AGCS-Manager Hans-Jörg Mauthe: „Allein für die AGCS summieren sich die Schadenrückstellungen in 2020 auf rund 500 Mio. Euro“

Hans Jörg Mauthe. Quelle: AGCS.

Der Industrieversicherer AGCS hat 2020 erneut mit einem Verlust von 482 Mio. Euro abgeschlossen. Im Exklusiv-Interview mit VWheute skizziert Hans-Jörg Mauthe, Regional Managing Director der Region Zentral- und Osteuropa, die Corona-Folgen für die Industrieversicherer und welche Auswirkungen dies auf die Prämienentwicklung hat.

VWheute: Corona hat in den vergangenen Monaten auch die Versicherungsbranche spürbar durcheinander gewirbelt. Welche Auswirkungen sehen Sie derzeit für die Industrieversicherer und welche pandemiebedingten Folgen sehen Sie derzeit bei Ihren Kunden? Wie hoch rechnen Sie zudem das Risiko weiterer Pandemien ein und wie sollten die Industrieversicherer darauf reagieren?

Hans-Jörg Mauthe: AGCS verzeichnet wie auch viele andere Industrieversicherer eine große Anzahl von Covid-19-Schäden, meist im Bereich Entertainment und hier vor allem durch abgesagte und verschobene Veranstaltungen oder eingestellte Filmproduktionen. Die meisten Ansprüche kommen aus den USA, Großbritannien und Deutschland. Daneben gibt es auch noch geringe Schadenbelastungen durch Betriebsunterbrechungen. Allein für die AGCS summieren sich die Schadenrückstellungen in 2020 auf rund 500 Mio. Euro.

Das jüngste Allianz Risiko Barometer hat gezeigt, dass sich die Risiko-Agenda der Unternehmen durch Covid-19 verändert hat: Während das Risiko einer Pandemie in früheren Jahren in der Regel auf den hinteren Plätzen unserer jährlichen Umfrage rangierte (2020 lag es auf Platz 17), belegt es nun Platz Drei.

Die Coronavirus-Pandemie hat uns daran erinnert, dass sich das Risikomanagement und das Business Continuity Management der Unternehmen weiter entwickeln müssen, damit sie besser gegen extreme Ereignisse gewappnet sind und diese überstehen können. Viele Unternehmen haben in den vergangenen Monaten festgestellt, dass ihre Krisenpläne durch das schnelle Tempo der Pandemie und die Änderungen der öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen schnell überfordert waren. Entscheidend ist deshalb mehr denn je ein vertiefter Risikodialog zwischen Versicherer und Versicherten und ein noch stärkerer Fokus auf den Bereich Schadenprävention und Krisenmanagement.

VWheute: Stichwort Betriebsunterbrechung: Corona hat in den letzten Monaten dazu geführt, dass einige Industrieunternehmen ihre Produktion vorübergehend unterbrechen mussten. Inwieweit hat sich dies auf die Industrieversicherer ausgewirkt?

Hans-Jörg Mauthe: In der Tat mussten Industrieunternehmen feststellen, dass extreme Betriebsunterbrechungs-Ereignisse globalen Ausmaßes wie eine Pandemie nicht nur theoretisch sind, sondern eine reale Bedrohung darstellen, die zu massiven Umsatzverlusten und Unterbrechungen von Produktion, Betrieb und Lieferketten führen können. Die Pandemie reiht sich damit in die wachsende Liste der Szenarien für eine Betriebsunterbrechung ohne voran gegangenen Sachschaden wie Cyber- oder Stromausfälle ein.

Die Auswirkungen für die Industrieversicherer waren gering: Ein dort versicherter Betriebsunterbrechungsschaden an der Betriebsstätte kann grundsätzlich nur aufgrund eines physikalischen Schadens oder einer Beschädigung ausgelöst werden. Behördliche Anordnungen als Auslöser für Schließungen oder Lieferkettenunterbrechungen, wie wir sie bei der Pandemie erlebt haben, sind kein Auslöser für einen Betriebsunterbrechungsschaden. Nur sehr wenige Firmen haben Deckungselemente für Betriebsunterbrechungen ohne Sachschaden gekauft.

VWheute: Die weltweiten Preise für Industrieversicherungen stiegen laut Global Insurance Market Index im dritten Quartal dieses Jahres um durchschnittlich 20 Prozent. Der Anstieg ist der höchste seit der Einführung des Index im Jahr 2012. Wie begründen Sie den Preisanstieg?

Hans-Jörg Mauthe: Wir haben in den zurückliegenden Quartalen einen weltweiten Trend zu Ratenerhöhungen in allen Märkten und Sparten gesehen, ursächlich dafür ist die Schadenentwicklung und ein über Jahre unauskömmliches Prämienniveau für viele Versicherer – vor allem in Kombination mit auf steigenden Risiken und negativen Schadentrends. Generell war der Markt über fast ein Jahrzehnt durch einen starken Preisverfall geprägt. Auch die AGCS war hiervon betroffen: Seit 2015 haben wir eine durchschnittliche Combined Ratio von 106 Prozent verzeichnet. Das bedeutet, dass wir für jede 100 Euro Prämie, die wir erhalten, sechs Euro verlieren. Generell war der Markt über fast ein Jahrzehnt durch einen starken Preisverfall geprägt.

