Personalführung: Wie Versicherer ihre Belegschaft durch die digitale Transformation bringen
Für Versicherer steigt der Druck, individualisierte Angebote für verschiedene Lebensphasen und -modelle zu schaffen. Das stellt die Branche nicht nur technisch und organisatorisch, sondern auch personell vor große Herausforderungen. Um sowohl für Mitarbeiter als auch Kunden wettbewerbsfähig zu bleiben, ist seitens der Versicherer ein tiefer Griff ins Getriebe notwendig. Ein Gastbeitrag von Nico Rudorf, Director Banking, Financial Services & Insurance bei der Berliner Strategieagentur und Designberatung diffferent.
Statt zu versuchen, möglichst schnell möglichst vollumfänglich bestehende Strukturen umzubauen, empfiehlt es sich im ersten Schritt, vorhandene Kanäle menschenzentriert zu optimieren. Das gilt insbesondere für das – nach wie vor sehr wichtige – analoge Vertriebsnetzwerk. Menschlichkeit und Empathie werden in Zeiten rein digitaler Customer Experiences zu echten Differenzierungsfaktoren. Es wäre fahrlässig, die Stärke der regionalen Vertriebsmannschaften in diesem Bereich aufzugeben.
Im zweiten Schritt sollte beim Aufbau neuer Organisationsstrukturen immer wieder überprüft werden, welche Bestandselemente sinnvoll migriert werden können und welche einer grundlegenden Neuausrichtung bedürfen. Dabei kann es sich durchaus lohnen, den steinigen Weg des Umbaus zu gehen und damit echten Fortschritt zu ermöglichen. Versicherer, die Kundenzentrierung ernst nehmen, sollten zum Beispiel ernsthaft erwägen, die klassischen Leistungssilos wie Altersvorsorge, Krankenversicherung, Lebensversicherung, Unfallversicherung etc. aufzubrechen. Ergebnis könnten neue Rollen und Funktionen wie Insight-Engine, Customer Journey-Management und Prototyp-Design sein.
Führung in der Transformation
Wer Zukunft mit vielen Menschen gestalten will, braucht ein gemeinsames Zielbild. Es muss klar aufzeigen, welche aktuellen Baustellen angegangen werden, was mit der digitalen Transformation erreicht werden soll, wie der gewünschte Zukunftszustand aussieht und warum sich der gemeinsame Kraftakt lohnt.
Ein klar definiertes Zielbild ist Grundvoraussetzung für erfolgreiche Change-Arbeit, wird allerdings nicht verhindern, dass es innerhalb der Belegschaft Fragen und Unsicherheiten gibt. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen an Führung. Das Management muss Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Datenlage und Bauchgefühl treffen und dabei immer wieder flexibel auf Veränderungen reagieren.
Um die Motivation der Mitarbeitenden und ihr Vertrauen in den Prozess zu steigern, sollten sie eingeladen werden, die Transformation aktiv mitzugestalten und dazu befähigt werden, ihre Stärken und Potenziale voll einzubringen. Insbesondere die Einbindung und das Coaching des mittleren Managements können hier ein kritischer Erfolgsfaktor sein.
Neue Talente für neue Herausforderungen gewinnen
Um datenbasiert individuelle Angebote machen zu können, die den KundInnen dabei helfen, ihre eigene Absicherung ganzheitlich zu optimieren, benötigen Versicherer MitarbeiterInnen mit einem neuen Profil. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, Talente zu rekrutieren, die einerseits die Agilität und Schnelligkeit moderner Arbeitsweisen mitbringen, sich andererseits aber auch sicher im Kontext der stark regulierten Branche bewegen. Dazu müssen sie es schaffen, ins Relevant Set der entsprechenden Zielgruppe zu gelangen.
Hier sind Versicherer in einer guten Startposition: Bestehende Vorzüge wie gute Gehälter und Arbeitsplatz-Sicherheit können herauspoliert werden. Als neue Anreize gilt es beispielsweise Gestaltungsmöglichkeiten in den Themen und Flexibilität in der Arbeitsorganisation zu fördern.
Bestandsmannschaften von Betroffenen zu MittäterInnen machen
Eine weitere – nicht minder ambitionierte – Aufgabe wird es sein, die bestehenden MitarbeiterInnen in die digitalisierte Versicherungsbranche mitzunehmen. Hier lohnt sich ein Blick in die Theorie der Ambidextrie. Es gibt zwei Fahrspuren der Transformation, die nicht als Entweder-oder, sondern im Miteinander existieren. Die eine Fahrspur ist die Ausdehnung und Optimierung der bestehenden Stärken. Die zweite Fahrspur ist die Exploration neuer Chancenfelder und der Aufbau neuer Fähigkeiten.
Beides sollte mit Augenmaß und Geduld geschehen. Es geht nicht um Intensität, sondern um Kontinuität. Umschalten vom Sachbearbeiter zum KundInnenbegleiter funktioniert mit Zeit und einer Vielzahl von Erlebnis- und Reflexionsmomenten. Ein stärkenorientiert handelndes Unternehmen wird die MitarbeiterInnen ihrer Passion und Fähigkeiten entsprechend auf einer der beiden Fahrspuren einsetzen – aber idealerweise in gemischten Teams, um einer Zweiklassen-Gesellschaft vorzubeugen und um voneinander zu profitieren.
Die neue Zusammenarbeit organisieren
Die Organisation der neuen Zusammenarbeit ist eine Frage von Technik und Mindset. Spätestens seit März 2020 wissen wir, dass sich die technischen Knackpunkte in den Griff bekommen lassen. Oft ist die mentale Herausforderung die größere. Um sie zu meistern, gilt die Faustregel: Ergebnisse erzeugt man durch Erlebnisse.
Die Angst vor dem Neuen verliert man am besten, indem man es kennenlernt. Heterogene Teams tragen stark dazu bei, sich unbekannten Arbeitsweisen gegenüber zu öffnen, Vielfalt zu würdigen, unterschiedliche Geschwindigkeiten zuzulassen und Lernprozesse zu starten. Das gegenseitige Lernen kann durch die Einführung agiler Techniken gestärkt werden. Ein Daily Stand-up, ein Kanban Board und eine Retrospektive helfen auch Teams, die primär wiederkehrende Aufgaben mit klarem Ergebnis erfüllen, stärker voneinander zu profitieren und sich gemeinsam weiterzuentwickeln.
Autor: Nico Rudorf ist Director Banking, Financial Services & Insurance bei der Berliner Strategieagentur und Designberatung diffferent. Er unterstützt mit seinem Team Kunden wie die Deutsche Bank, Consorsbank, die AOK oder Axa dabei, differenzierende Nutzererlebnisse zu schaffen. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Customer Experience Management, Markenpositionierung und Transformation.