VersR REPORT von Eva-Maria Goergen: Internationales

Quelle: VersR

Der heutige Report wirft einen Blick über den Tellerrand hinaus. Häufig sind die Konstellationen und die zu entscheidenden Rechtsfragen gar nicht so anders als bei uns, etwa wenn der Supreme Court of South Africa die Frage zu entscheiden hatte, ob ein VN die Entschädigung aus einer Sturmversicherung insgesamt zurückzahlen muss, wenn er über die Inanspruchnahme eines Hotels getäuscht und eine gefälschte Rechnung vorgelegt hatte (Case no: 534/2022).

1. ATP-Klausel in der Covid-19-bedingten Betriebsunterbrechung (Vereinigtes Königreich)

Auch wenn die Corona-Pandemie scheinbar aus dem Alltag verschwunden ist, beschäftigen sich Gerichte weltweit noch mit den Folgen der weitreichenden Betriebsschließungen. Nach dem Urteil des englischen Supreme Courts zu den ersten FCA-Testfällen in einer Sprungrevision (Supreme Court, Urt. v. 15.1.2021, [2020] EWHC 2448 (Comm), https://www.supremecourt.uk/cases/docs/uksc-2020-0177-judgment.pdf) gab es aus London nun eine weitere erstinstanzliche Entscheidung zur Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur pandemiebedingten Betriebsunterbrechung – also einer Betriebsunterbrechung ohne zugrunde liegenden Sachschaden (BUSINESS AND PROPERTY COURTS OF ENGLAND AND WALES COMMERCIAL COURT, Urt. v. 16.6.2023, [2023] EWHC 1481 (Comm), https://www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2023/06/Excel-v-RoyalSun-judgment-160623.pdf). Gegenstand waren sog. ATP-Klauseln, die den Betriebsunterbrechungsversicherungsschutz für meldepflichtige Krankheiten at the premises (ATP = at the premises = auf dem versicherten Grundstück) versprechen. Die Klauseln enthalten mit dem vorstehenden Zusatz im Wortlaut einen ausdrücklichen Bezug auf den Versicherungsort, wie er in der Grundsatzentscheidung des BGH bezüglich einer Beschränkung des Versicherungsschutzes auf „intrinsische Gefahren“ (BGH, Urt. v. 26.1.2022 – IV ZR 144/21 Rz. 11) in deutschen Bedingungswerken vermisst wurde.

Die englische Rechtsprechung verortet die Rechtsfolgen dieses Wortlauts bei der Frage der Kausalität der versicherten Gefahr für den Eintritt des Versicherungsfalls. Die versicherte Gefahr ist die meldepflichtige Krankheit. Das hatte der Supreme Court schon 2021 anlässlich der sechs ausgewählten Testfälle festgestellt. Die Anforderungen an den Versicherungsfall konnten damals in drei Gruppen unterteilt werden: disease clauses (Wortlaut: „The Company will indemnify the Insured in respect of loss resulting from the interruption or interference with the Business in consequence of any occurrence of a Notifiable Disease (as defined below) at the Premises or attributable to food or drink supplied from the Premises.“), die den Zusammenhang zwischen einer meldepflichtigen Krankheit und der Betriebsunterbrechung fordern, hybrid clauses (Wortlaut: „… closure of the Premises … on the order or advice of any local or governmental authority as a result of an outbreak or occurrence at the Premises of … any human contagious or infectious disease … an outbreak of which is required by law or stipulated by the governmental authority to be notified.“), die darüber hinaus eine für den Versicherungsort verhängte Einschränkung fordern, und NDDA clauses (Non-damage denial of access, Wortlaut: „Any other accident is extended to cover interruption of or interference with the Policyholder‘s Business in consequence of access to the Premises being hindered or prevented as a result of the actions or advice of a government or local authority due to an emergency arising which is likely to endanger life or property at or in the immediate vicinity of the Premises provided that there shall be no liability under this Extension for … [es folgen ausgeschlossene Schäden]“.), bei denen die Zugangsbeschränkung zum Versicherungsort den Versicherungsfall darstellt. Die Testfälle waren aber nicht als ATP-Deckung, sondern als radius disease cover ausgestaltet. Eine versicherte Gefahr galt in diesen Testfällen als am Versicherungsort eingetreten, wenn sie sich in einem bestimmten Umkreis (radius) um den Versicherungsort realisierten. Je nach Bedingungswerk lag der Radius bei einer Meile oder bei 25 Meilen. Bei allen Gruppen stellte sich die Frage, ob das Auftreten einer Infizierung mit dem SARS-CoV2-Virus in diesem Umkreis um den Versicherungsort ausreichte, denn die nationale Reaktion des social distancing nebst dem Lockdown lösten nicht einzelne Infektion aus. Dafür bedurfte es der Bedrohungslage im gesamten Land, also vieler gleichzeitig ablaufender Infektionsgeschehen. Der im englischen Recht verankerte but for-Test, bei dem die einzelne Infektion als conditio sine qua non hinterfragt wird, erbrachte nach Auffassung des Supreme Courts unbefriedigende Ergebnisse. Es lag keine konkurrierende, sondern kumulative Kausalität vor. Jede einzelne Infektion, die bis zum Erlass behördlicher Beschränkungen für die Bevölkerung eingetreten war, betrachtet das Supreme Court daher als eine eigene und gleichermaßen effektive Ursache (concurrent cause test).

