Russland, China und die Welt: „Noch nie waren Risikomanager so wichtig wie heutzutage“

Guy Verhofstadt, Quelle: Martin Thaler

„Die Risiken ändern sich“. Es ist eine kurze, nichtsdestotrotz weitgreifende Botschaft, die Jo Willaert, scheidender Präsident der Ferma (Federation of European Risk Management Associations) beim Treffen der europäischen Risikomanager an das Berliner Publikum richtet.

„Als ich mein Amt vor vier Jahren angetreten habe, waren die Risiken, mit denen wir konfrontiert waren, ernst. Wir verfügten jedoch zumindest über Erfahrungswerte, auf denen wir aufbauen konnten. Heutzutage sprechen wir von Risiken, deren Tragweite und Schadenspotenzial wir noch gar nicht absehen können.“ Gemeint sind damit nicht nur Themen wie die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, sondern auch der Klimawandel. „Dessen Auswirkungen spüren wir bereits heute – jeden Tag“, betonte Willaert die Dringlichkeit des Problems.

Dass Risikomanager neben technischen und klimatischen Herausforderungen auch die Geopolitik im Auge behalten müssen, unterstrich im Anschluss der ehemalige belgische Premierminister und jetzige Europaparlamentarier Guy Verhofstadt, der in seinem Vortrag die Reformbedürftigkeit der Europäischen Union anmahnte.

„Die Europäische Union ist in ihrer jetzigen Form nicht zukunftsfähig – sie reagiert stets nicht ausreichend und das zu spät“, stellte Verhofstadt gewohnt polemisch fest. Zur Unterstreichung seiner Behauptung zog der Belgier die Handhabung der Finanzkrise von 2008 heran. Während die USA innerhalb von neun Monaten mit dem „Troubled Asset Relief Plan“ sowie einem umfassenden Investitionsprogramm die Krise überwanden, habe die EU auch nach neun Jahren die angestrebte Bankenunion nicht umsetzen können, monierte Verhofstadt. Grund: Die Vorgabe der EU, dass Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen. „Das ist nicht mehr zeitgemäß“, befand der EU-Parlamentarier.

Zu wenig Effizienz in Europa

Gleiches gelte auch in der Verteidigungspolitik. Obwohl die Europäischen Staaten mit ungefähr 249 Milliarden Euro im Jahr mehr als viermal so viel für ihr Militär ausgeben wie Russland, sei das Ergebnis doch bescheiden. „Ich bin mir nicht sicher, ob Europa im Fall eines russischen Angriffes diesen ohne die Hilfe der Amerikaner abwehren könnte“, monierte Verhofstadt. Der Grund: Da jedes Land eine eigene Armee unterhalte, werde mehrfach für die gleichen Strukturen bezahlt, ohne dass sich hieraus eine Effizienzgewinn ergebe.

Nur wenn die Europäische Union es schaffe, sich erfolgreich zu wandeln, könne eine weitere Desintegration der Gemeinschaft verhindert werden, unterstrich Verhofstadt, was seiner Meinung nach auf dem Spiel stehe. Nur dann habe Europa in Zukunft die Möglichkeit, bei der Bewältigung umfassender Probleme eigene Akzente zu setzen: „Die weltpolitischen Entscheidungen der Zukunft werden nicht von Nationalstaaten, sondern von Imperien getroffen werden“, so Verhofstadt.

Andere geopolitische Szenarien könnten indes wesentlich schneller eintreten, wie zuvor Sam Wilkin, Analyst für politische Risiken beim Makler Willis Towers Watson darlegte. So könne beispielsweise eine Verschärfung der derzeit in Hongkong stattfindenden Proteste ein direktes Eingreifen Chinas zur Folge haben. Die darauf wahrscheinlich folgenden amerikanischen und europäischen Sanktionen könnten die chinesische Regierung dazu veranlassen, europäische sowie amerikanische Firmen auf eine Liste „unzuverlässiger“ Firmen zu setzen. Einen solchen Schritt hatte die chinesische Regierung im Mai im Rahmen des Handelskonfliktes mit den USA angedroht. Auch der Entzug bzw. die Nichterteilung von Lizenzen seien denkbar.

Geopolitische Risiken sind folglich nicht auf die notorischen Krisenherde dieser Erde beschränkt und stellen im Zusammenspiel mit klimapolitischen und technologischen Herausforderungen ein hohes abzusicherndes Risiko insbesondere für die immer komplexer werdenden Lieferketten der Unternehmen dar. „Noch nie waren Risikomanager so wichtig wie heutzutage“, stellt Ferma-Präsident Willaert, der in diesem Jahr vom Deutschen Dirk Wegener abgelöst wird, zum Abschluss seiner Rede fest. Es ist eine Aussage, die die anwesenden Risikomanager gerne gehört haben werden.

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