Wie die Debeka mithilfe der Berliner Charité die „Zeitbombe“ Covid entschärfen will

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Covid-19 ist nicht besiegt, die Folgen evident. Die Delta-Variante breitet sich weltweit aus, Long-Covid ist bereits ein gesellschaftlicher Fakt und tiefgreifende soziale Veränderungen sind unumkehrbar. Warum sich die Debeka aus diesen und weiteren Gründen mit der Charité für Maßnahmen zusammengeschlossen hat, erklärt Ina Schneider, Hauptabteilungsleiterin Krankenversicherung beim Marktführer Debeka, in einem Gastbeitrag, der weit über die Versicherungswelt hinaus Relevanz hat.

Deutschland in den ersten Julitagen 2021: Fußball-Europameisterschaft. Deutschland ist bereits ausgeschieden, woanders wird jedoch gefeiert. Und wie! In den Nachrichten Bilder von englischen Fans, die nach dem 4:0 gegen die Ukraine einander um den Hals fallen und auf den Tischen tanzen. Pubs, Biertische, Menschentrauben, Hochstimmung. Corona-Schutzmasken sehe ich nicht einmal an den Handgelenken baumeln. Wenige Wochen davor, ein Handyvideo von schottischen „Schlachten­bummlern“ auf der Heim­reise nach einem Spiel, in einem voll besetzten Bus. Alle grölen, und natürlich hat keiner eine Maske auf.

Beneidenswerte Briten, dachten wir damals. Die sind also alle geimpft und somit sicher? Denn ihre Impfkampagne war massiv und schnell, anders als wir haben sie an der richtigen Stelle geklotzt. Pubs und Restaurants öffneten bereits im Frühjahr, endlich wieder Rückkehr zur Normalität. Endlich! Und wie würde sich die neu erwachte Lebenslust zeigen? Etwa wie damals, vor hundert Jahren, nachdem die sogenannte Spanische Grippe (deren Ursprung im Mittleren Westen der USA war) in mehreren Wellen ein Prozent der damaligen Weltbevölkerung ausgelöscht hatte? Es folgten die Roaring Twenties, eine Epoche des gesellschaftlichen Aufbruchs, der Euphorie und des Unternehmergeists, geprägt aber auch von Hedonismus, beispielloser Freizügigkeit und Räuschen jeglicher Art – für  die, die es sich leisten konnten. Kann es also sein, dass die Fußballeuphorie heute erst der Vorbote eines viel größeren Aufbruchs ist?

In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Zuversicht begründet. Etliche Branchen erholen sich durchaus beeindruckend vom Corona-Einbruch, deutlich schneller als nach der Finanzkrise 2008. Die Börsen, Vorboten der Entwicklung, setzen schon wieder neue Höchstmarken. Man fährt wieder in den Urlaub, auch ins Ausland, fährt Bahn oder steigt ins Flugzeug. Und die neue Bundesliga-Saison soll mit bis zu 25.000 Stadion-Besuchern je Spiel starten, so heißt es.

Zu früh gehofft

Das war’s leider auch schon mit den guten Nachrichten. Denn in Wirklichkeit gibt es keine Entwar­nung, aus drei Gründen: Erstens, schon die bisherige Pandemie hat zu einer Reihe von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen geführt, mit dramatischen psychosozialen und psychosomatischen Konsequenzen. Zweitens, diese Entwicklung wird sich sogar verstärken, denn die hochinfektiöse Delta-Mutation, auch „die indische Variante“ genannt, breitet sich gerade weltweit aus. Und drittens zeigt ein Teil der von Covid Genesenen ein chronisches Krankheitsbild, das ihre Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Angesichts der Ausbreitung des Virus ist das mehr als eine Herausforderung für Individuen, Familien und Gesundheitssysteme. Es wird eine erhebliche Dauer­belastung für die gesamte Gesellschaft werden und bleiben.