Diese Kausalitätsbewertung wurde für die ATP-Deckung von den Versicherern hinterfragt, denn dort war gerade nicht ein Umkreis, sondern ausdrücklich nur der Versicherungsort erwähnt, so dass alle Ereignisse außerhalb des Versicherungsortes ausgeblendet werden sollten. Nur Ereignisse auf dem Versicherungsort sollten gedeckt sein.

Dem folgte das englische Gericht nicht. Es sei für den durchschnittlichen mittelständischen VN nicht nachvollziehbar, dass die ATP-Deckung gegenüber einer radius-Deckung unterschiedlichen Versicherungsschutz gewähre. Zur Erläuterung führen die Entscheidungsgründe das Beispiel zweier nebeneinander arbeitenden Gastronomen an: Mario als Inhaber eines italienischen Restaurants mit einer ATP-Deckung und Costa als Inhaber eines griechischen Restaurants mit einer Radius-Deckung. Da Mario im versicherten Umkreis von Costa arbeitet, würde seine Coronaerkrankung vor Erlass der Lockdown-Beschränkungen als Bestandteil der kumulativen Kausalität Deckung für Costa auslösen. Für Mario selbst käme es bei einer isolierten Betrachtung des Versicherungsorts aber nur auf seine Erkrankung an, die allein keine Ursache für das behördliche Handeln darstellte. Er selbst hätte also keinen Versicherungsschutz. Der durchschnittliche VN könne das nicht verstehen.

Das Gericht hält daher auch für ATP-Deckungen den concurrent cause test für anwendbar. Die Argumentation ist aus deutscher Sicht bemerkenswert, weil das Beispiel die Kenntnis und den Vergleich von verschiedenen Deckungskonzepten durch den durchschnittlichen VN voraussetzt. Obwohl die Rechtsprechung zum Umgang mit Allgemeinen Vertragsbedingungen in dem ehemaligen Mitgliedsstaat der Europäischen Union eine gemeinsame Herkunft hat, unterscheidet sich das erheblich von dem vom BGH vorgegebenen Weg der Auslegung Allgemeiner Versicherungsbedingungen.

2. Kriegsausschluss (Vereinigtes Königreich/England)

Die Folgen des Zweiten Weltkriegs sind auch Jahrzehnte nach dessen Beendigung nicht ausgestanden. Immer wieder wird bei Tiefbauarbeiten Munition aus dieser Zeit gefunden. Daher musste sich 2023 der Londoner High Court (England and Wales High Court (Technology and Construction Court), Urteil vom 22.3.2023, [2023] EWHC 630 (TCC), http://www.bailii.org/ew/cases/EWHC/TCC/2023/630.html) in einem verkürzten Verfahren mit der Rechtsfrage der Kausalität einer Kriegshandlung im Rahmen eines Kriegsausschlusses einer Versicherungspolice auseinandersetzen.

Zugrunde lag ein Bombenfund bei Tiefbauarbeiten am 26.2.2021. Der Tiefbauunternehmer legte eine nicht gezündete Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg frei, die 1942 auf das schadenursächliche Grundstück abgeworfen wurde. Knapp 80 Jahre nach dem Abwurf wies ihr Zünder erhebliche Spuren von Korrosion auf. Das Zündsystem konnte weder vor Ort entschärft noch der Sprengkörper sicher bewegt und auf ein anderes Gelände transportiert werden. Es fiel daher die – im Prozess nicht hinterfragte – Entscheidung zur kontrollierten Sprengung. Die daraufhin herbeigeführte Detonation verursachte Schäden an Gebäuden auf angrenzenden Grundstücken.

