

Quelle: VVW GmbH

Ein Kommentar

  • Dieter Aigner

    Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind genossenschaftlich organisiert. Das Genossenschaftswesen passt am besten in unsere Soziale Marktwirtschaft, weil negative Erscheinungsformen, wie wir sie in der Freien Marktwirtschaft und in der Zentralverwaltungswirtschaft beobachten können, nicht angelegt sind. Auf eine breite Weiterentwicklung des Genossenschaftswesens sollte daher besonderes Augenmerk gelegt werden.
    Vom Großen Brand in Hamburg (1842) sind übrigens noch heute Bilder im Museum für Hamburgische Geschichte in Hamburg zu sehen. Ein Blick auf die Brandruinen an der Binnenalster gilt als ältestes Nachrichtenfoto der Welt.

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