Rechtsprechung: Ist Paragraf 1a VVG zu schwammig formuliert?

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Mit Einführung des § 1a in das VVG zum 23. Februar 2018 hat der deutsche Gesetzgeber europäische Vorgaben der IDD-Richtlinie(1) zu den Informationspflichten und Wohlverhaltensregeln im Versicherungsvertrieb in das nationale Recht implementiert. Seitdem wurde intensiv diskutiert, ob und in welchem Umfang die Norm Handlungs- und Schadensersatzpflichten des Versicherers im Zusammenhang mit Produktgestaltung, Vertrieb und Schadenbearbeitung erweitert. Die aktuelle Auseinandersetzung um die Deckung von Covid-19-bezogenen Schäden in der Betriebsschließungsversicherung wirkt als Katalysator für die Rechtsprechung. Eine juristische Expertenanalyse.

Mögliche Handlungs- und Schadensersatzpflichten für Versicherer

Gemäß § 1a Abs. 1 VVG muss der Versicherer bei seiner Vertriebstätigkeit gegenüber Versicherungsnehmern stets ehrlich, redlich und professionell in deren bestmöglichem Interesse handeln. Dieser Pflichtenkatalog geht zurück auf den Sprachgebrauch des Art. 17 Abs. 1 IDD-RL. Auf Grundlage des weiten Anwendungsbereichs dieser Regelung adressiert § 1a VVG nicht nur Vermittler, Makler, Berater und interne Vertriebseinheiten im unmittelbaren Absatzgeschäft. Stattdessen erfasst Vertriebstätigkeit im Sinne des § 1a Abs. 1 Satz 2 VVG zusätzlich die Verwaltung und Erfüllung von Versicherungsverträgen durch den Versicherer, einschließlich Schadenbearbeitung und mittelbarer Vertriebsorganisation bzw. -steuerung. Mit Blick auf den Regelungsgehalt bedient sich die Norm teilweise Formulierungen, die dem deutschen Versicherungsrecht (bislang) fremd waren.

Die Literatur hat darauf uneinheitlich reagiert. Teilweise heißt es, § 1a Abs. 1 VVG habe „nur deklaratorischen Charakter“,(2) sei „normativ inhaltsleer“ und „naiv“ formuliert.(3) Hinter diesen Aussagen steht die Überlegung, dass sich die Pflicht des Versicherers zu einer ehrlichen, redlichen und professionellen Rücksichtnahme auf die Belange des Versicherungsnehmers in Vertrieb und Vertragsdurchführung bereits seit Langem aus Treu und Glauben und aus § 6 VVG ergibt.(4)

Andere Stimmen sprechen der Norm demgegenüber „Sprengkraft“ zu.(5) Die Superlativ-Formulierung „Handeln im bestmöglichen Interesse des Versicherungsnehmers“ könne so ausgelegt werden, dass der Versicherer eigene wirtschaftliche Interessen an dem Versicherungsvertrag einseitig zugunsten des Versicherungsnehmers zurückstellen müsse. Auf dieser Grundlage wird diskutiert, ob Ausschließlichkeitsvermittler und interne Vertriebseinheiten gegenüber dem Kunden dazu verpflichtet seien, Interessenten von eigenen, nicht bedarfsgerechten, Produkten abzuraten. Sogar eine aktive Hinweispflicht auf besser geeignete Konkurrenzprodukte wird in diesem Zusammenhang erwogen.(6) Vereinzelte Stimmen leiten aus der Norm außerdem eine Pflicht des Versicherers zur inhaltlichen Anpassung der Bedingungswerke an die „Bedürfnisse“ der Versicherungsnehmerseite ab.(7)

Eine starke Auffassung im Schrifttum bemüht sich um eine vermittelnde Auslegung auf Grundlage verfassungsrechtlicher Überlegungen. Die Pflicht des Versicherers zum bestmöglichen Handeln im fremden Interesse stehe in einem Spannungsverhältnis zu der in  Art. 12 GG und Art. 6 Abs. 1 EUV i.V.m. Art. 16 EGRC verankerten, unternehmerischen Freiheit. Deswegen müsse der Versicherer den Belangen der Versicherten bei eigenen Geschäftsentscheidungen keinen unbedingten Vorrang einräumen.