Die klagende VN forderte von ihrem Gebäudeversicherer den Ersatz von Wiederherstellungskosten und Mietausfall. Der VR berief sich auf den Ausschluss von Schäden „occasioned by war“ (Vollständiger Wortlaut der Klausel: „War (Not applicable to the Computer, Engineering Machinery Damage, EngineeringBusiness Interruption, Employers‘ Liability, Personal Accident, Business Travel, Terrorism, Fidelity Guarantee, Cyber and Directors and Officers Sections) Loss, destruction, damage, death, injury, disablement or liability or any consequential loss occasioned by war, invasion, acts of foreign enemy, hostilities (whether war be declared or not), civil war, rebellion, revolution, insurrection or military or usurped power.“), also einen branchenüblichen Kriegsausschluss im Versicherungsvertrag. Das entfachte einen Streit über die Auslegung des Kausalitätserfordernisses dieses Ausschlusses. Es stellte sich die Frage, ob der im Februar 2021 eingetretene Gebäudeschaden in ursächlichem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stand. Der Ausschluss sollte greifen, wenn eine Kriegshandlung der proximate cause, also die unmittelbare Ursache darstellen würde. Aufgrund des Zeitablaufs seit Abwurf der Bombe einerseits und der lange nach dem Krieg hinzutretenden Entscheidung einer aktiven Sprengung des Blindgängers andererseits, trug die Versicherungsnehmerseite eine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs vor.

In den Urteilsgründen wird zunächst die frühere Rechtsprechung zur Kausalität aufbereitet. Herausgearbeitet wird ein Verständnis des Begriffs der unmittelbaren Ursache im Sinne der Verkehrsanschauung statt einer rein technischen Analyse der Geschehensabläufe. Die direkte Schadenursache (immediate cause) sei von der entfernt liegenden (remote cause) durch Auslegung des Wortlauts des Versicherungsvertrags abzugrenzen. Die Schadensursache war eine Explosion. Die Explosion wurde durch die Sprengung der Fliegerbombe verursacht. Die Entscheidung zur kontrollierten Sprengung wurde indes aber nicht als eigenständige Ursache angesehen, denn die Notwendigkeit einer Entscheidung hätte sich gar nicht erst gestellt, wäre nicht im Rahmen einer Kriegshandlung eine Bombe auf das Grundstück abgeworfen worden. Ohne diesen Abwurf der Bombe hätte sich kein Sprengstoff in der Nähe der geschädigten Gebäude befunden. Nur dessen Vorhandensein habe die Notwendigkeit ergeben, eine Entscheidung über eine kontrollierte Sprengung zu treffen. Der Abwurf der Bombe hatte eine unmittelbare Ursache für eine zeitnah oder auch eine spätere Explosion gesetzt, wie sie sich dann 2021 verwirklichte. Die abgelaufene Zeit seit Abwurf hob damit das Gefahrenpotenzial, das der Abwurf der Bombe geschaffen hatte, nicht auf. Die Gefahr einer über langen Zeit verzögerten Realisierung der Explosion bestand bereits seit dem Abwurf und dann weiter bis zum Schadenseintritt.

Das Vorhandensein der Fliegerbombe in der Nähe des Versicherungsorts wurde daher als einheitlicher Vorgang, frei jeglicher Zäsur gesehen. Damit wurde der Kausalzusammenhang zu einer konkreten Kriegshandlung bejaht. Auch wenn weitere Tatsachen hinzugetreten seien, ändere das nichts an der eigentlichen Ursache, die den Kausalverlauf in Gang setzte. Weder die Zeit noch eine situationsgerechte Entscheidung unterbrach demnach den unmittelbaren Kausalzusammenhang. Dabei mag der Abwurf der Fliegerbombe nicht die einzige unmittelbare Ursache gewesen sein, aber zumindest eine ausreichende.

Die deutschen Obergerichte haben sich noch nicht in entsprechender Art und Weise geäußert. In der Literatur wird der Ansatz vertreten, durch den Zeitablauf seit Ende des Zweiten Weltkriegs verblasse in der Bevölkerung die Vorstellung eines Kausalzusammenhangs zum Zweiten Weltkrieg und das präge das Verständnis eines durchschnittlichen VN (zur Unfallversicherung: Dörner in Langheid/Wandt, VVG, 2. Aufl. 2017, § 178 Rz. 145). Sollte auf einen Rückversicherungsvertrag für deutsche Risiken englisches Recht anwendbar sein, könnte das zu Konfliktpotenzial führen.

