„Ich habe innerlich geschrien“: Robin Kiera kritisiert veralteten Versicherungsvertrieb

Robin Kiera redet Klartext zum Vertrieb. Quelle: privat.

Social Selling kann den Umsatz um bis zu 48 Prozent wachsen lassen, weiß Robin Kiera, Gründer und CEO von Digitalscouting. Das hat sich in der Branche noch nicht herumgesprochen, denn das Marketing ist – mit wenigen Ausnahmen – „einfach mies“. Die Versicherer verbrennen Milliarden mit altertümlichen Aktionen, glänzen aber mit Abwesenheit an den relevanten, digitalen Verkaufspunkten. Wie es besser geht, erklärt Kiera in seinem neuen Buch „Mehr Verkaufen durch Attention Hacking“ und im VWheute-Gespräch.

VWheute: Deine These ist, dass Versicherer Milliarden mit veralteten Vertriebsansätzen verbrennen. Kannst du mir ein paar Beispiele geben?

Robin Kiera: Ich habe sowohl bei großen, als auch bei kleineren Versicherern gearbeitet – und so manchen Wahnsinn aus nächster Nähe beobachten können. Einige der im Buch – anonym – genannten Beispiele stammen aus dieser Zeit. Es werden Unsummen in der Steuerung und Betreuung von Vermittlern verbrannt. Es ist doch irrsinnig, dass im Jahr 2021 Vertriebsmanager noch ins Auto steigen und täglich zu zwei bis drei Maklern und AO-Vertretern fahren und sie mit einem Besuch beglücken. Ähnlich ineffizient ist es, dass Vertriebler heute noch kalt Kundenlisten abtelefonieren.

Viel effizienter und effektiver wäre es, Kontaktpunkte zu Maklern, Pools oder AO-Vermittlern durch digitale Inhalte, moderne Formate und Kanäle, in denen sie sich wirklich befinden, zu erhöhen. Gleiches gilt für Endkunden. Wer seinen Bestand systematisch mit digitalen Inhalten bespielt, der wird nach neun bis zwölf Monaten feststellen, dass Kunden nicht mehr zu „Beratungsgesprächen“ motiviert werden müssen, sondern dass was völlig Verrücktes passiert: Kunden melden sich proaktiv im Moment des Bedarfs.

Im Durchschnitt liegt das Umsatzwachstum, wenn man auf Social Selling innerhalb der Organisation umstellt, zwischen 22 und 48 Prozent im Neukundengeschäft.

VWheute: Was sollte die Branche besser machen – mal ehrlich, das Produkt ist kompliziert und unsexy, sagt selbst Swiss Re-CEO Christian Mumenthaler.

Robin Kiera: Ich habe tiefen Respekt vor der mutigen und smarten Strategie von Swiss Re – von IpitQ bis zu LPP (in Kooperation mit MSG). An dieser Stelle muss ich Herrn Mumenthaler aber widersprechen. Mobiltelefone und Autos sind per se nicht attraktiver als Versicherungsprodukte. Im Gegenteil. Das eine sind Gebrauchsgegenstände, die im Wert fallen. Das andere rettet Vermögen, Gesundheit und beschützt Menschen und Familien – teilweise über Jahrzehnte.

Es stellt sich einfach die Frage: Warum haben wir als Versicherungsindustrie trotz Milliarden und Aber-Milliarden in Marketing investierter Budgets ein so schlechtes Image?

VWheute: Sag es mir.

Robin Kiera: Apple, Tesla und BMW sind halt einfach deutlich besser darin, Emotionen zu wecken und die Kunden zu erreichen. Das Marketing der Versicherungsindustrie ist – bis auf Ausnahmen – einfach mies.

Es gilt sich konsequent anzuschauen, was erfolgreiche Marken tun. Red Bull baut seit Jahrzehnten Lifestyle-Communities auf, alternde Superstars wie Will Smith setzen voll auf Social-Media-Content und Influencer erreichen Millionen. Warum tun wir das nicht? Warum wiederholen wir immer und immer wieder die alten Fehler? Während andere schon voll auf neue Formate und Kanäle setzen, investieren wir viel Zeit und Energie, um diese abzuwehren. Und dann – nachdem wirklich dem Letzten klar sein sollte, dass man damit Kunden erreicht – investieren wir zaghaft oder erst dann richtig, wenn der Kanal schon wieder veraltet ist.

Ich war vor wenigen Monaten bei einem Versicherer, der stolz von seiner Facebookstrategie berichtete – im Jahr 2021. Ich habe innerlich geschrien.

Das neue Buch von Robin Kiera. Jetzt erhältlich bei Amazon.

VWheute: Nochmal kurz zurück zum Produkt: Sind Versicherungsprodukte (immer noch) zu schwierig und wie wichtig ist das Timing bei der Anfrage?