Stattdessen konkretisiere § 1a Abs. 1 VVG die anerkannten Grundsätze von Treu und Glauben für den Versicherungsvertrieb und baue diese zugunsten der Versicherungsnehmerseite weiter aus. Für die Praxis wird daraus in der Beratungssituation abgeleitet, dass gebundene Versicherungsvermittler und interne Vertriebseinheiten eine Pflicht zur Empfehlung des am besten geeigneten Produkts aus dem eigenen Portfolio treffen.(8)

Brömmelmeyer erwägt zusätzlich, ob mit § 1a Abs. 1 VVG Schadensersatzansprüche der Versicherten wegen Verstößen des Versicherers gegen im Markt anerkannte – untergesetzliche – Branchen-Kodizes begründet werden können. Letzteres insbesondere mit Blick auf den Verhaltenskodex des GDV für den Vertrieb von Versicherungsprodukten.(9)

Zusätzliche Bedeutung spricht das Schrifttum § 1a Abs. 1 VVG in Verbindung mit § 48b Abs. 1 Satz 2 VAG zu. Das dort kodifizierte Provisionsabgabeverbot geht ebenfalls auf die Umsetzung der IDD-RL zurück und ist in deren Lichte auszulegen. Gemäß dem 46. Erwägungsgrund der IDD-RL widerspricht es dem besten Interesse der Versicherungsnehmerseite, wenn der Versicherer mit dessen Vertriebssystem monetäre Anreize für die Empfehlung nicht bedarfsgerechter Produkte setzt. In Konsequenz könnte die Norm als Verbot der Vertriebsorganisation über Staffelprovisionen und über ähnliche anreizbasierte Vergütungssysteme gelesen werden.(10) Das Scharnier des § 1a Abs. 1 VVG vermittle dem betroffenen Versicherungsnehmer in diesem Zusammenhang durchsetzbare Rechte gegen den Versicherer.

Entwicklungen in der Rechtsprechung

Die Rechtsprechung hatte bis in das Jahr 2020 kaum Gelegenheit, zu den vonseiten der Literatur aufgeworfenen Rechtsfragen Stellung zu nehmen. Im Zusammenhang mit dem aktuellen Anspruchs- und Verfahrensgeschehen wegen der Deckung Covid-19-bezogener Schäden in der Betriebsschließungsversicherung mussten sich die Gerichte allerdings vermehrt mit der Auslegung von § 1a VVG befassen.

Ein wesentliches Thema dieser Rechtsstreite ist, dass die am Markt verbreiteten Bedingungswerke den Deckungsumfang mit einem Katalog von Erregern und Krankheiten beschreiben, der dem Infektionsschutzgesetz – in dessen zum Vertragsschluss gültigen Fassung – entlehnt ist. Der SARS-CoV-2-Erreger und die Krankheit Covid-19 sind in dieser Aufzählung regelmäßig nicht enthalten.

Deswegen streiten die Parteien der entsprechenden Deckungsstreite in beinahe allen Fällen um den abschließenden Charakter der jeweiligen Krankheitenkataloge.(11) Teilweise haben die Kläger in diesem Zusammenhang zusätzlich argumentiert, dass aus § 1a Abs. 1 VVG die Pflicht des Versicherers folge, den Umfang des bedingungsgemäßen Versicherungsschutzes „im besten Interesse“ der Versicherungsnehmerseite an die tatsächliche Entwicklung der Pandemie anzupassen. Die beklagten Versicherer hätten insbesondere auf Änderungen des Krankheitenkatalogs gemäß § 6 IfSG mit der Anpassung ihrer Betriebsschließungsbedingungen reagieren müssen.(12)  Veraltete Kataloge seien unwirksam im Sinne des § 307 Abs. 1 BGB.

Diesem Argumentationsansatz erteilt das OLG Stuttgart in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung eine Absage. Der Senat vertritt die Auffassung, dass sich aus § 1a Abs. 1 VVG keine Pflicht des Versicherers zu der Anpassung des eigenen Versicherungsprodukts an geänderte rechtliche oder tatsächliche Gegebenheiten ableiten lasse. Allenfalls habe der Versicherer in der Beratung aus dem eigenen Portfolio ein Produkt auszuwählen, das den individuellen Kundenwünschen und -bedürfnissen am besten entspreche.(13) Dieser Argumentation hat sich zwischenzeitlich auch das LG Fulda angeschlossen.(14) Vergleichbar vertritt das LG Köln, dass Betriebsschließungsversicherer zu Beginn der Pandemie ihre Versicherungsnehmer nicht aktiv auf diejenigen Konkurrenzprodukte am Markt hinweisen mussten, welche eine Deckung Covid-19-bezogener Schäden ermöglicht hätten.(15)

Ebenfalls im Kontext der Betriebsschließungsversicherung hat das LG Flensburg zu der Rechtsfrage entschieden, ob die Wohlverhaltenspflichten nach § 1a Abs. 1 Satz 1 VVG die Möglichkeiten des Versicherers beschränken, in einer deckungsrechtlichen Auseinandersetzung mit der Versicherungsnehmerseite „hart“ zu verhandeln und einseitig begünstigende Vergleichskonditionen vorzuschlagen. In dem von der Kammer entschiedenen Sachverhalt versuchte ein Versicherungsnehmer von einem zuvor mit dem Versicherer geschlossenen Vergleich auf Grundlage der sogenannten „Bayerischen Lösung“ freizuwerden.