3. Anerkennung eines Investment-Schiedsspruchs (Australien)

Der High Court of Australia – das australische Revisionsgericht für Zivilsachen – hat am 12.4.2023 einen Schiedsspruch zugunsten eines Investors gegen einem EU-Mitgliedsstaat anerkannt, der nach der ICSID Convention (Convention on the Settlement of Investment Disputes between States and Nationals of Other States (1965) ergangen war (High Court of Australia, Urteil vom 12.4.2023, [2023] HCA 11, https://eresources.hcourt.gov.au/downloadPdf/2023/HCA/11).

Das ICID (Internationales Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten bzw. International Centre for Settlement of Investment Disputes.) ist eine internationale Schiedsinstitution und Teil der Weltbankgruppe mit Sitz in Washington, D.C., USA. Der nach den Regeln des ICID verhandelte Streit betraf staatliche Subventionen für erneuerbare Energien, die nach der Finanzkrise und einem Regierungswechsel von dem betroffenen Mitgliedsstaat zurückgefahren wurden. Dem Staat wurde daraufhin ein Verstoß gegen den Vertrag über die Energiecharta (Energy Charta Treaty 1994, auch ECT, genehmigt am 23.9.1997 mit Beschluss (98/181/EG, EGKS, Euratom des Rates und der Kommission).) („VEC“) vorgeworfen (https://www.energycharter.org/fileadmin/DocumentsMedia/Legal/ECT-de.pdf) Teil des Vertrags ist in Art. 26 eine Schiedsvereinbarung, die unter bestimmten Voraussetzungen den Streit den Regeln der ICSID Convention zuordnet (Art. 26 Abs. 4 a) i), ii) VEC). In Australien hat die ICSID Convention Gesetzescharakter (Art. 32 International Arbitration Act 1974 (Cth), https://www.legislation.gov.au/Details/C2018C00439).

Der EuGH hatte mit Urteil vom 2.9.2021 (EuGH, Urt. v. 2.9.2021 – C-741/19) die VEC-Schiedsvereinbarung für einen Streit zwischen einem EU-Mitgliedstaat und einem in der EU ansässigen Investor für unanwendbar erklärt. Wäre das Schiedsgericht in diesem Verhältnis zuständig, hätte die Europäische Union mit dem Abschluss des VEC einen Mechanismus geschaffen, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts der Gerichtsbarkeit des EuGH zu entziehen. Damit sei die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nicht mehr gewährleistet. Die Ausübung der internationalen Zuständigkeit der Union könne nicht so weit gehen, einen innereuropäischen Rechtsstreit über das Unionsrecht der Zuständigkeit des EuGH zu entziehen. Der VEC könne daher den Mitgliedstaaten nur vorschreiben, in ihren Beziehungen zu Investoren aus Drittstaaten die im VEC vorgesehenen schiedsgerichtlichen Mechanismen einzuhalten. Ansonsten sei der VEC dahingehend auszulegen, dass er auf Streitigkeiten zwischen einem Mitgliedstaat und einem Investor aus einem anderen Mitgliedstaat nicht anwendbar ist.

Das Urteil des EuGH wird in den Entscheidungsgründen des australischen Gerichts zwar erwähnt, allerdings nur mit der Feststellung, dass es auf die Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung nicht ankommt, nachdem der Mitgliedsstaat sich auf das Schiedsverfahren für den konkreten Fall eingelassen hatte. Die entscheidungserhebliche Frage für das High Court war daher, ob sich der verklagte Staat in Australien auf seine Souveränität berufen konnte. Das verneinte der High Court; mit der Zustimmung zu einem multilateralen internationalen Vertrag verzichte ein Staat auf den Einwand seiner Souveränität. Das ergebe sich aus der Wortlautauslegung des Vertrags. Diese Auslegung richte sich nicht nach nationalem Recht, sondern nach international anerkannten Auslegungsgrundsätzen. Zwar bedürfe es nach diesen Grundsätzen eines klaren Wortlauts des Verzichts, dieser klare Wortlaut lässt sich nach Einschätzung des High Courts aber im VEC finden. Aufgrund eines implizierten Erklärungswillens könne ein Vertrag als ausdrücklich verstanden werden. Mit der Aufgabe der Souveränität im VEC sei nicht nur die Unterwerfung unter die Schiedsgerichtsbarkeit, sondern auch die Anerkennung eines Schiedsspruchs verbunden, obwohl Art. 55 ICSID Convention die Immunität von Staaten bestätige.

Das Urteil betrifft die Feststellung der Bindungswirkung eines Schiedsspruchs und dessen Anerkennung. Von dem Urteil noch nicht erfasst sind konkrete Vollstreckungsversuche. Diese können erneut Fragen aufwerfen, wenn das das Foreign States Immunities Act 1985 (https://www.legislation.gov.au/Details/C2022C00077) angewendet werden soll.