Zum ersten Punkt. Corona hat viele Menschen weltweit über Monate in die eigenen vier Wände gezwungen. Das hat das Wohlbefinden aller beeinträchtigt. Alleinlebende Menschen litten unter der Isolation, manche wurden depressiv; vorhandene depressive Neigungen wurden verstärkt. Dort, wo mehrere Personen zusammenleben, also in Familien, Ehen und Beziehungen, entstanden Aggressio­nen, die natürlich zulasten der Schwächeren gingen: Die Gewalt gegen Frauen hat europaweit um 30 bis 40 Prozent zugenommen, aber auch die Misshandlung von Kindern. Kinder sind noch auf andere Weise die Leidtragenden: Lange Phasen der Abwesenheit vom regulären Unterricht hat sie in ihrer Ent­wicklung um mindestens zwei Monate zurückgeworfen. Dieser Komplex ist schwer zu fassen, doch er hat ein enormes Gewicht. Denn er betrifft die ganze Breite unserer Gesellschaft. Die Folgen sind nicht ohne Weiteres erkennbar, aber sie sind dennoch da. Es wird lange dauern, ehe sie bewältigt sind.

Was das zweite Argument betrifft, die rasche Ausbreitung der Delta-Variante: Diese Mutation des Virus ist um den Faktor zwei bis drei ansteckender als das ursprüngliche Wuhan-Virus. 2020 hat in Großbritannien die Alpha-Mutation noch drei Monate gebraucht, ehe alle anderen Typen verdrängt waren; die Delta-Variante schafft das doppelt so schnell. Selbst eine vollständige Impfung stellt keine ernsthafte Hürde dar, allenfalls eine Verlangsamung: nach einer aktuellen Einschätzung britischer Wissenschaftler gehen etwa drei Viertel der Delta-Ausbreitung auf das Konto ungeimpfter Personen, der Rest geschieht über bereits Geimpfte. Wenn wir uns die aktuellen Impfquoten ganzer Länder anschauen, wird das Bild noch dramatischer: In der reichen Welt stehen die USA und Großbritannien vergleichsweise gut da, aber was heißt das schon? Die Vereinigten Staaten als Ganzes nähern sich einer Impfquote von 50 Prozent. In ländlichen Bundesstaaten wie Mississippi oder Alabama liegt sie dennoch erst bei 30 – ideale Bedingungen für die erneute Ausbreitung im ganzen Land. Es passt ins Bild, dass New York City wieder mehr Neuinfektionen meldet. In Großbritannien sind 53 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft – aber allein am 4. Juli gab es landesweit 20.000 Neuinfektionen; die Inzidenz lag in London an diesem Tag bei 212. In Israel, einem weiteren Impfchampion, erfolgt sogar jede zweite Delta-Ansteckung bei Personen, die vorher vollständig mit BioNTech-Pfizer geimpft wurden. Dabei sind das noch die besten Impfbeispiele weltweit, von deren Quoten andere nur träumen können: Russland, geprägt vom Misstrauen gegenüber dem eigenen Sputnik-Impfstoff, liegt bei nur zehn Prozent, Indien sowie ein Großteil Afrikas bei gerade mal einem Prozent. Die Quittung: Stand 28. Juni waren laut dem Economist in Russland bereits 89 Prozent aller Corona-Infektionen der Delta-Variante zuzurech­nen, in Großbritannien 91 Prozent und in Indien gar 97 Prozent.

So sieht es also aus in der Welt, in der führende deutsche Politiker uns „weitere Lockerungen“ in Aussicht stellen, in der die britische Regierung am 19. Juli fast alle Corona-Maßnahmen aufgehoben hat. Die Welt der vollen Fußballstadien und Strände. Zwei Drittel der bisher 2.000 neuen Covid-Diagnosen in Schottland wurden bei reisenden Fußballfans gefunden.

Wen das Virus nicht loslässt

Damit kommen wir zum dritten Argument: den Covid-Langzeitfolgen. Was gemeint ist, kann ich am Beispiel meiner Freundin Lisa skizzieren, mit der ich mich erst vor wenigen Tagen auf einen Spazier­gang traf. Als Lisa im März 2020 erkrankte, waren die Symptome vergleichbar mit einer milden Grippe. So schonte sie sich erst einmal und war guter Hoffnung, dass es bald bergauf gehen würde. »Zu Beginn spürte ich kaum die Auswirkungen«, sagt sie. »Normalerweise hätte ich diesen überhaupt keine Beachtung geschenkt.«

Doch innerhalb einer Woche verschlechterte sich ihr Zustand dramatisch. „Ich hatte mich noch nie so krank gefühlt. Als ob tonnenschwere Steine auf meiner Brust liegen würden. Zeitweise war ich über­zeugt, dass ich sterben würde.“ Ein Jahr später geht es ihr besser, und doch: „Ich hatte seitdem keinen einzigen symptomfreien Tag mehr, selbst dieser kleine Moselspaziergang strengt mich an. Wenn ich wieder zu Hause bin, muss ich mich erst einmal ausruhen.“

Was Lisa hat, wird als Post Covid oder auch Long Covid bezeichnet: eine Erkran­kung, die nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftritt. Die WHO geht derzeit davon aus, dass bis zu zehn Prozent der Corona-Erkrankten später zu Long-Covid-Patienten werden.

