Wie ein Zinsrückgang um 50 Basispunkte die Solvenz eines Lebensversicherers um bis zu 26 Prozent belastet

Quelle: Deutsche Börse

Mit sinkenden Zinsen wird die garantierte Mindestverszinsung immer teurer. Immer längere laufende Anleihen werden jetzt stark nachgefragt. Deutsche Lebensversicherer müssten für rund 150 Mrd. Euro dreißigjährige Anleihen kaufen, nur um wieder die Zinssensitivität zu erreichen, der sie Anfang 2018 ausgesetzt waren. Das wirkt sich wiederum negativ auf den Zinstrend aus.

Der starke Zinsrückgang in Europa letzten Sommer hat viele Marktbeobachter überrascht. Zwar verschlechterten sich die Konjunkturindikatoren und die Europäische Zentralbank (EZB) bereitete eine weitere Lockerung der Geldpolitik vor, gleichwohl erstaunten Tempo und Ausmaß der Bewegung. Ein Auslöser hierfür war sicherlich die europäische Lebensversicherungsbranche, angetrieben durch ein Asset-Liability-Management (ALM) unter Solvency II. Der Zinsrückgang zwischen Ende 2018 und Mitte 2019 führte sowohl zu Verlusten bei den Eigenmitteln als auch zu einem Anstieg des Kapitalbedarfs, da die Verbindlichkeiten der Lebensversicherer tendenziell umso zinssensitiver werden, je weiter die Zinsen fallen.

Dieses im Finanzjargon Konvexität genannte Phänomen kommt dadurch negativ zum Tragen, dass viele Versicherungsverträge eine Mindestverzinsung garantieren, deren Finanzierung wiederum mit sinkenden Zinsen teurer wird. Dies führt zu einem prozyklischen Verhalten: Bei fallenden Zinsen müssen die Versicherer immer länger laufende Anleihen kaufen, was wiederum den Zinsrückgang verstärkt. Gleichzeitig verflacht sich die Zinsstrukturkurve, da die Versicherer die am längsten laufenden Anleihen am stärksten nachfragen. Diese bieten ihnen bei einem weiteren Renditerückgang den wirksamsten Schutz.

Solvency-II-Regeln dämpfen auf zwei Arten die Zinsänderungen

Analysen von Société Générale zufolge belastet ein Zinsrückgang um 50 Basispunkte die Solvenz der verschiedenen europäischen Lebensversicherer um sieben bis 26 Prozentpunkte; bei den meisten großen Versicherern lag die Belastung zwischen acht und 13 Prozentpunkten. Der tatsächliche Verlust an ökonomischer Solvenz war wahrscheinlich noch deutlich größer. Denn die Solvency-II-Regeln dämpfen gleich auf zweierlei Weise die Auswirkung von Zinsänderungen auf die regulatorische Solvenz. Erstens schlagen Zinsänderungen nur voll auf Cashflows von weniger als 20 Jahren durch; für längere Zeiträume wird der Forward-Zinssatz auf den sogenannten ultimativen Terminkurs („Ultimate Forward Rate“) fixiert.

Letztgenannter Satz kann zwar im Laufe der Zeit angepasst werden, wenn er unrealistisch erscheint, dies geschieht aber nur langsam und mit Zeitverzögerung, um die Branche vor zu vielen Sprüngen und Anpassungen zu schützen. Zweitens befindet sich die Branche erst im vierten Jahr eines von der europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde EIOPA vorgegebenen 16-jährigen Übergangs von den alten Solvabilitätsregeln zu einem vollständig marktwertbasierten System. Unter letztgenanntem Regime wäre der Verlust an Solvenz wohl deutlich höher ausgefallen.

Versicherer werden verstärkt an ihren Verbindlichkeiten arbeiten müssen

Für deutsche Lebensversicherer hat Barclays ermittelt, dass ein Zinsrückgang um einen Basispunkt die Solvenz der Branche Ende 2018 um rund 650 Millionen Euro belastete. Bis Ende des dritten Quartals 2019 hat sich diese Sensitivität auf etwa 1,1 Milliarden Euro erhöht. Dies bedeutet, dass allein die deutsche Lebensversicherungsbranche rund 150 Milliarden Euro dreißigjährige Anleihen kaufen müsste, nur um wieder die Zinssensitivität zu erreichen, der sie Anfang 2018 ausgesetzt war. Um die bestehende Durationslücke zwischen ihren Vermögen und Verbindlichkeiten vollständig zu schließen, müssten sie mehr als 350 Milliarden Euro an dreißigjährigen Anleihen kaufen.