Risiken und Schäden einerseits und die Prämien andererseits haben sich im „Soft Market“ auseinanderentwickelt. Sowohl Frequenz- als auch Großschäden haben in den letzten Jahren zugenommen, sodass wir auf diese Schadentrends und neue Risikoexponierungen reagieren mussten. Insbesondere sehen wir eine höhere Konzentration von Vermögenswerten und mehr Auslöser, die zu einem Anstieg der Betriebsunterbrechungsschäden führen können.

Fehlerhafte Produkte in globalen Lieferketten haben zu hohen Rückrufschäden unter anderem in Deutschland geführt. Cyberrisiken nehmen zu. Und der Klimawandel führt zu mehr extremen Wetterereignissen. Wichtig ist, dass wir in diesem Marktumfeld fair und transparent mit unseren Kunden umgehen, sie frühzeitig über Veränderungen informieren und ihnen die aktuelle Situation erklären. Uns ist es wichtig ein langfristig verlässlicher Partner zu sein und negative Überraschungen für alle unsere Interessengruppen zu vermeiden – und dazu gehören natürlich unsere Kunden an vorderster Stelle.

VWheute: Laut jüngstem Risikoreport zum WEF gehört der Klimawandel zu den größten Risiken: Wie reagieren die Unternehmen darauf und was bedeutet dies für die Industrieversicherer?

Hans-Jörg Mauthe: Auch wenn der Klimawandel von der Pandemie in den Hintergrund gedrängt wurde, bleibt er eines der größten Risiken der Gegenwart. Im Allianz Risk Barometer für Deutschland stieg das Risiko sogar um zwei Plätze und rangiert jetzt auf Platz Neun.

Die Notwendigkeit, den Klimawandel zu bekämpfen, bleibt so hoch wie eh und je – 2020 war eines der wärmsten Jahre seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen. Unternehmen weltweit fürchten vor allem eine Zunahme der Sachschäden, da der Anstieg des Meeresspiegels, längere Dürrephasen, heftige Stürme und massive Überschwemmungen Fabriken und andere Unternehmensgüter gefährden und weltweit Transport-, Lieferketten- und Energienetzwerke lahmlegen könnten.

In Deutschland fürchten sich Unternehmen in Sachen Klimawandel nicht nur vor Sachschäden, sondern vor allem vor den potenziellen Auswirkungen auf Absatzmärkte, etwa durch den Wandel zur Elektromobilität oder neue Emissionsvorschriften.

Der Klimawandel konfrontiert Unternehmen auch mit neuen Haftungsrisiken wie die Zahl zunehmender Klagen v.a. in den USA und neuerdings auch Deutschland zeigt. Nicht zuletzt die wachsende Regulierung rund um Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit wird Unternehmen dazu drängen, ihre Geschäftsmodelle zu überdenken und klimafreundlicher auszurichten – ohnehin gibt es hier auch viele Wachstumschancen.

Als Versicherer und Asset Manager will die Allianz Gruppe zu einer nachhaltigen und sicheren Zukunft für unsere Kunden, Mitarbeiter und die Gesellschaft beitragen und unterstützt deshalb aktiv den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft.

VWheute: Neben dem Klimawandel gehören Cyberattacken zu den größten Risiken: Wie gehen die Industrieversicherer mit diesem Risiko um?

Hans-Jörg Mauthe: Cybervorfälle bleiben eine der Hauptgefahr für Unternehmen. Im Allianz Risiko Barometer nehmen sie weiterhin Platz Zwei in Deutschland ein. Die durch die Pandemie getriebene Beschleunigung hin zu mehr Digitalisierung und Home-Office haben IT-Schwachstellen weiter verschärft.

Covid-19-bezogende Malware- und Ransomware-Vorfälle haben während des Lockdowns im Frühling stark zugenommen, während Cyberkriminalität mittlerweile die Weltwirtschaft mehr als eine Billion US-Dollar kostet. Die ohnehin schon häufigen Ransomware-Angriffe nehmen weiter zu und nehmen mit hohen Erpressungsforderungen zunehmend Großunternehmen ins Visier.

Covid-19 hat zudem gezeigt, wie schnell sich Cyberkriminelle anpassen können. Der Digitalisierungsschub durch die Pandemie hat neue Möglichkeiten für Angriffe geschaffen. So nutzen Angreifer mittlerweile automatisiertes Scannen, um Sicherheitslücken zu erkennen, greifen schlecht gesicherte Router an oder bedienen sich sogenannter ‚Deepfakes‘, also Medieninhalten, die mit künstlicher Intelligenz manipuliert sind.

Gleichzeitig nehmen die Regulierung des Datenschutzes sowie Bußgelder und Strafen im Falle von Datenschutzverletzungen weiter zu. Wir beobachten die laufende Weiterentwicklung der Cyberrisiken sehr genau, auch zusammen mit spezialisierten Partnern. Da sowohl die Nachfrage nach Cyberdeckungen als auch die Cyberrisiken und -schäden zunehmen, verfolgen wir einen umsichtigen und disziplinierten Underwriting-Ansatz, um ein gut diversifiziertes und profitables Cyberbuch zu schaffen.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Tobias Daniel.

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