Deutscher Gesundheitsmarkt: Drängende Herausforderungen, aber auch hohe Chancen

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Ein nachhaltig stabiles Gesundheitssystem in Deutschland wird auch unter neuer Regierungsverantwortung hohe Priorität haben, schreibt Roland-Berger-Experte Christian Schareck im Gastbeitrag für VWheute. Noch in der letzten Legislaturperiode wurden die gesetzlichen Weichenstellungen, u.a. durch Digitalisierungsinitiative und -Gesetz (DigiG), durch Einführung von EPA und e-Rezept sowie im Hinblick auf angekündigte stärkere Einbindung von Leistungserbringern vorgenommen. „Nun gilt es, die konkrete Umsetzung und den kontinuierlichen Aufbau der notwendigen Infrastruktur für eine datengestützte, effiziente Versorgung zu forcieren.“

Im neuen Koalitionsvertrag finden sich diese Ziele im Bekenntnis zur Sicherung einer „bedarfsgerechten und bezahlbaren medizinischen und pflegerischen Versorgung“ durch „tiefgreifende strukturelle Reformen“, Stabilisierung der Beitragssätze“ und Effizienzsteigerungen in der „ambulanten Versorgung“.

Es ist unübersehbar: Der volkswirtschaftliche Druck im Gesundheitssystem ist hoch, es bieten sich aber auch zahlreiche Chancen und wachsende Potenziale für alle Beteiligten in diesem bedeutenden Markt. Die Gesundheitsausgaben beliefen sich im Jahr 2024 auf über 500 Mrd. Euro (fast 13% des BIP), bereits heute arbeitet jeder 6. Erwerbstätige in der Gesundheitswirtschaft. Um die Versorgung auch weiter sicherzustellen, und mit den aktuellen Entwicklungen Schritt zu halten, sind die folgenden Herausforderungen zu meistern: Die medizinische Inflation ist auf einen Wert von deutlich mehr als 6% gestiegen, das Durchschnittsalter der Ärzte beträgt aktuell 55,1 Jahre, die Ausgaben für Heil- und Hilfsmittel wuchsen im letzten Jahr um ca. 5%, und über 1.000 Pflegeeinrichtungen mussten in den letzten 2 Jahren schließen. (Quelle: Statistisches Bundesamt – destatis 2025)

Es liegt auf der Hand, dass eine bestmögliche Vernetzung der Leistungserbringer und Kostenträger der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit des Systems darstellt.  

In diesem Sinn entstehen aktuell „Ökosysteme“ für durchgängig digitalbasierte Patienten- und Kundenreisen über die verschiedenen Leistungserbringer hinweg.

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Beispiele hierfür lassen sich derzeit vermehrt am Markt beobachten: So schließen sich aktuell zahlreiche in Deutschland tätige Apotheken zu einer gemeinsamen Plattform zusammen. Auf Basis geeigneter technischer Infrastrukturen – konform mit ePA und e-Rezept – ermöglichen sie eine niederschwellige, regionale Versorgung in den Bereichen Medikation und Logistik. Durch die systematische Einbindung weiterer Leistungserbringer, etwa aus der Pflege, von Sanitätshäusern oder Diagnosezentren, wird das Netzwerk kontinuierlich erweitert. Auf diese Weise wird die von der Politik angestrebte Rolle der Apotheke als erste Anlaufstelle vor Ort gestärkt und die Weiterentwicklung des Apothekerberufs hin zu einem Heilberuf nachhaltig unterstützt.

Christian Schareck, Roland Berger. Bildquelle: Unternehmen

Die zukünftige Rolle der Krankenversicherer – Nachhaltiger Begleiter auf der Patientenreise

Eine Einbindung privater Krankenversicherer in solche Netzwerke der Leistungserbringer und Versorger stellt eine notwendige Komplettierung dar und eröffnet bei echter Integration hohe Potenziale für alle Beteiligten, nicht zuletzt für die Patienten/Kunden. Diese Ansätze erweitern den Fokus deutlich über erste Zusammenschlüsse von einzelnen Krankenversicherern (bspw. in der Initiative LM+) in der Vergangenheit, in deren Rahmen bereits Effizienzen z.B. bei der Beschaffung von Heil- und Hilfsmitteln realisiert wurden. Aktuell stellt das Innovationsnetzwerk für Versorgung eine erweiterte Kooperationsplattform dar, in der durch gemeinsame Einkaufswege von PKV-Unternehmen Kostendegressionen im Leistungs- und Versorgungsbereich realisiert werden.

Ein originärer Schwerpunkt für die Versicherer als Teil des Ökosystems Gesundheit ist es, durch Hebung der Effizienzen den (weiter zu erwartenden) Kostenanstieg im Gesundheitswesen abzumildern, um eine größtmögliche Stabilität der Beiträge sicherzustellen. Effizienzgewinne sind durch die verstärkte Nutzung von Daten im Sinne einer bedarfsgerechteren Behandlung zu erzielen, die zielgerichtete Versorgung und Prävention erfordert wiederum eine vernetzte und durchgängige Infrastruktur.  

