Sommerinterview mit FDP-Generalsekretär Volker Wissing: „Corona hat die organisatorischen Schwächen unseres Staates schonungslos offengelegt“

Volker Wissing. Quelle: FDP

In den kommenden Monaten buhlen die Freien Demokraten wieder um die Stimmen des Wahlvolkes. Im Sommerinterview mit VWheute zieht FDP-Generalsekretär Volker Wissing eine Bilanz der Ära Merkel und skizziert die politischen Ziele der Liberalen für die kommenden vier Jahre.

VWheute: Im September wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Mit dem Urnengang geht auch die Ära Merkel nach 16 Jahren zu Ende: Was sind aus Ihrer Sicht die Höhen und Tiefen ihrer Kanzlerschaft?

Volker Wissing: Angela Merkel hat Deutschland durch etliche Krisen geführt. Ihre Amtszeit war geprägt von der Finanz-, Flüchtlings- und der Corona-Krise. Ihre Entscheidungen waren manchmal gut durchdacht, aber oft auch schlecht kommuniziert. Sie hat es selten geschafft, ihre Entscheidungen so zu  kommunizieren, dass sie die Bürgerinnen und Bürger hinter sich einen konnte.

Mit ihrer Strategie der asymmetrischen Demobilisierung hat sie unsere Demokratie geschwächt. Sie hat große Debatten systematisch vermieden und so den Bürgerinnen und Bürgern die Chance genommen, ihre Politik nachzuvollziehen. Demokratie lebt von der Debatte. Unter Angela Merkel war unsere Demokratie streckenweise leblos. Außerdem steht die Europäische Union viel schlechter da, als zu Beginn ihrer Amtszeit.
 
VWheute: Vor vier Jahren hatten die FDP die Sondierungsgespräche mit der Union beendet, mit dem Zitat: „Besser gar nicht als schlecht regieren“. War dies im Nachhinein die richtige Entscheidung oder hätte dieser Regierung ein „liberaler Anstrich“ nicht doch besser getan?
 
Volker Wissing: Natürlich hätte der Regierung ein liberaler Anstrich besser getan, das hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Sowohl CDU als auch SPD haben sich enorm schwer damit getan, ihre Maßnahmen aus der Perspektive des Grundgesetzes zu denken. Die Freiheitseingriffe erfolgten oftmals willkürlich und schlecht begründet. Die FDP hätte hier einen deutlichen Unterschied gemacht.

In einer Koalition kann eine Partei sich aber nur dann konstruktiv einbringen, wenn auch die Partner bereit sind, sich auf deren Inhalte einzulassen. Das war in den damaligen Jamaika-Verhandlungen definitiv nicht der Fall. Insbesondere die CDU hat sich allen Forderungen der FDP nach einer steuerlichen Entlastung, wie etwa durch eine vollständige Abschaffung des Soli, verweigert. Die Entscheidung damals war bitter für uns, aber sie war notwendig. Mit der CDU war damals kein Staat zu machen.
 
VWheute: Blicken wir nach vorn: Welche zentralen Herausforderungen sehen Sie in den nächsten vier Jahren für Deutschland und welche Antworten hat die FDP darauf?
 
Volker Wissing: Voraussagen sind immer schwierig. Die letzte Legislaturperiode war von der Corona-Pandemie geprägt, die niemand vorausgesehen hat und die davor von der Flüchtlingskrise, die so ebenfalls nicht absehbar war.
 
Der Klimawandel ist ohne Zweifel eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen und der Ansatz der FDP nach mehr Marktwirtschaft, nach klarer Regulierung, mehr Angeboten und weniger Verboten, stellt ein wichtiges Korrektiv zur verbotsorientierten Politik insbesondere der Grünen dar.
 
Die Corona-Pandemie hat auch die großen Defizite Deutschlands im Bereich der Verwaltung aufgezeigt, das betrifft insbesondere die Digitalisierung. Egal ob es um digitalen Unterricht, um die digitale Abwicklung der Corona-Hilfen oder einen digitalen Impfpass ging, Deutschland hat sich stets als digitales Entwicklungsland präsentiert. Das wollen die Freien Demokraten ändern, indem wir die Kompetenzen in diesem Bereich in einem Digitalministerium bündeln.
 
VWheute: Bereits heute werden verschiedene Koalitionsmöglichkeiten durchgerechnet: Wer wäre aus Ihrer Sicht der bevorzugte Koalitionspartner? Wäre auch ein Bündnis unter grüner Führung für Sie vorstellbar?
 
Volker Wissing: Die FDP sucht nicht nach Koalitionspartnern, wir kümmern uns um unser eigenes Programm. Wir werben bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht damit, einer bestimmten Partei dazu zu verhelfen, die Kanzlerin oder den Kanzler zu stellen, sondern mit unseren eigenen Inhalten. Wir wollen auch keine Koalition innerhalb des demokratischen Spektrums ausschließen, maßgeblich ist für uns, dass wir uns auf eine Zukunftsagenda für unser Land verständigen können und die liberale Handschrift klar erkennbar ist.

VWheute: Die Grünen schicken mit Annalena Baerbock erstmals eine Kanzlerkandidatin ins Rennen. Warum verzichtet die FDP auf die Kür eines entsprechenden Bewerbers? Und welche Lehren hat die FDP aus dem Projekt „18 plus X“ von Guido Westerwelle gelernt?
 