4. Gewerblicher VN als Verbraucher (Indien)

Anlässlich des G 20-Gipfels lag ein besonderer Fokus auf dem diesjährigen Gastgeberland Indien. Seit April 2023 wird Indien als bevölkerungsreichtes Land bewertet und der Staat nutzte die G20-Präsidentschaft, seine Rolle in der Welt zu betonen.

Der Supreme Court of India verkündete im April 2023 ein für die dortige Versicherungswirtschaft prozessual wichtiges Urteil zu einem Brandschaden, der sich am 28.2.2002 im Rahmen von Ausschreitungen in Gujarat, einem Bundesstaat an der Westküste Indiens, ereignet hatte. (Supreme Court of India, Urteil vom 13.4.2023, Civil Appeal No. 5352-5353 of 2007.) VN war ein Fahrzeughändler, der für seinen Betrieb eine Gebäude- und Inhaltsversicherung abgeschlossen hatte. Der Versicherer lehnte eine Leistung unter dem Versicherungsvertrag ab.

In Indien besteht für Verbraucher (consumer) Zugang zu einem gerichtsähnlichen System unter dem Consumer Protection Act, 1986 (https://www.indiacode.nic.in/bitstream/123456789/1868/1/A1986-68.pdf.) („CPA“). Der Begriff des consumer ist in Art. 2 d CPA definiert. Er bezieht sich gem. Art. 2 m CPA nicht nur auf natürliche Personen, sondern kann auch Gesellschaften erfassen. Der Begriff knüpft also nicht an der Rechtsform an, sondern vielmehr an Waren und Dienstleistungen, zu denen auch Versicherungsschutz gehört, wenn sie erworben werden, ohne einem commercial purpose zu dienen. Ein Verbraucher kann sich bei einem Streit mit dem Anbieter der Dienstleistung an vom Bundesstaat einzurichtende consumer disputes redressal agencies – die sog. district forums – wenden. Über den district forums steht eine auf nationaler Ebene eingerichtete state commission (auch national commission genannt). Entscheidungen der state commission kann der Supreme Court of India unter bestimmten Voraussetzungen überprüfen (Art. 9 ff. des Consumer Protection Act, 1986).

Diesen Weg beschritt der Fahrzeughändler. Nach der Ablehnung der Versicherungsleistung reichte er eine Verbraucherbeschwerde beim Gujarat district forum ein. Das district forum lehnte die Beschwerde ab, weil der VN sein Geschäft mit Gewinnerzielungsabsicht betreibe, so dass es sich auch um gewerblichen Versicherungsschutz und damit nicht um die Zuständigkeit des district forums handle. Die dagegen eingelegte Beschwerde zur state commission war am 3.12.2004 mit der Begründung erfolgreich, eine Versicherungspolice, die tatsächlich eingetretene Schäden decke, ziele selbst nicht auf Gewinnerzielung ab. Dagegen wiederum richtete sich der Versicherer und klagte vor dem Supreme Court of India.

Der oberste indische Gerichtshof betonte, dass die Gesetzgebung im CPA eine soziale Schutzfunktion verfolge und daher der Anwendungsbereich weit ausgelegt werden müsse. Entscheidend sei, wofür eine Ware oder eine Dienstleistung eingekauft werde. Ergebe sich ein direkter Bezug mit dem Hauptzweck des Gewerbes und der damit verfolgten Gewinnerzielungsabsicht, könne ein sich daraus entwickelnder Streit nicht unter Verbraucherschutzgesetze fallen. Anders sei das aber, wenn z.B. eine Ware zwar anlässlich eines Gewerbebetriebs erworben werde, mit der Ware selbst aber kein Gewinn erzielt werde. Das Gericht zieht den Kauf eines Kühlschranks als Beispiel heran, der zwar im Gewerbebetrieb steht, aber nicht der Tätigkeit zugeordnet werden kann, mit der der Umsatz erzielt wird. Das sei abzugrenzen von technischem Gerät, das Teil der Zuliefererkette ist und sich damit in einem mit Gewinnerzielungsabsicht weiterverkauften Endprodukt wiederfindet.

Der Begriff des commercial purpose wird also eng ausgelegt, um den Anwendungsbereich des CPA weit auszugestalten. Die Nutzung für einen Gewerbebetrieb ist für den Verbraucherbegriff so lange unschädlich, als es sich um Allgemeinposten handelt. Versicherungsschutz in der Schadenversicherung ist ein solcher Allgemeinposten, der zwar zur Absicherung von Unternehmenswerten abgeschlossen werden kann, aber im Schadensfall nicht der Gewinnerzielung im Rahmen des Unternehmenszwecks dient.

