KI als Mittel gegen den Fachkräftemangel?
Verrentungswelle, Fachkräftemangel, New Work-Modelle, rückläufige Identifikation mit dem Unternehmen und mangelnde Attraktivität der Branche für Arbeitssuchende – ohne Anpassung des Operating Model steht die Versicherungswirtschaft vor einem massiven Ressourcenproblem, glaubt Claudia Fell. Im Gastbeitrag für VWheute beleuchtet die Roland-Berger-Expertin die aktuellen Probleme und liefert mögliche Lösungsansätze.
In den nächsten fünf bis zehn Jahren verliert die Versicherungswirtschaft in Deutschland bis zu 30% ihrer Mitarbeiter. Diese Verluste an Fachwissen, Erfahrung und schierer Arbeitskraft werden nicht durch neue Arbeitnehmer ersetzt werden können.
Zwar werden durch massive Investitionen in Employer Branding, aufwendiges Recruiting und Ausbildung sowie Aufsetzen von Kulturprogrammen und neuen Employer Benefits einige Nachwuchskräfte in der Branche landen. Die Anzahl wird aber nicht reichen, die Lücke zu füllen, noch wird das Fach- und Erfahrungswissen des Nachwuchses vergleichbar mit dem der Ruheständler sein (s. Abb. 1). Zusätzlich erwarten Arbeitnehmer in Zukunft flexible Arbeitsmodelle, die häufig auch von Teilzeit oder einer reduzierten Stundenanzahl geprägt sind, sodass die verbleibenden Mitarbeiter tendenziell weniger arbeiten werden als in der Vergangenheit üblich.
Mit den künftig fehlenden Ressourcen geht auch das Risiko einher, dass die verbleibenden Mitarbeiter immer stärker unter zunehmendem Arbeitsvolumen und Arbeitsdruck leiden, da sie die Arbeit der fehlenden Kräfte übernehmen müssen. Potenziell steigt dadurch der Krankheitsstand und die generelle Motivation und Loyalität zum Unternehmen gehen zurück (s. Abb. 2). Das Problem der Ressourcenknappheit und fehlenden Attraktivität wird dadurch noch verstärkt.
Ressourcenverteilung bzw. Ressourcenengpässe entlang der Wertschöpfungskette werden in den Versicherungsunternehmen unterschiedlich ausgeprägt sein. Transparenz über die zu erwartenden Mitarbeiterzahlen und Kompetenzen in den unterschiedlichen Bereichen ist ein erster, notwendiger Schritt zur gezielten Bekämpfung drohender Ressourcenengpässe.
Ein Hebel zur Bekämpfung der Effekte der oben genannten Entwicklungen ist die Digitalisierung der Abläufe im Unternehmen – vor allem im operativen Geschäft, bei Schadensfällen und in der Vertriebsunterstützung. Generative Künstliche Intelligenz (GenAI) stellt hier – neben der weiteren Automatisierung von Prozessen – eine vielversprechende Option dar. Zurzeit experimentieren viele Versicherungsunternehmen mit GenAI, entwickeln Anwendungsfälle und testen sie. Viele dieser Use Cases sind aufgrund unterschiedlicher Kriterien ausgewählt worden – häufig auf Basis der erwarteten Effekte, geringer Hürden in der Umsetzung, regulatorischer Überlegungen oder der Affinität des Business zum Use Case. Nur selten wurden Anwendungen nach Dringlichkeit auf Basis der zu erwartenden Ressourcenengpässe priorisiert. Zudem werden viele Use Cases noch isoliert bearbeitet und sind – auch aufgrund der erst kürzlich verfügbaren Technologie – noch nicht in die Abläufe in den Unternehmen eingebunden.
Künstliche Intelligenz (KI) wird aber erst dann ihre volle Wirkung entfalten und zu Entlastungen der Ressourcen führen, wenn sie integraler Bestandteil von End-to-End-Prozessen wird. Diese Prozesse müssen unter Berücksichtigung von Technologieeinsatz, neuen notwendigen und verfügbaren Fähigkeiten der Mitarbeiter und effizienten Schnittstellen zwischen Mensch und „Maschine“ fundamental neu gedacht und aufgesetzt werden. Nur Prozesse, die mit und für den Einsatz von Technologie und Mensch konzipiert sind, werden die nötige Effizienzsteigerung bringen, die notwendig wird, um die Ressourcenengpässe zu überwinden. Ein reiner Ersatz einzelner Tätigkeiten oder punktuelle Unterstützung von Prozessen durch KI wird nicht den umfassenden Effekt haben, den die Versicherungsunternehmen brauchen, um das Ressourcenproblem zu lösen.
Richtig angewendet, kann KI im Kontext der Ressourcenfrage vierfach wirken:
1. Effizienz-steigernd durch Übernahme ganzer Prozesse oder einzelner -schritte
2. Effektivität-steigernd durch die Ermöglichung neuer Abläufe und Arbeitsweisen
3. Know-how-erhaltend durch die technologische Reflexion von Expertenwissen
4. Qualität-steigernd durch die Unterstützung der von Menschen durchgeführten Prozessschritte.
Darum ist es aus Sicht von Roland Berger unbedingt notwendig, in einer Phase „nach dem Use Case“ ganzheitlich über den Einsatz von KI und die Auswirkungen auf das Operating Model nachzudenken. In diese Überlegungen sollten auch die Mitarbeiter eingebunden werden, die rentenbedingt in den nächsten Jahren das Unternehmen verlassen, um deren Know-how und Erfahrung in die Neukonzeption der Prozesse einfließen lassen zu können. Somit wird die Aufgabe nicht nur im Re-Design des Operating Models, sondern auch in der Orchestrierung eines Change Prozesses bestehen. Dieser muss letztendlich zu einer harmonischen „Zusammenarbeit“ von Mensch und Maschine führen und auch die nachgelagerten Fragen klären, die mit dem Einsatz von KI einhergehen: Wie funktionieren Karrieremodelle in Bereichen mit hohem KI-Einsatz? Wie werden Mitarbeiter zu Experten auf bestimmten Gebieten, die die KI-Ergebnisse kontrollieren können, ohne jemals selber die Tätigkeiten ausgeführt zu haben, die die KI übernimmt? Wie wird die Effektivität der „Zusammenarbeit“ zwischen Menschen und der KI gemessen etc.? Die Beherrschung der Technologie wird nur der erste Schritt in einem längeren Transformationsprozess sein, der möglichst bald gestartet werden sollte.
Autorin: Claudia Fell, Head of DACH Insurance bei Roland Berger