Volker Wissing: Wir wählen im September ja keinen Bundeskanzler, sondern den Deutschen Bundestag. Bei uns stehen deshalb klar die Inhalte im Vordergrund. Wir wollen liberale Politik machen und Corona hat eindrucksvoll gezeigt, dass unser Kernthema „Freiheit“ nichts an Aktualität und Attraktivität eingebüßt hat. Die FDP hat mit Christian Linder einen starken und sehr kompetenten Spitzenkandidaten. Wir gehen geschlossen in diesen Wahlkampf und schauen dabei auch nicht zurück, sondern nach vorne. Wir wollen die Zukunft unseres Landes gestalten.
 
VWheute: Blicken wir auf die aktuelle Corona-Politik: Sie gelten seit langem als scharfer Kritiker des Coronakurses der Bundesregierung? Wo liegen aus Ihrer Sicht die größten Fehler und was sind aus Sicht der FDP die Alternativen?
 
Volker Wissing: Das Fundament unseres demokratischen Gemeinwesens ist unsere freiheitliche Verfassung. Es müsste daher eine Selbstverständlichkeit sein, dass eine demokratische Regierung ihre Politik konsequent aus der Perspektive des Grundgesetzes denkt. Das war leider erkennbar nicht der Fall. Die Regierung hat die Entscheidungen auf informelle Gremien verlagert, statt unsere demokratischen Institutionen einzubinden.
 
Neben diesen groben rechtlichen Fehlern gab es aber auch erschütternde handwerkliche. Egal ob es um die Masken-Beschaffung, die Corona-Hilfen, die Impfstoffbeschaffung oder die Organisation der Corona-Tests ging, die Bundesregierung zeigt sich ihren Aufgaben in zuverlässiger Regelmäßigkeit nicht gewachsen. Es dürfte für viele Bürgerinnen und Bürger eine schockierende Erfahrung gewesen sein, wie hilflos gestandene Minister, gerade auch der Union, agiert haben.

VWheute: Kanzlerin Merkel rechnet für die Zukunft mit weiteren Pandemien: Was sind aus Ihrer Sicht die Lehren aus der aktuellen Krise für die Zukunft?
 
Volker Wissing: Corona hat die organisatorischen Schwächen unseres Staates schonungslos offengelegt. Verwaltung galt einmal als deutsche Kernkompetenz. Mittlerweile lahmt in Deutschland selbst der Amtsschimmel. Wir müssen besser werden. Wir müssen die Digitalisierung endlich konsequent in Angriff nehmen. Wir dürfen uns nicht länger in Problemdiskussionen verlieren, sondern müssen mehr Chancendiskussionen führen.

Zur Person: Der Jurist Volker Wissing ist seit September 2020 Generalsekretär der Freien Demokratischen Partei (FDP). Seit 2013 gehört er auch als Beisitzer dem FDP-Präsidium an. Bereits im Mai 2011 wurde Wissing zum FDP-Landesvorsitzenden Rheinland-Pfalz gewählt. Von 2016 bis 2021 gehörte er dem rheinland-pfälzischen Landtag an. Zudem gehörte Wissing in dieser Zeit als stellvertretender Ministerpräsident sowie Minister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau der Landesregierung von Rheinland-Pfalz an. Seine politischen Schwerpunktthemen sind Finanzen, Steuern, Haushalt, Ernährung und Landwirtschaft sowie europäische Geld-, Währungs- und Finanzmarktpolitik. 

VWheute: Schauen wir auf die FDP: Wie sieht Ihre Bilanz für die letzten vier Jahre im Bundestag aus? Was haben Sie erreicht und was nicht?

Volker Wissing: Die FDP hat sich als konstruktive Opposition im Deutschen Bundestag unzählige Verbesserungsvorschläge erarbeitet. Wir haben deutlich gemacht, warum es wichtig ist, dass in unserem Parlament eine Partei vertreten ist, die Politik permanent und konsequent aus der Perspektive der Freiheit betreibt. Das unterscheidet uns klar von der AfD, aber auch von Linken und Grünen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat durch ihre kluge Oppositionspolitik gezeigt, dass es zu vielen Initiativen der Großen Koalition eine bessere, eine liberale Alternative gibt.

VWheute: 2013 wurde die FDP erstmals in der Geschichte aus dem Bundestag gewählt: Was haben Sie aus dieser Wahlschlappe gelernt und warum braucht Deutschland eine liberale politische Kraft?

Volker Wissing: Die FDP setzt auf einen fairen Wettbewerb, auch in der Politik und auch wenn es uns selbst betrifft. Es ist uns damals nicht gelungen, die Bürgerinnen und Bürger von unseren Inhalten zu überzeugen, deshalb wurden wir auch nicht gewählt. Wir haben uns danach einem umfassenden Erneuerungsprozess gestellt und uns auf unser Kernthema „Freiheit“ besonnen. Und das ist heute aktueller denn je.

VWheute: Werfen wir einen kurzen Blick in die Zukunft: Was sind Ihre primären politischen Ziele für die kommende Wahlperiode?

Volker Wissing: Wir wollen Deutschland modernisieren. Wir wollen dazu beitragen, dass in unserem Land nicht nur Problem-, sondern auch Chancendiskussionen geführt werden. Zynismus und Fatalismus helfen uns nicht bei der Bewältigung der Herausforderungen, vor denen unser Land steht. Wir müssen wieder an uns glauben und optimistisch nach vorne schauen. Deutschland ist allen Unkenruf zum Trotz ein Land mit einem enormen Potenzial. Wir haben hervorragend ausgebildete Fachkräfte, innovative Unternehmen, einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt; wer, wenn nicht wir, bringt die Voraussetzungen mit, Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden?

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Tobias Daniel.

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