Das Ergebnis der Revisionsentscheidung 21 Jahre nach Schadenseintritt ist allerdings noch kein Zahlungstenor. Die Sache wurde an das ursprünglich tätige district forum mit der Vorgabe zurückverwiesen, nunmehr innerhalb eines Jahres die Versicherungsleistung zu bewerten. Gemeinsam mit der Überprüfung der Entscheidung aus Dezember 2004 wurden vom Supreme Court allerdings auch noch jüngere Verfahren gehört und entschieden.

5. Versicherte Personen einer SPAC-D&O-Deckung (USA/Delaware)

Der Superior Court for the State of Delaware hat im Februar 2023 über den Umfang einer D&O-Deckung einer special purpose acquisition company („SPAC“) entschieden (Superior Court for the State of Delaware, Urteil vom 6.2.2023, N22C-06-004 MMJ (CCLD); konkret ging es um eine tail policy (verlängerte Nachmeldefrist nach Ablauf einer claims-made-Police). Eine SPAC ist eine Gesellschaft, die keinem eigenen geschäftlichen Zweck dient, außer der Kapitalgewinnung durch einen Börsengang (Initial Public Offer) zwecks Erwerbs/Verschmelzung mit einer anderen bestehenden Gesellschaft.

Im zugrunde liegenden Fall hatte die SPAC ein D&O-Programm eingekauft. Infolge der Unternehmenstransaktion ergaben sich Rechtsstreitigkeiten mit Aktionären und eine Untersuchung der U.S. Securities and Exchange Commission. Der D&O-Versicherer der SPAC gewährte Deckung für die Auseinandersetzung mit den Aktionären, beschränkte die Deckungszusage aber auf die Unternehmensleiter der SPAC als übernehmenden Rechtsträger, während den Unternehmensleitern der übertragenden Gesellschaft, die bis zum Merger nicht für die SPAC tätig waren, Deckung verwehrt wurde. Sie seien keine versicherten Personen unter dem D&O-Vertrag.

Nach dem Vertragswortlaut waren natürliche Personen versichert, die „were, now are or shall become duly elected or appointed directors … of a duly constituted committee or board of the Company or their functional equivalent“. Entscheidungserheblich war für das Gericht letztlich die zukunftsgerichtete Formulierung „shall become“ und der Umstand, dass neben der die Versicherung nehmenden Gesellschaft zusätzlich das „functional equivalent“ erwähnt wurde. Während die Versicherer argumentierten, es gehe bei Letzterem um Unternehmensleiter, die während einer laufenden Versicherungsperiode ernannt werden, stellte die Versicherungsnehmerseite darauf ab, es gehe um Unternehmensleiter des verschmolzenen Unternehmens, die schon vor der Zusammenführung der Unternehmen in ihrer Kapazität als versicherte Personen gehandelt hätten und die damit das funktionale Gegenstück zu den Unternehmensleitern der übernehmenden Gesellschaft seien; die Unternehmensleiter der übertragenden Gesellschaft hätten nur noch nicht ihren neuen Titel gehabt. Das Gericht meint, es sei eine klare vertragliche Definition zur Begrenzung der Zahl der versicherten Personen möglich, indem man vereinbart, dass die versicherten Personen schon zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung Unternehmensleiter hätten sein müssen. Das fände sich aber nicht im Vertragswortlaut. Die Unterscheidung zwischen der VN (Company) und dem Gegenstück (functional equivalent) bedeute zudem, dass zwei unterschiedliche Rechtsträger gemeint seien. Daher müsste das Äquivalent die Geschäftsführung der übertragenden Gesellschaft sein.

Die Entscheidungsgründe sind zu den grundsätzlichen Fragen, wie Allgemeine Versicherungsbedingungen ausgelegt werden, sehr knapp gehalten, aber die Wertung des Wortlauts ist ähnlich den deutschen Grundsätzen. Wird die VN und danach ein Äquivalent dazu erwähnt, bestehen Anhaltspunkte, vom reinen Wortlaut von zwei unterschiedlichen Gesellschaften auszugehen. Es müsste dann in Deutschland allerdings noch eine weitergehende Wertung anhand des erkennbaren Sinnzusammenhangs des Vertragstextes erfolgen.

