Strategieentwicklung – von Tücken, Nagelbrettern und Chancen

Moritz Finkelnburg, Convista. Bildquelle: VW

Strategieentwicklung ist eine hohe Kunst. Bei der man viel falsch machen kann. Convista-Berater Dr. Moritz Finkelnburg schaut hinter die Kulissen der Branche, berichtet von seinen Erfahrungen und zeigt, was die größten Stolpersteine sind. Und wie man einen Weg drumherum findet.

Als Leiter der Strategieabteilung einer großen IT-Beratung werde ich oft erstaunt gefragt, was ich tue. Was hat die Migration von Kernsystemen, das Übereinanderlegen von SAP-Zielbildern, eine rechtzeitige S/4 HANA-Einführung oder die Hostablösung hin zu einer neuen Anwendungslandschaft denn mit „Strategie“ zu tun? Bestimmt – so werde ich dann gefragt – geht es bei mir und meinen Kunden nur um „IT-Strategie“, also die Auswahl der zum Unternehmenstyp passenden Systeme und vielleicht die kluge Strukturierung einer „IT-Abteilung der Zukunft“. Den wenigsten ist klar, dass man eine Unternehmensstrategie nicht losgelöst von der IT-Struktur planen kann und sollte. Denn der spätere Umsetzungserfolg hängt hiervon maßgeblich ab. Mein Thema ist also die „echte“ Strategie unserer Versicherungskunden und ihre Umsetzungsprobleme.

Umsetzungsprobleme? Sie werden jetzt etwas belustigt lächeln und vor sich hinmurmeln „… ist doch klar. Weiß ich doch. Kommt bei uns zum Glück nicht vor …“. Sind Sie sicher? Ich würde fast dagegen wetten. Meine Beobachtungen sind hier sehr eindeutig und ich schätze, dass 70 bis 80 Prozent der Versicherer hier nennenswerte Fehler machen, die ihre Strategie-Umsetzung deutlich beeinflussen.

Gerade im kleinen und mittelständischen Bereich werden nicht zu Ende gedachte, teils überambitionierte Strategieprozesse auf die Schiene gebracht, die noch vor der geplanten Zeit versickern oder „ohne Benzin liegenbleiben“. Die Schuldigen werden dann in den einzelnen betroffenen Abteilungen gesucht, die die strategisch geplanten Maßnahmen einfach nicht umsetzen wollen bzw. können. Und natürlich im „Nadelöhr“ IT. Als ob dies überraschend wäre.

Die „Hitliste“ meiner kritischen Strategiebeobachtungen lautet wie folgt:

1. Unrealistische Strategieziele

Überambitionierte Ziele führen zu Frustration bei den handelnden Personen im Maschinenraum (Stichwort: „Jetzt weiß ich im Januar schon, dass ich in diesem Jahr keinen Bonus bekomme …“). Dies führt zu Gleichgültigkeit und stillem Widerstand. Beides sind Todsünden für die Umsetzung. Eine „Politik der kleinen Schritte“ mit einem strategischen Langfristziel (ich meine einen Zeithorizont von fünf bis acht Jahren), einem Commitment der Belegschaft und einem systematischen Heranführen an den „Idealzustand“ des Unternehmens ist aus meiner Sicht viel klüger. Was ist die DNA des Unternehmens? Wofür steht es? Und wofür soll es in Zukunft stehen? Oft werden – vielleicht auch auf Druck der Eigentümer – vor allem quantitative Ziele ausgerufen, die schlichtweg unrealistisch sind oder sich auch konfliktiv gegenüberstehen. Neun Prozent Wachstum und neun Prozent Ertragsverbesserung? Habe ich noch nie erlebt. Na ja – vielleicht in einem „sich kreuzenden“ Zufallsjahr, bevor es in der einen oder anderen Richtung zur Explosion kam.