Unter dem Oberbegriff Bayerische Lösung hatten Betriebsschließungsversicherer zu Anfang der Covid-19-Pandemie ihren Versicherungsnehmern die Abgeltung aller Ansprüche gegen Leistung von 15 Prozent der Schadensumme angeboten. Der Kläger hatte sich nach Vergleichsschluss auf die Unwirksamkeit dieser Vereinbarung berufen und unter anderem argumentiert, dass der Versicherer nach § 1a Abs. 1 VVG keine Vergleichsvorschläge unterbreiten dürfe, die auf überlegener Information über die Sach- und Rechtslage beruhten. Deswegen sei der Vergleich gemäß § 1a Abs. 1 VVG i.V.m. § 134 BGB nichtig.(16) Die Kammer verwarf diese Argumentation und vertrat stattdessen, dass § 1a Abs. 1 VVG neben § 6 Abs. 4 VVG keinen selbstständigen Regelungsgehalt habe.(17)

Fazit

Wegen des weiten Anwendungsbereichs des § 1a VVG lassen sich mit der Norm Handlungspflichten und Haftungsrisiken für Versicherungsunternehmen ableiten, die über die klassische Beratungssituation weit hinausgehen. Der Norm wird insbesondere das Potenzial zugesprochen, dem einzelnen Versicherungsnehmer durchsetzbare Rechtspositionen wegen bestimmter Verstöße gegen aufsichtsrechtliche Vorgaben und brancheninterne Kodizes zu vermitteln. Die Entwicklung einer gefestigten Rechtsprechung zu diesen Themen befindet sich noch ganz am Anfang. Erste Stellungnahmen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie deuten allerdings darauf hin, dass die Gerichte bislang zu einer eher restriktiven Auslegung tendieren. Die Entscheidungsträger in Versicherungsunternehmen und in den Rechtsabteilungen der versicherungsnehmenden Industrie sind jedoch gut beraten, aktuelle Entwicklungen aufmerksam im Blick zu behalten. 

Autoren: Dr. Thomas Heitzer ist Partner, Dr. Philipp Koch, LL.M. ist Senior Associate in der versicherungsrechtlichen Praxis der Rechtsanwaltskanzlei Noerr, Düsseldorf.

Anmerkungen:

1   Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.01.2016 über Versicherungsvertrieb, Neufassung, ABl. (EU) L 26/19.

2   Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl. 2021, § 1a Rn. 1.

3   Jeweils Rixecker, in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 1a Rn. 1.

4   Vgl. beispielsweise: BGH, Urt. v. 12.11.2003 – IV ZR 173/02, VersR 2004, 96; BGH, Urt. v. 07.02.2007 – IV ZR 244/03, VersR 2007, 633 (jeweils zur Schadenbearbeitung); OLG Hamm, Beschl. v. 12.10.2018 – 10 U 108/18, VersR 2019, 213; OLG Saarbrücken, Urt. v. 22.10.1997 – 5 U 245/97-22 (jeweils zu Beratungsfehlern).

5   Vgl. Egger, VersR 2019, 394.

6   Vgl. Reiff/Köhne, VersR 2017, 649, die eine extensive Auslegung allerdings im Ergebnis ablehnen.

7   Griese, VersR 2021, 152.

8   Brömmelmeyer, VersR 2021, 805; Wendt, VersR 2019, 257; Reiff, VersR 2018, 193.

9   Brömmelmeyer, in: HK-VVG, 4. Aufl. 2020,  § 1a Rn. 8.

10  Reiff, VersR 2018, 193; Knops, in: Bruck/Möller, VVG, 10. Aufl. 2021, § 1a Rn 22.

11  Vgl. im Überblick: Rixecker, in: Schmidt, COVID-19 – Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 12; Günther, VersR 2021, 1141; ders., VW 2021, 28; Rolfes, VersR 2020, 1021; Mützel, r+s 2021, 494; Lüttrin-ghaus/Eggen, r+s 2020, 250.

12  Vgl. zu dieser Position: Griese, VersR 2021, 152.

13  OLG Stuttgart, Urt. v. 15.02.2021 – 7 U 335/20, VersR 2021, 580; OLG Stuttgart, Urt. v. 18.02.2021 – 7 U 351/20, VersR 2021, 445; OLG Stuttgart, Urt. v. 10.06.2021 – 7 U 411/20, juris.

14  LG Fulda, Urt. v. 26.05.2021 – 4 O 430/20, juris.

15  LG Köln, Urt. v. 26.11.2020 – 24 O 262/20, juris.

16  Vgl. zu dieser Position: Frohnecke, NJW 2021, 1561.

17  LG Flensburg, Urt. v. 17.12.2020 – 4 O 143/20, VersR 2021, 449.