6. Datenschutz (Singapur)

Das Court of Appeal of the Republic of Singapore setzte sich 2022 mit der Frage auseinander, ob eine Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten unter dem PDPA (Personal Data Protection Act 2012 (Act 26 of 2012) generell einen Schmerzensgeldanspruch zur Folge haben kann und ob in diesem Fall eine Erheblichkeitsschwelle Anwendung findet (Court of Appeal of the Republic of Singapore, Urteil vom 9.9.2022, Civil Appeal No 174 of 2020, [2022] SGCA 60).

Gemäß Art. 32 Abs. 1 PDPA a.F. („Any person who suffers loss or damage directly as a result of a contravention of any provision in Part IV, V or VI by an organisation shall have a right of action for relief in civil proceedings in a court.“; entspricht Art. 48 O der aktuellen Fassung) wird betroffenen Personen ein Klagerecht vor den Zivilgerichten zugestanden, wenn bezüglich ihrer personenbezogenen Daten gegen die Vorschriften des PDPA verstoßen wird. Sie können dann Ersatz von loss or damage verlangen. Von diesem Klagerecht machte ein Investor (natürliche Person) Gebrauch, der im August 2018 angesichts einer ausstehenden Auszahlung aus einem von ihm bei einem Finanzdienstleister gezeichneten Investmentfonds von einem Berater eines konkurrierenden Finanzdienstleisters angesprochen wurde. Der Berater hatte ursprünglich in dem Investmenthaus gearbeitet, das den Fonds verwaltete, dann aber seinen Arbeitgeber gewechselt und dabei die Daten des Klägers mitgenommen. Der Kläger forderte Aufklärung, wie der Berater in den Besitz der personenbezogenen Daten gekommen war und erhielt statt der Offenlegung des tatsächlichen Sachverhalts den Verweis auf die frühere Verwaltung des Fonds durch den Berater und die Tatsache, dass der Kläger seine E-Mail-Anschrift und seinen Lebenslauf in einem sozialen Netzwerk eingestellt hatte. Nach Bekanntwerden des tatsächlichen Sachverhalts forderte der Kläger Ersatz für (i) seelisches Leid und (ii) den Kontrollverlust über seine persönlichen Daten.

Nachdem der datenschutzrechtliche Verstoß dem Grunde nach gerichtlich festgestellt war, ging es darum, ob der Begriff „loss or damage“ auch immaterielle Schäden ohne körperlichen Personenschaden einbezieht. Erstinstanzlich wurde das mit der Begründung verneint, in vergleichbaren Jurisdiktionen – Kanada, Neuseeland, Hong Kong und das Vereinigte Königreich – habe die Gesetzgebung immaterielle Schadensersatzansprüche ausdrücklich erwähnt. Es gebe außerdem Rechtsprechung aus dem Vereinigten Königreich, auch die europäischen Normen so auszulegen, dass immaterielle Schäden vom Schadensersatzanspruch erfasst seien. Im PDPA hingegen seien seelische Leiden nicht erwähnt. Das PDPA sei auch anders als etwa die europäische Gesetzgebung (das Gericht nimmt insofern Bezug auf die Richtlinie 94/46/EC, die am 25.5.2018 von der DSGVO abgelöst wurde, aber zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens in Singapur noch Anwendung fand) nicht von einem Grundrecht auf den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2012/C 326/02) getragen.

Dem folgte das Berufungsgericht nicht. Um den Begriff „loss or damage“ auszulegen, stellt das Berufungsgericht auf das Wesen des Klagerechts ab. Art. 32 PDPA sei eine deliktische Haftung. Bei der deliktischen Haftung sei zu unterschieden, ob sie sich allein nach dem Gesetz richte, das die verletzte Pflicht definiere, oder ob das Gesetz nur die Pflicht definiere, die Haftung für die Verletzung hingegen nach den Grundsätzen des common law tort of breach of statutory duty zu beurteilen sei. Das nicht kodifizierte common law sehe als Rechtsfolge zwar den Ersatz von Vermögensschäden, Sachschäden und Personenschäden einschließlich psychiatrischer Folgen, nicht aber von bloßen seelischen Beeinträchtigung vor.