Robin Kiera: Wir unterliegen einem Denkfehler. Wir sollten nicht Kunden anfragen, wenn wir den Bedarf haben, ihm etwas zu verkaufen – etwa durch Telefon- oder E-Mailaktionen.

Der Kunde sollte aktiv auf uns zukommen, wenn er einen Bedarf und uns als Lösung auf dem Radar hat. Hierfür müssen wir aber dauerhaft mit guten Inhalten und Formaten über die von ihm bevorzugten Kanäle präsent sein. Wenn wir das erreichen, brauchen wir nie wieder Kunden anzufragen, wenn wir Produkte verkaufen wollen; sie kommen alleine auf uns zu, wenn sie kaufen wollen. Wir müssen nur noch die Antragsunterlagen zur Unterschrift vorlegen.

VWheute: Klare Worte – welche Rolle spielt die Sprache und was ist „Attention Hacking“?

Robin Kiera: Attention Hacking ist eine Philosophie. Es geht darum, so viel Aufmerksamkeit der Zielgruppe aus jedem Euro im Budget herauszukitzeln. Es ist leicht, Aufmerksamkeit zu gewinnen – etwa wenn man den FC Bayern oder die Weltmeisterschaft sponsert. Das Problem: Nicht jeder hat so viel Geld dafür.

Deswegen gilt es ein ganzes Arsenal an Techniken, Tools und Taktiken anzuwenden, um die Aufmerksamkeit der Kunden zu einem so geringen Preis wie möglich zu bekommen. Das war Google Ads in 2007. Das war Facebook in 2011 und das ist jetzt TikTok. Um diese Kanäle mit geeigneten Inhalten und Formaten bespielen zu können, bedarf es aber einer großen fachlichen Kompetenz.

VWheute: Machen wir die Probe. Du wirst Social-Media-Chef eines mittelständischen Versicherers, was sind die ersten Schritte und was die langfristige Strategie?

Robin Kiera: Mein erster Schritt wäre es, einen Termin mit mir selber zu vereinbaren. Dann würde ich innerhalb von vier Wochen meine Marketing-Abteilung um 30+ Marketing- und Vertriebsexperten skalieren – indem ich (meine Firma) Digitalscouting beauftrage, Kanäle  aus- und aufzubauen und ad hoc eine immense Zahl an Inhalten zu produzieren.

Gleichzeitig würde ich in den nächsten sechs bis zwölf Monaten mein Marketing- und Vertriebsteam mit systematischer Fortbildung befähigen, immer mehr Teile in der Kommunikation zum Endkunden, aber auch im Vertrieb von Digitalscouting zu übernehmen.

Am Ende stünde wieder ein Meeting mit mir selber: diesmal allerdings ein hartes. Ich würde mich feuern. Das eigene Team hat übernommen. Kiera und Kollegen können gehen.

Mehr Verkaufen durch Attention Hacking: Survival Guide im Social Media Dschungel von Robin Kiera ist bei Amazon erhältlich. Das Buch war laut Autor bereits an Tag 2 die #1-Neuerscheinung bei Amazon Consulting und #11-Bestseller bei Amazon Bereich Versicherung.

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Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.

2 Kommentare

  • Hallo Robin,

    ich bin nunmehr über 50 Jahre im Versicherungsbereich tätig und habe schon des Öfteren innerlich geschrien. Sind denn all die neuen Ideen wieder das Nonplusultra? Attention Hacking hört sich ja ganz martialisch an. Muß das sein? Wieviel Aufmerksamkeit soll denn sein? Wer spricht von sozialer Verantwortung in unserem Bereich? Das könnte eine prima langfristige Strategie sein.

  • Hallo Erwin,

    es geht nicht um das Nonplusultra oder andere, fancy Begrifflichkeiten zu verwende. Das Interview verdeutlicht einfach, was im Marketing innerhalb der Branche falsch läuft. Es werden keinerlei Emotionen geweckt, kein Interesse am Kunden geweckt. Nicht umsonst ist das Image wie es ist – altbacken, verstaubt und irgendwo in den 90er stecken in schlecht sitzenden Anzügen stecken geblieben. Es ist natürlich toll, wenn ein Unternehmen soziale Verantwortung übernimmt. Nur wenn es darüber auf einem verwaisten Blog berichtet, wird darüber eben niemand erfahren.

    Dieses Thema reflektiert sich bis in den Bereich Nachwuchs. Die Gründe, warum es immer weniger Auszubildende gibt oder Berufseinsteiger lieber ihre Karriere im Bereich Automotiv starten, statt bei einer Versicherung, sind auch im grausamen und schlechten Marketing bzw. der miesen Selbstdarstellung der Branche zu finden (auch, nicht nur).

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