Zwar beträgt die regulatorische Zinssensitivität nur etwa ein Drittel bis ein Viertel ihrer ökonomischen Sensitivität, diese Differenz wird aber von Jahr zu Jahr abnehmen. Solange die Zinsen auf ihren niedrigen Niveaus bleiben, wird es daher eine strukturelle Nachfrage auf dem Markt nach langfristigen Anleihen geben. Und diese Nachfrage wird Jahr für Jahr zum Tragen kommen, da die Übergangsregelungen auslaufen und die Restlaufzeiten der bestehenden Assets fallen. Andere europäische Versicherer haben teilweise dieselben Probleme. Die deutsche Branche ist zwar die größte und diejenige mit der höchsten Zinssensitivität. Die Verbindlichkeiten der niederländischen, österreichischen, belgischen und französischen Versicherer verhalten sich aber ähnlich, wenngleich das ausstehende Volumen geringer und die Duration in der Regel kürzer ist. Die Versicherer der Mittelmeer-Anrainer dagegen haben im allgemeinen geringere Probleme, da die Produkte mit weniger Optionalitäten ausgestattet sind und die Versicherer kleinere ALMLücken aufweisen.

Der Marktwert desjenigen Segments des Barclay‘s Euro Aggregate Index, der eine Restlaufzeit von mehr als 20 Jahren aufweist, liegt bei etwa 1,1 Billionen Euro. Die mittlere Duration liegt bei etwa 21 Jahren, so dass dieses Segment im Schnitt nur zwei Drittel der Laufzeit einer dreißigjährigen Bundesanleihe hat. Wollten nur die deutschen Lebensversicherer die wirtschaftliche Zinssensitivität ihrer Bilanz wieder auf frühere Niveaus zurückbringen, müssten sie etwa die Hälfte aller ausstehenden in Euro denominierten Anleihen mit Laufzeiten von mehr als 20 Jahren kaufen. Da sie und die Altersvorsorgeeinrichtungen jedoch bereits die mit Abstand größten Halter dieser Anleihen sind, ist nicht klar, wer sie verkaufen könnte. Zwar kann das Emissionsvolumen ausgedehnt werden, was auch bereits geschehen ist: Seit Einführung von Solvency II im Jahr 2009 hat sich die Duration des gesamten europäischen Rentenmarktes von 5,5 auf nun fast 7,5 Jahre erhöht. Gleichwohl übertrifft die Nachfrage nach längeren Laufzeiten nach wie vor die Fähigkeit des Marktes, neue Assets zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus sind auch die Anleihenkäufe seitens der EZB nicht hilfreich, auch wenn sich diese Nachfrage überwiegend auf kürzere Laufzeiten konzentriert.

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Autor: Karl Happe, CIO Insurance & Regulated Client Strategies Allianz Global Investors

Ein Kommentar

  • Andreas Billmeyer

    Hier wird aber kräftig durcheinander geworfen! Nicht erwähnst ist, dass der Zinsstress in Solvency II aktuell (sinnvollerweise wegen der Möglichkeit zur Bargeldhaltung) Zinsen unter 0 gar nicht mehr einem weiteren Zinsschock nach unten aussetzt.
    Dass es Konvexität gibt ist auch nichts allzu bahnbrechend Neues, diese wirkt aber natürlich genauso wie auf die Passiva auch auf die Aktiva der Lebensversicherer, d.h. auch da verlängert sich automatisch die Duration. Allenfalls driftet das Duration Gap leicht auseinander. Diese theoretischen „Versicherer müssten x Milliarden 30-jährige kaufen“ Überlegungen sind ja nicht wirklich zielführend, weil nie volles Duration Matching sinnvoll umsetzbar ist.

    Rendite lässt sich aber darüber hinaus auch über Immobilien und Equities erzielen, zunehmend weniger durch Anleihen…

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