GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen exklusiv: „Nach der Euphorie über die Möglichkeiten einer scheinbar unbegrenzten Datenmenge macht sich auch Ernüchterung breit“

Jörg Asmussen, GDV-Geschäftsführer. Quelle: GDV

Corona hat die Versicherer in diesem Jahr hart getroffen. Warum es für die Versicherungswirtschaft künftig sowohl Investitionen wie auch einen digitalen Ordnungsrahmen braucht und warum Taxonomie, Velozität und Ubiquität das Morgen prägen werden, erläutert Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft, anlässlich des Zweibrücker Symposium und Tag der saarländischen Versicherungswirtschaft in einem exklusiven Gastbeitrag für VWheute.

Die gute Nachricht am Anfang: Die deutschen Versicherer erwarten für das Gesamtjahr 2020 über alle Sparten hinweg ein leichtes Plus von 0,4 Prozent bei den Beitragseinnahmen. Der Rückgang in der Lebensversicherung dürfte bei etwa minus 2,5 Prozent liegen. In der Schaden- und Unfallversicherung rechnen wir mit einer Abschwächung des Beitragswachstums auf 2,1 Prozent. Damit sind wir – bisher – vergleichsweise glimpflich durch dieses schwierige Corona-Jahr gekommen.

Dies soll aber keinesfalls darüber hinwegtäuschen: Zum Jahreswechsel 2020/2021 – am Beginn einer neuen Dekade – stehen die Gesellschaft, unser Sektor und unsere Kundinnen und Kunden vor einer Bewährungsprobe. Gestalten müssen Versicherer vor allem die beiden zentralen Themen unserer Zeit, die auch vor Corona nicht haltmachen: Die Digitalisierung und die an Nachhaltigkeit orientierte Transformation unserer Wirtschaft.

Über das disruptive Potenzial der Digitalisierung ist schon vor Corona viel diskutiert worden. Nun hat die Pandemie noch wie ein Katalysator gewirkt und die digitale Transformation in der Arbeitswelt zusätzlich beschleunigt. Kunden, Vermittler und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Unternehmen haben die digitale Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Remote-Arbeit, Home-Office, Videokonferenzen: In Rekordzeit hat die Versicherungsbranche seit Ende März für einen Großteil der Belegschaften flexibles Arbeiten im häuslichen Büro ermöglicht. Im Schnitt waren es etwa 80 Prozent, im Maximum nahezu 100 Prozent. Auch die Versicherungsvermittlung und -beratung findet über das Netz statt.

Nach der Euphorie über die Möglichkeiten einer scheinbar unbegrenzten Datenmenge macht sich aber auch Ernüchterung breit: Big Data, Künstliche Intelligenz, Algorithmen –diese Technologien kommen zusehends zum Einsatz, der rechtliche Rahmen allerdings bleibt eine digitalpolitische Großbaustelle. Damit das gesamte Potential ausgeschöpft werden kann, muss nicht nur in den Unternehmen investiert werden. Zudem braucht es für das digitale Ganze einen Ordnungsrahmen, der über die Handlungsfelder der Unternehmen und Sektoren hinausgreift.

Machen wir uns klar: Ohne Daten, ohne Kenntnisse der individuellen Risikoverhältnisse unserer Kunden gibt es keinen Versicherungsschutz. Im Gegenteil: Je besser unsere Kundeninformationen sind, umso exakter wird die Risikobewertung und Kalkulation – und umso innovativer werden wir in unserem Kerngeschäft. Ich will nicht in die Tiefen von Telematik-Tarifen, Smart-Home-Anwendungen, das ZÜRS-Geoinformationssystem oder Sensor- und Steuerungstechnologien in der Industrie 4.0 einsteigen. Offensichtlich ist, dass in einer entwickelten Datenökonomie Versicherer und deren Dienstleister und Kunden profitieren können – und darüber hinaus die Öffentliche Hand und die Wissenschaft.

Technische Voraussetzungen müssen verbessert werden: Standards für Datenformate, für einen sicheren Austausch, zur Gewährleistung von Interoperabilität und offenen Schnittstellen. Wir brauchen einen Rechtsrahmen für die Datenbereitstellung, für die gemeinsame Datennutzung, ein Level Playing Field für die Anbieter, das heißt wettbewerbsrechtliche Anpassungen, die einer Monopolisierung digitaler Märkte entgegenwirken, und wir brauchen ein Datenschutzrecht, das innovationsfreundlicher ist als bisher.

