Es war einmal das Kerngeschäft Versicherung…

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Die Branche geht mit der Coronakrise durch eine ihrer schwierigsten zeithistorischen Etappen. Wenn man sich hinter den Kulissen umhört, reden die Chefs und Abteilungsleiter aber viel lieber von Plänen einer digitalen Strategie-Offensive als sich in Krisenrhetorik zu verlieren. Versicherer wollen unbedingt am Ball bleiben in einer Zeit, in der sich alles bewegt und der Kunde gerade dabei ist, sein Kaufverhalten zu überdenken. Branchenhorizonte werden weiter, Grenzen verschwimmen, gewisse Hürden bleiben. Das digitale Gesamtbild könnte höher aufgelöst sein.

Aus der Not geboren, entdeckten die Versicherungsvorstände in den letzten Wochen plötzlich die großen Vorzüge nichtanaloger Treffen – ob Bilanzpressekonferenz oder Hauptversammlung. Gefühlt nahmen die Veranstaltungen die Hälfte der sonst üblichen Zeit in Anspruch, Kosten sind gesunken. Und Aktionäre könnten künftig mehr Lust bekommen teilzunehmen, da sie nicht anreisen müssen. Indes stieg bei manchen Versicherern die Homeoffice-Quote auf über 90 Prozent – und es funktionierte. Gute Tendenzen in einer schwierigen Zeit.

Einen Schub für den digitalen Ausbau sieht etwa Allianz-Chef Oliver Bäte in der aktuellen Pandemie. In München habe sich allein die Zahl der virtuellen Besprechungen und Kundenberatungen in der letzten Zeit verdreifacht.

Rechtsschutzversicherer Arag hat mit dem „Smart Insurer Programm“ eigenen Angaben zufolge, die Voraussetzungen für den pandemiebedingt notwendigen „schnellen und reibungslosen“ Umzug der Mitarbeiter ins Homeoffice geschaffen. „Der Betrieb laufe seither problemlos, sagt Paul-Otto Faßbender-Nachfolger und Vorstandschef Renko Dirksen.

Die Deutsche Vermögensberatung AG (DVAG) und das Fintech Ökosystem Finleap ihrerseits haben angesichts der verändertenSpielregeln den Launch eines digitalen Beratungstools vorgezogen. Wie kaum zuvor gilt die Devise, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein.

Gesellschaftliche Normen verschieben sich, Versicherer müssen reagieren

Plötzlich werden am Standort D Dinge geschaffen, die bisher unmöglich schienen. Die Versicherer mittendrin. Sie passen sich den veränderten Spielregeln unter Corona an, richten ihr Geschäft neu aus. Digitale Strategie-Offensive statt Krisenrhetorik. Soziale, gesellschaftliche und kulturelle Normen verschieben sich, neue Bedürfnisse, Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen wachsen heran. Daraus müssen auch Versicherer ihre Schlüsse ziehen. Daran könnten sie wachsen.

„Die Krise scheint wie ein Beschleuniger für Digitalisierungsinitiativen zu wirken, vor allem an der Schnittstelle zum Kunden, wo immer mehr Self-Service-Plattformen entstanden sind, um die Kunden in die Abwicklung von Prozessen einzubeziehen und die operative Belastung in den eigenen Einheiten zu reduzieren. Gleichzeitig werden virtuelle Arbeitsformen getestet und genutzt, die auch in Zukunft eingesetzt werden könnten“, weiß Claudia Fell, Head of Strategy Consulting Insurance bei KPMG, aus ihrer täglichen Beratungstätigkeit. Zudem steige das Risikobewusstsein in der Bevölkerung und bringe womöglich eine höhere Nachfrage nach Vorsorge- und Präventions-Service sowie den Bedarf nach neuen, flexiblen Produkten mit sich. Die Chancen sind greifbar.

Versicherer verändern ihre Rolle

Eigentlich liegt das Kerngeschäft eines Versicherers in der Übernahme von Risiken gegen Entgelt bei gleichzeitiger Zusage einer Ersatzleistung im Schadenfall. Im Vordergrund steht die Absicherung des Versicherungskunden. Traditionell wird der Abschluss des Versicherungsgeschäfts durch einen Vermittler begleitet, der am Ende das Geschäft mit der Aufnahme des Versicherungsantrages besiegelt. Der Antrag findet den Weg zurück in das Versicherungsunternehmen, in welchem dieser abschließend bearbeitet wird. So viel zum Protokoll.

Laut einer Swiss Re-Studie wandelt sich die wesentliche Aufgabe der Versicherer von dieser reinen Verlustentschädigung hin zu einer breiteren beratenden Rolle zur Risikoprävention und -reduktion. Vor allem die junge Klientel erwartet einen schnellen Zugang zu Fakten, Transparenz und eine stärker personalisierte Kauferfahrung, die dem jeweiligen Lebensstil entspricht. „Dank granularer Daten können die Versicherer ihre Kunden besser segmentieren und so neue maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen entwickeln sowie bestehende in Echtzeit anpassen“, sagt Jeffrey Bohn, Chief Research & Innovation Officer beim Swiss Re Institute.