Zur Beantwortung dieser Rechtsfrage legt das Berufungsgericht zunächst den Wortlaut des PDPA aus und identifiziert sodann den gesetzgeberischen Willen. Anschließend wird der Intention des Gesetzgebers mit dem Wortlaut abgeglichen, um eine widerspruchsfreie Gesetzesanwendung zu garantieren. Der Wortlaut in Art. 32 PDPA macht keine Aussage dazu, ob seelische Beeinträchtigungen als loss or damage ausgeschlossen sein soll. Die Art des ersatzfähigen Schadens wird im Gesetzeswortlaut nur durch ein direktes Kausalitätserfordernis begrenzt. Hinsichtlich der gesetzgeberischen Intention sieht das Berufungsgericht die weitreichenden Optionen, die dem Betroffenen eingeräumt werden sollen, um seine Rechte auch ohne die Hilfe der Behörden durchzusetzen. Das PDPA solle nach dem Willen des Gesetzgebers das individuelle Datenschutzinteresse der Betroffenen mit den wirtschaftlichen Interessen eines Marktes ausbalancieren, in dem Daten gesammelt, verarbeitet und weitergegeben werden (können). Es genüge die Anwendung einer Erheblichkeitsschwelle, um belanglose Beeinträchtigungen im Einzelfall nicht einklagbar zu mache. Daher stehen nach Auffassung des Gerichts keine berechtigten Interessen der Wirtschaft einer weiten Auslegung des Begriffs „loss or damages“ entgegen. Gleichzeitig sei eine seelische Belastung oft der einzige Schaden bei dem Betroffenen, so dass seine Rechte leerlaufen, wenn er diesen Schaden nicht einklagen kann. Bei dieser Interessenlage sei kein ausdrücklicher Gesetzgebungswille erkennbar, seelische Beeinträchtigung vom Schadensbegriff von vornherein auszunehmen, denn die Rechtsposition des Betroffenen sollte durch das PDPA ausdrücklich gestärkt werden. Die genaue Ausgestallung des ersatzfähigen Schadens könne der Rechtsprechung überlassen werden. Eine leichtfertige Anspruchstellung werde dabei schon allein durch das Kostenrisiko für den Betroffenen abgefangen. Seelische Schäden können daher ersatzfähig sein.

Dahingegen sieht das Berufungsgericht den reinen Verlust über die Kontrolle der persönlichen Daten nicht als Schaden an. Dieser Verlust stellt vielmehr die Zuwiderhandlung gegen die Schutzvorschriften dar und geht damit mit jeder Verletzungshandlung einher. Betrachte man diesen Umstand zugleich auch als loss or damages, fände sich eine Tautologie im Gesetzestext. Solche Rhetorik wollte die Judikative der Legislativen nicht unterstellen.

Bei der Bewertung, ob eine seelische Belastung oberhalb der Erheblichkeitsschwelle eingetreten sei, können nicht rein objektiv betrachtet werden, weil immer der individuelle Schaden auszugleichen sei. Der klagende Betroffene muss tatsächlich eine Belastung erfahren haben. Daher musste die Sache zur Bewertung des Schadens in den Instanzenzug zurückverwiesen werden. Das Berufungsgericht gibt allerdings eine – nicht abschließende – Segelanleitung für die Bewertung des Schadens. Zu berücksichtigen sei die Art der betroffenen Daten (Finanzdaten seien beispielsweise im Zweifel als sensible Daten einzustufen), die Art der Verletzungshandlung (ein einmaliges im Gegensatz zu einem systemischen oder wiederholten Versagen), die subjektive Seite der Verletzungshandlung (Fahrlässigkeit, Vorsatz oder Arglist), die Möglichkeit weiterer Verletzung des Rechts auf Datenschutz und schließlich die tatsächlichen Auswirkungen auf den konkret Betroffenen.

Die Fragen, die sich bezüglich des Haftungsrisikos aus dem Datenschutz ergeben, ähneln den aktuellen Herausforderungen der Rechtsprechung innerhalb der EU. Jüngst musste der EuGH (EuGH, Urt. v. 4.5.2023 – C-300/21, NJW 2023, 1930) sich mit ähnlichen Rechtsfragen auseinandersetzten und stellte ebenfalls fest, dass ein ersatzfähiger Schaden konkret sein und sich von der Verletzungshandlung unterscheiden muss. Der EuGH stellte aber klar, dass es im europäischen Rechtsraum keine Erheblichkeitsschwelle beim immateriellen Schadensersatzanspruch gibt. Jeder Schaden zählt, auch wenn er unerheblich erscheint. Eine solche Schwelle wäre mit dem vom Unionsgesetzgeber beabsichtigten weiten Verständnis des Begriffs „Schaden“ unvereinbar. Eine graduelle Abstufung für den Schadensersatzanspruch könne dazu führen, dass innerhalb der Union unterschiedlich hohe Anforderungen für einen Schadensersatzanspruch ausgeurteilt werden, und das gelte es zu vermeiden. Dem Recht eines jeden Mitgliedstaats bleibt allerdings überlassen, den individuellen Schaden zu bewerten.

Autor: Eva-Maria Goergen

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