Dabei sehen wir Zielkonflikte allenthalben – ökonomische, gesellschaftliche, auch politische. Es besteht ein riesiger Regulierungsbedarf, der es zusätzlich mit zwei Phänomenen zu tun hat:

  • Velozität, weil die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung in der Datenökonomie den Regulierungsbedarf ständig zur Reaktion im Nachhinein verdammt. Ähnlich wie die Beschlüsse der Ministerpräsidenten den Corona-Infektionszahlen hinterhereilen und diese runter zu regeln versuchen, eilt ein legislativer Prozess einem Aspekt der Digitalwirtschaft hinterher, obwohl schon längst eine neue Technologie erschienen ist, die wiederum reguliert werden muss.
  • Und Ubiquität, weil jede Regulierung im Grunde überall auf der Welt greifen müsste – Global Player brauchen Global Rules – mindestens aber europäische. Die europäische Politik ist da dran, und auch auf nationaler Ebene hat die Bundesregierung im Frühjahr Eckpunkte für eine Datenstrategie zur Konsultation gestellt, mit der unter anderem die Datenverfügbarkeit verbessert werden soll.

Versicherer müssen aber nicht nur digitaler werden; die Versicherungswirtschaft muss wie die Gesellschaft auch grüner werden.

Der Gegensatz zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit löst sich auf

Die Zeit ist vorbei, in der ein Gegensatz zwischen Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit aufgemacht wurde. Tatsächlich werden sich in Zukunft nur jene Unternehmen am Markt behaupten können, die mit ihren Dienstleistungen und Produkten in Zukunft keine Lasten produzieren – nicht fürs Klima, nicht für die Umwelt, nicht für die Gesellschaft. Mit der sogenannten Taxonomie soll ein EU-weites Klassifizierungssystem für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten geschaffen werden. Flankiert wird die Taxonomie durch eine Transparenzverordnung, die Anbieter und Vermittler von Geldanlagen zur Offenlegung zwingt, wie sie bei ihrer Tätigkeit Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen. Schließlich sollen nachhaltige Investitionen erleichtert werden, indem Unternehmen klarer über Nachhaltigkeitsaspekte Auskunft geben müssen.

Die durch Corona ausgelöste Rezession bietet eine Riesenchance für die von der EU geplante, milliardenschwere grüne Transformation der Wirtschaft. Als einer der größten institutionellen Kapitalanleger, sind wir prädestinierte Partner für die Energiewende und Investitionen in nachhaltige Infrastruktur und werden die Debatte um nachhaltige Kapitalanlage prägen und fördern. Schon deshalb, damit die Folgen des Klimawandels versicherbar und Schäden beherrschbar bleiben.

Wir sind mittendrin und mit dabei: Nachhaltigkeitskriterien bei der Kapitalanlage über Ausschlüsse zu berücksichtigen ist heutzutage quasi Standard bei Versicherern. Immer mehr wollen Nachhaltigkeitskriterien aktiver berücksichtigen: Hier wird eine Taxonomie hilfreich sein, die pragmatisch und verhältnismäßig ist. Aber auch hier braucht es robuste, vergleichbare und gebrauchsfertige Daten für die Investitions- und Risikomanagemententscheidungen.

Investitionen in grüne und nachhaltige Vermögenswerte nehmen zu: Noch aber sind nur vier Prozent der jährlichen Emissionen grüne Anleihen. Die erste grüne Anleihe des Bundes war mehrfach überzeichnet – obwohl sie mit null Prozent verzinst war. Versicherer sind mit Milliarden in Windparks und Solaranlagen investiert. Viele sind in Nachhaltigkeitsinitiativen aktiv und zeigen dadurch auch nach außen: Wir übernehmen Verantwortung.

Und natürlich bringen wir unsere Expertise als Risikoträger bei der Entwicklung von Präventions- und Anpassungsmaßnahmen gegen den Klimawandel ein.

Wir sind auf einem richtigen Weg, aber zur grünen und digitalen Zukunft der Versicherer liegt noch eine lange Strecke vor uns. Ich kann Ihnen versichern: bei der fundamentalen Umgestaltung hin zu einer nachhaltigen und digitalen Wirtschaft will und wird die Versicherungswirtschaft dabei sein – in ihrem und unser aller Interesse.

Autor: Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des GDV

Link: Das gesamte Programm der Veranstaltung.

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