Eine der Folgen: Die Branche erhält kontinuierlichen Zugang zu unterschiedlichsten Daten, beispielsweise von vernetzten Geräten und Plattformbetreibern sowie zu verhaltensbasierten Erkenntnissen aus Verbraucher- und Umweltdaten.

Insurance-Kosmos groß genug für alle?

Auch wundert es heute keinen mehr, wenn das schwedische Möbelhaus Ikea Hausrat- und Haftpflichtversicherungen anbietet, der Mobilfunkanbieter Vodafone in die Autoversicherung einsteigt oder der Einzelhändler Tchibo als gebundener Vermittler Policen der Hanse Merkur verkauft. „Wenn es erforderlich ist, bleibt der Versicherer nur noch reiner Risikoträger, von dem der Endkunde gar nichts weiß“, erklärt Jürgen Wessalowski, Lead Business Consultant bei msg systems.

Die Grenzen zwischen Versicherung und anderen Branchen verschwimmen. Mal wagen sich neue Player ins Feld, mal werden Partnerschaften geschnürt, die eine All- Inclusive-Welt kreieren. Tchibo-Marketingchef Philipp Andrée bringt es auf den Punkt. „Mit der Erweiterung des Dienstleistungsangebotes können wir unsere Kunden noch besser durch jede Situation des Alltags begleiten.“

Darum geht es: überall, zu jeder Zeit beim Verbraucher zu punkten – und mögliche Geschäftspotenziale abzuschöpfen. Nicht nur Technologiegiganten wie Google, Facebook oder Twitter, mit enormen Kundendatenallokationen und dem Potenzial für unbefangenen technologischen sowie vertriebs- und marketingstrategischen Zugang zum Thema Versicherung, sondern auch vertikale versicherungsnahe Industrien bewerten das Geschäftsfeld als lukrativ.

Am Standort D vielleicht auch deshalb, weil man mit einer Versicherungsdichte von ca. 2.200 Euro in Relation zu den Einwohnern weit hinter Nationen wie England (3.400 Euro), Niederlande (4.700 Euro), Schweden (3.100 Euro) oder Frankreich (2.900 Euro) liegt.

Der Markt indes wird enger, die Wettbewerbsintensität größer, das Angebotsspektrum weiter. „Die traditionelle Geschäftslogik der Versicherung führt langfristig zum Wertabfluss aufgrund branchenweitem Kostenfokus und steigendem Wettbewerbsdruck mangels Innovationskraft und schafft Raum für neue Wettbewerber“, glaubt Deloitte.

Allianz und Axa wollen, Ping An kann

Wie Versicherungen einfacher ausgestaltet werden und mehr bringen, weiß Alexander Vollert. Für den Deutschlandchef der Axa-Deutschland ist die Versicherungsindustrie unumkehrbar auf dem Weg von der bilateralen Austauschbeziehung hin zum multilateralen Netzwerk – dem Ökosystem.Durch den Aufbau dieser rund um Versicherungsleistungen könne mehr Kundennähe entstehen. Axa sieht hier Potenziale vor allem in den Bereichen Gesundheit sowie kleine und mittelständische Unternehmen.

Häufig fällt in diesem Kontext auch der Name Ping An. Das chinesische Unternehmen hat sein komplettes Bestandsgeschäft auf cloud-basierte Plattformen überführt. Jede dieser Plattformen bietet dem Konzern auf diese Weise vielfältige Anknüpfungspunkte, um gerade auch solche Ökosysteme aufzubauen, die weit über das eigentliche Versicherungsgeschäft hinausgehen. Daraus resultiert fortwährend die Möglichkeit, bestehende Wertschöpfungsketten zu erweitern. Heute gehört Ping An laut Forbes als einziger Versicherer zu den global zehn größten Unternehmen.

In Deutschland treibt die Münchener Allianz ihre digitalen Pläne mit Prestige-Projekt Iconic Finance, das öffentlich unter der Marke Heymoney auftritt, voran. Wie bei Ping An gilt auch hier die Marschroute, gewohnte Wirkungskreise über das reine Versichern hinaus zu erweitern. Geplant ist eine App, mit der Kunden ihre eigene Finanzwelt steuern können.

Versicherer tüfteln an ihren Angeboten. Und das Kerngeschäft? Im Prinzip bleibt es, wo es ist. Nur mit gewissen Verschiebungen – von der Schadenregulierung zur Schadenprävention, vom Solo-Produkt zum Allroundpaket, von der Austauschbeziehung zum Netzwerk. Ein vielschichtiges Terrain. Jetzt muss der Kunde nur noch zugreifen.

Autor: Michael Stanczyk

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