Das eigentliche Ziel des Unternehmens muss es doch sein, die eigene DNA, sprich Kultur und Identität zu bewahren, das maximale Ergebnis hierfür langfristig sicherzustellen und dabei einen möglichst schwankungsfreien Zustand – trotz aller Unwägbarkeiten des Marktes – zu erreichen. Die quantitativen Ziele führen aber oft zu „DNA-fremden“ Aktivitäten, die das Gefüge des Unternehmens erschüttern, die Kultur belasten und – last not least – auch IT-Kapazitäten erfordern, die neu, ungewohnt und teuer sind.

2. Keine saubere Umsatzplanung

Sie wollen trotzdem unbedingt neun Prozent wachsen? Nun gut. Das geht nur über zwei Bereiche: Produktmäßig sprechen wir über Kfz (Privat oder Flotte) sowie über Gewerbegeschäft. Beides bedarf einer guten, marktfähigen Produktstruktur nebst Pricing. Haben Sie die? Oder muss sie noch gebaut werden? Sie lächeln wieder und murmeln „no worries – haben wir längst …“. Perfekt. Glückwunsch. Wie würde denn einer Ihrer Vermittler oder Makler dies beschreiben? Genauso? Apropos Vertrieb: Da bleiben nur Makler und Aggregatoren bzw. Pools, um hier Masse zu erreichen. Auch dies bedingt eine kluge Struktur mit Maklerclusterung, zugeschnittenem Betreuungs- und Spezialistengerüst, Maklerservicecenter, BiPRO, MVP, passender Courtage etc. Glatte und durchdachte Prozesse. Sonst überrollt Sie das Geschäft mengenmäßig und sie werden alles manuell verarbeiten müssen. Ich könnte die gleiche Beobachtung schildern, wenn es um ein zu ambitioniertes Ertragsziel ginge. Ist Ihnen dies klar, wenn Sie ein solches Ziel formulieren?

3. Die IT wird im Strategieprozess „vergessen“

Die IT-Anforderungen werden oft vergessen oder falsch bewertet. Oder viel zu spät berücksichtigt. Bleiben wir bei meinem kleinen Wachstumsbeispiel. Alle oben skizzierten Schritte führen zwangsläufig zu IT-Aufwand. Ist dieser sauber Schritt für Schritt berechnet? Kann die IT hier eine Aufwandsschätzung verknüpfen und kann sie diese Aufwände leisten? Bis wann? Im Idealfall wissen Sie am Ende eines gut strukturierten Strategieprozesses, wie viel Sie ihr neunprozentiges Wachstumsziel an IT-Aufwand kostet. Und Sie wissen natürlich auch, wie hoch der Aufwand für alle anderen strategischen Maßnahmen ist (Ertragsplanung, Kostenplanung, neue Assetstruktur etc.). Wenn dies bei Ihnen Standard ist: Chapeau!! Meine Erfahrung ist – leider – eine andere.

4. Der Strategie-K.O. schlechthin: Die Prio-Liste der IT

Verstehen Sie mich nicht falsch: Die IT kann nichts dafür! Es ist die klassische Logik und uralte Verhaltensweise der Versicherer, die dieses „Nagelbrett“ unter ihre Reifen schiebt und lustvoll darüber fährt. Ca. 70 Prozent der IT-Kapazitäten sind in der Regel für „Maintenance“ blockiert. Also für klassische Pflichtaufgaben bei der Systembetreuung und -wartung. Zu hoch? Vielleicht – doch dazu später. Die verbleibenden 30 Prozent sind allerdings auch nicht frei verfügbar, sondern werden stark von versicherungstechnischen und regulatorischen Pflichtaufgaben bestimmt. Die großen Rechnungsläufe, klassische Releasezyklen oder DORA / VAIT etc. seien hier nur als Beispiele genannt. Was bleibt? Je nach Unternehmen sprechen wir über zehn bis 20 Prozent der ursprünglichen IT-Kapazitäten.