In den ersten Monaten der Pandemie wurden mögliche Langzeitfolgen kaum beachtet. Zu verzweifelt war der Kampf mit den akuten Fällen, zu unspezifisch und heterogen erschienen zunächst die Symp­to­me bei denen, die selbst nach Monaten nicht vollständig genesen konnten. Erst im Januar 2021 überarbeitete die Weltgesundheitsorganisation ihre Richtlinien und empfahl, dass alle Patientinnen und Patienten Zugang zu einer Nachsorge haben sollten.

Das Post-COVID-19-Syndrom ist eine Multisystemerkrankung, das heißt viele verschiedene Symptome können auftreten. Zu den häufigsten Symptomen des chronischen Verlaufs gehören eine andauernde, Erschöpfung mit psychischer und physischer Minderbelastbarkeit (58 Prozent), auch Fatigue genannt, aber auch Kopfschmerzen, belastungsabhängige Luftnot, anhaltende Geruchs- und Geschmacksstörungen, Haarverlust und Gedächtnisstörungen können auftreten. Aktuell erfolgt die Definition der Erkrankung aufgrund von Symptomen, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Akutinfektion aufgetreten sind. Der Begriff Long-COVID-19 umfasst klinische Symptome, die während oder nach COVID-19 aufgetreten sind; die Akutinfektion liegt hierbei mindestens vier Wochen zurück Ein Post-COVID-19-Syndrom liegt dann vor, wenn klinische Symptome und pathologische Untersuchungsbefunde während oder nach einer mit COVID-19 vereinbaren Erkrankung auftreten und für mindestens zwölf Wochen nach der Akutinfektion andauern und nicht durch andere Diagnosen erklärt werden können.

Das chronische Syndrom scheint häufiger bei Frauen als bei Männern aufzutreten. Es sind alle Altersgruppen betroffen. Auch Kinder, die positiv auf das Virus getestet wurden, können nach drei Monaten Symptome aufweisen, was derzeit als Hinweis auf Long Covid gewertet wird.

Der Mechanismus

Wie kommt es überhaupt zu diesem chronischen Verlauf? Weiß man etwas über die zugrunde liegen­den Mechanismen? Über diese Frage sprach ich mit Frau Dr. med. Christiana Franke, Leiterin der Post-COVID-Ambulanz und Oberärztin an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Sie erläutert:

„Man könnte annehmen, dass es das Virus selbst ist, dass zum Auftreten der beschriebenen Symptome führt. Dies scheint jedoch, wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Wir gehen zum jetzigen Zeitpunkt eher davon aus, dass es bei einem Teil der Patienten Antikörper sind, also eine spezifische Immunreaktion, die durch das Virus ausgelöst wird und zu Symptomen führt“. Für die Hypothese spricht, dass das Team von Frau Dr. Franke im Blut und im Nervenwasser von akut infizierten COVID-19-Patienten und zu einem kleineren Teil auch bei Post-Covid-Patienten Autoantikörper gefunden hat, die jetzt noch weiter zugeordnet werden müssen.

Die Uhr tickt

Für einen Moment könnte man meinen, mit diesen Beschwerden hätten nur wenige unglückliche Betroffene zu kämpfen. Leider ist das Gegenteil der Fall, wie ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht. Denn weltweit gibt es bisher rund 175 Millionen bestätigte Covid-19-Fälle, davon etwa 3,73 Millionen in Deutschland[1]. Wenn wir das eingangs erwähnte Risiko weiterer Mutationen berücksichtigen, müssen wir uns in Deutschland auf mindestens 200.000 Post-Covid-Patienten einstellen, mit steigender Tendenz – Menschen, deren Lebens­quali­tät und Arbeitsfähigkeit langfristig beeinträchtigt bleiben wird. Es ist eine Zeitbombe.