Neben der Optimierung der direkten Behandlungs- und Beschaffungskosten lassen sich durch die gezielte, datengestützte Patientenbegleitung zahlreiche Optionen zur Verbesserung der individuellen Versorgung realisieren. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Produkte und Tarife, die an den einzelnen Leistungserbringern und Versorgungsstrukturen ausgerichtet sind. Ein Beispiel hierfür könnten Weiterbehandlungen und Assistanceleistungen nach Diagnosen im Rahmen von Telekonsilien sein.

Darüber hinaus ist der Blick über das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherer im engeren Sinne hin zu umfassenderen, zielgruppenspezifischen Kundenstrategien zu weiten.

Als Beispiel sei hier auf die bedeutende und stetig wachsende Gruppe der Chroniker verwiesen – bereits seit Jahren bewegt sich der Anteil bei über 40% der gesamten Bevölkerung in Deutschland, deutlich zunehmend in den höheren Altersklassen. Diese Kundengruppe lässt sich aus Sicht der Krankenversicherer sicher zunächst im Hinblick auf Kostenaspekte analysieren und durch verbesserte und individuelle Versorgung im Rahmen des Ökosystems optimiert begleiten. Aus einer ganzheitlichen Kundensicht sind darüber hinaus attraktive und bedarfsgerechte, maßgeschneiderte Cross-Selling-Potenziale in dieser Klientel – bspw. in der Gruppe der „Best-Ager“ adressierbar: Ein gehobener wirtschaftlicher Hintergrund ist überproportional vertreten, gleichzeitig weist diese Klientel eine hohe Affinität für Unterstützung- und Versorgungskonzepte auf. Über 70% geben in Befragungen an, die Beratung / Begleitung durch den Versicherer zu schätzen. Im Durchschnitt leiden die Betroffenen mehr als 15 Jahre unter der chronischen Erkrankung und sind während dieser Zeit mit Therapien, Vorsorge, Prävention, Diagnostik etc. kontinuierlich befasst. Eingebunden in Versorgungs- und Kommunikationsstrukturen eines solchen Netzwerkes existieren damit zahlreiche Touchpoints, die Versicherern Adressierungspotenziale mit zielgenauer Passgenauigkeit ermöglichen.

Konkret am Beispiel des oben genannten Apothekennetzwerks bedeutet dies: Die ca. 16.000 Vor-Ort-Apotheken in Deutschland mit ihrem regionalen, niederschwelligen Versorgungsauftrag generieren kontinuierliche, wiederkehrende Kontaktanlässe. Darüber hinaus werden nicht zuletzt durch die zielgruppengerechten versorgernahen Medien sehr hohe Reichweiten sowie spezifisch empfängerzentrierte Ansprachen realisierbar. Diese Entwicklung erhält eingebettet in die rasant wachsende Infrastruktur des e-Rezepts noch einmal einen signifikanten Schub. Aber auch Anlässe wie Impfung, einfache Labordiagnostik und weitere mit der Telemedizin kombinierbare Konsilien wie dermatologische oder kardiologische Untersuchungen in den Apotheken bieten zahlreiche vertriebliche Anknüpfungsfelder.

Das Potenzial lässt sich weiter fassen, wenn man im Sinne eines erweiterten Radius zusätzlich auch Angehörige und Affinitätskollektive der Chroniker in die gezielte Ansprache mit einbezieht.

Fazit

Die aktive Partizipation an Gesundheits-Ökosystemen stellt eine wichtige Weichenstellung der Zukunft für den nachhaltigen Erfolg der Krankenversicherer dar. Hier ist eine Teilnahme in allen Dimensionen zu prüfen und zu bewerten.  Kostendegression, Effizienz und Beitragsstabilität sind die eine Seite des sich bietenden Potenzials und essenziell für die Nachhaltigkeit des Geschäftsmodells, die Adressierung hoher Kundenpotenziale auch in weitere maßkonfektionierte Versorgungsdienstleistungen und Produkte bieten zusätzlich erweiterte Wachstumschancen.

Auch wenn die privaten Krankenversicherer nicht in jeder Dimension führend in einer zukünftigen Gesundheits-Infrastruktur sein müssen, rechtfertigt eine gezielte strategische Ausschöpfung der Möglichkeiten die notwendigen Entwicklungs- und Investitionsentscheidungen. Nicht zuletzt positioniert man sich als Teil der zukünftigen Lösungswelt und manifestiert den eigenen Beitrag zu Sicherstellung der Versorgung.

Autor: Dr. Christian Schareck, Senior Partner Roland Berger