Wie werden diese verteilt? Hier kommt die bereits erwähnte, legendäre „Prio-Liste“ ins Spiel, die jeder Versicherer kennt und hat. Üblicherweise werden Strategiemaßnahmen mit Vorrang behandelt, was natürlich klug erscheint. Dies bedeutet allerdings, dass längst überfällige und seit Jahren auf dieser Liste tapfer nach oben kletternde Vorhaben plötzlich wieder nach unten rutschen. Auch entfaltet sich ein sehr interessanter Kampf zwischen „Kurzläufern“ und Großprojekten. Soll man „Kurzläufer“ vorziehen? Sie sind vielleicht nicht so wichtig – aber schnell zu erledigen. Oder gerade nicht? Dann werden sie zulasten der großen Themen wieder für ein bis zwei Jahre blockiert … Oft wird zur „Friedensfindung“ eine Bewertungsmatrix entwickelt, die eine ganz eigene Dynamik ins Spiel bringt.

Was ist wichtiger? Wachstumsinitiativen oder strategische „Ertragsverbesserungsprogramme“? Es passiert, was passieren muss: Die oft kleinteilige Struktur der Prio-Liste entscheidet letztlich über die Umsetzung der einzelnen strategischen Maßnahmen. Oder – dies kommt gerade im Lager der Öffentlichen Versicherer mit ihrer Verbundstruktur häufiger vor – man hat gemeinsame Entwicklungsgemeinschaften gegründet, um die Kräfte effizient zu bündeln und Synergieeffekte zu nutzen. Dies bedeutet aber umgekehrt einen weiteren Abstimmungsbedarf und eine neue „Verbund-Prio-Liste“.

5. Und die Lösung?

Mir ist klar, dass Sie jetzt zwei Gedanken haben: „Was bin ich froh, dass die Konkurrenz solche Probleme hat und wir nicht“. Und „Wie bekommen die denn jetzt das Nagelbrett unter ihrem Auto weg?“ Hier gibt es zwei Lösungswege:

Sind Sie – Pardon, Ihre Konkurrenten – bereits in einem fortgeschrittenen Strategieprozess, empfiehlt sich ein „strategischer Boxenstopp“, um mögliche Nagelbretter zu erkennen und zu entfernen. Klingt seltsam. Sie wissen aber, was gemeint ist. Frische Reifen. Neues Benzin. Alles auf den Tisch. Schonungslose – kurze – Analyse. Feststellen, was gut lief und was kritisch. Und warum. Und was getan werden muss, um bis zum Ende noch das Maximum herauszuholen. Machen Sie diesen „Boxenstopp“ bewusst. Planen Sie ihn ein und holen Sie einen vertrauten, aber kritischen Geist von außen dazu, der Dinge infrage stellt. Gut kommuniziert und den einen oder anderen „gordischen Knoten“ durchschnitten, wirkt dieser „Boxenstopp“ oft Wunder.

Zweites Szenario: Sie planen die nächste Strategieperiode bereits. Dann haben Sie die Chance, alles richtigzumachen. Mitarbeiter frühzeitig einzubinden, eigene DNA zu berücksichtigen, Ziele langfristig und realistisch zu planen. IT-Implikationen berücksichtigen und vorbereiten. Mein Tipp: Ein „Regisseur“ wirkt Wunder. Er hält die Fäden zusammen, gleicht die Zielsetzungen mit der tatsächlichen Strategieplanung ab und korrigiert rechtzeitig den Kurs. Gesetzt für diesen Job sind die Strategiechefs der Häuser. Oft erfahrene, langjährige Experten, die ihr Haus bestens kennen. Vielleicht ergänzt um einen strategieerfahrenen externen „friend of the company“. Der hier souffliert und Dinge auch von außen nochmals beleuchtet und hinterfragt. Diese „Tandemlösung“ ist mein Geheimtipp, solange der Externe ausreichend Bodenhaftung und eigene praktische Erfahrung mitbringt. Er soll Sparringspartner des Strategieleiters sein, nicht der heimliche Vertreter des Vorstands.

Autor: Dr. Moritz Finkelnburg, Managing Partner der IT- und Strategieberatung Convista Consulting. Er kommentiert als langjähriger Versicherungsvorstand und Akademischer Direktor der Goethe Business School Frankfurt für die Zeitschrift „Versicherungswirtschaft“ die Entwicklungen der Branche.

Versicherungsexperte Moritz Finkelnburg. Bildquelle: Convista