Angemessene Einordnung – die Basis für eine wirksame Behandlung

Der Economist hat schon in einem früheren Beitrag sehr richtig festgestellt: Nachdem Regierungen weltweit bei den direkten Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung so manchen Fehler auf Kosten ihrer Bürger begangen haben, sei es jetzt zwingend notwendig, dass die Post-Covid-Betroffenen auf­gefangen und langfristig zuverlässig betreut werden. Kollektive Unterstützung ist hier die angemes­sene Antwort auf individuelles Leid. Über die moralische Verpflichtung hinaus ist das auch eine volks­wirtschaftliche Notwendigkeit, denn: es werden schlicht zu viele sein.

Der erste Schritt besteht darin, das Problem der Covid-Langzeiterkrankung als solches zu benennen, eine klinische und nicht nur zeitliche Definition zu entwickeln und sämtliche zugeordneten Maßnahmen (Diagnose, therapeutische Behandlung, psychosoziale und wirtschaftliche Unterstützung, Reintegration) zu bündeln. Dies ist umso wichtiger, als wir in den ver­schiedenen Disziplinen noch dabei sind, die volle Tragweite des Problems zu verstehen. Die richtige Kategorisierung gibt den Betroffenen Halt und fokussiert die Behandelnden auf die richtigen Fragen, während die medizinische Forschung noch Zeit brauchen wird. Frau Dr. Franke dazu: Viele Menschen mit „Long Covid“ haben Probleme auf mehreren Ebenen. Das deutet auf eine Multisys­temstörung hin. Aus diesem Grund ist eine Vernetzung aller medizinischen Disziplinen, somatisch wie psychosomatisch, unabdingbar. Im Moment sind unsere Möglichkeiten ziemlich begrenzt, weil viele Aspekte der neuen Krankheitsentität noch unverstanden sind. Wir versuchen die Menschen körperlich und seelisch auf allen Ebenen zu unterstützen, sodass sie langsam wieder ins Berufsleben zurückfinden. Je nach Schwere­grad und Hinweisen bei der Diagnostik könnten immunmodulatorische Therapien wirksam sein. Anekdotenhaft wird berichtet, dass auch die Impfung gegen Covid-19 helfen kann, die Symptome maßgeblich zu verbessern.

Konkrete Hilfe

Von den rund 2,5 Millionen versicherten Mitgliedern der Debeka waren oder sind nach aktuellem Stand etwa 45.000 von einer Covid-Infektion betroffen. Wir schließen daraus auf bis zu 6.000 Post-Covid-Patienten. Wir unterstützen sie mit dem sogenannten CovidCare-Programm, das die Debeka gemeinsam mit dem Tochterunternehmen Widecare GmbH entwickelt hat.

Im ersten Schritt geht es darum, die potenziell Betroffenen auf die Anzeichen einer Langzeiterkran­kung überhaupt hinzuweisen und sie zu informieren, wo sie gezielt Unterstützung finden. Die richtige Anlaufstelle, ob eine Corona-Ambulanz, eine Klinik oder ein hochspezialisiertes interdisziplinäres Team wie das der Charité, spart allen Beteiligten Zeit und unnötigen Aufwand. Dort wird dann ein Screening auf Post-Covid-Verdacht durchgeführt. Ab hier begleitet ein persönlicher Coach die Patienten und unterstützt diese individuell. Der Coach ist zentraler Ansprechpartner für sämtliche Fragen, ganz gleich ob in Sachen Gesundheit, Behandlung oder Abrechnung. Je nach Bedarf werden digitale Apps oder telemedizinische Anwendungen hinzugezogen.

Noch stehen wir am Anfang eines tieferen Verständnisses der Covid-Langzeitfolgen. Dieses Know-how werden wir im Programm der Widecare GmbH bündeln und bei Interesse gerne auch anderen privaten oder gesetzlichen Krankenversicherern zur Verfügung stellen. Sprechen Sie uns darauf an.

Autor: Ina Schneider, Hauptabteilungsleiterin Krankenversicherung beim Marktführer Debeka.

Ina Schneider (links) und Annabritta Biederbrick, Vorstand der Debeka, (rechts). Quelle: Debeka

[1] RKI Stand 06.07.21 – Fußnote: bestätigte labordiagnostische Nachweise unabhängig vom Vorhandensein oder der Ausprägung der Symptomatik