ALH-Vorstand Jürgen Bierbaum: „Eine Renaissance der Klassik könnte ich mir in ein paar Jahren vorstellen“

Jürgen Bierbaum, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Alte Leipziger Leben. Bildquelle: ALH Gruppe

Wie ist es aktuell um die Lebensversicherung in Deutschland bestellt? ALH-Vorstand Jürgen Bierbaum sprach mit VWheute über die Folgen der Inflation, den Provisionsrichtwert und die Entwicklung der Abfrage von Nachhaltigkeitspräferenzen durch Vermittler.

VWheute: Was sind derzeit die größten LV-Themen?

Jürgen Bierbaum: Die größten Themen sind aktuell aus meiner Sicht die Inflation und das steigende Zinsniveau. Damit geht die zentrale Frage einher, welche Angebote wir den Kunden in diesem Umfeld empfehlen können.

VWheute: Was kann getan werden, die Inflation schlägt den Rechnungszins?

Jürgen Bierbaum: Der Einfluss ist auf lange Sicht minimal, insbesondere wenn ich neu einsteige, denn das Anfangskapital ist noch recht gering. Bei regelmäßiger langjähriger Anlage und Investition in Substanzwerte ist die Inflation kein großes Problem. Das lässt sich auch an einer Modellrechnung zeigen: Bei einem Vertrag mit 30 Jahren Laufzeit, laufender Beitragszahlung und einem Prozent Gewinn nach Inflation in normalen Jahren führt auch eine fünfjährige inflationäre Phase mit einem realen Verlust von je vier Prozent p.a. nicht insgesamt zu einem realen Verlust. Der geringe niedrige Rechnungszins kann sogar ein Vorteil sein, denn dadurch wird mehr in Substanzwerte investiert, die einen gewissen Inflationsschutz bieten. Aktuell ist nicht die Zeit für Klassik, sondern für Hybridprodukte.

VWheute: Kein Klassik-Comeback?

Jürgen Bierbaum: Es dauert, bis ein „Tanker“ wie die Lebensversicherung seine Fahrtrichtung geändert hat. In der Niedrigzinsphase mussten sich die Lebensversicherer gegen weiter fallende Zinsen absichern. Jetzt ist schlagartig das Gegenszenario eingetreten. Zeitverzögert wird die Gesamtverzinsung dem Trend folgen. Eine Renaissance der Klassik könnte ich mir in ein paar Jahren vorstellen, allerdings in Verbindung mit Flexibilität in der Kapitalanlage und weniger hohen Garantien.

VWheute: Sie sprachen von geringem Anfangskapital. Der Nutzen der Provisions-Frontlastigkeit ist überschaubar. Was spricht aus Sicht der ALH-Gruppe gegen eine Änderung?

Jürgen Bierbaum: Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der Trend in Zukunft weg von der Frontlastigkeit und hin zur laufenden Vergütung gehen wird. Damit hat man sich auf europäischer Ebene bereits beschäftigt.

VWheute: Frank Grund sorgt sich bei Lebensversicherern um die stillen Lasten.

Jürgen Bierbaum: Die Branche musste sich unter Solvency II langfristig gegen niedrige Zinsen absichern. Jetzt haben wir das Problem, dass die Gesamtverzinsung nicht so schnell nach oben geht. Doch wenn wir die Papiere planmäßig bis zum Ende ihrer Laufzeit halten und die wirtschaftliche Lage einigermaßen stabil bleibt, ist das kein Problem. Das Risiko ist überschaubar.

VWheute: Während Corona hat die Branche den Alarmknopf durchgedrückt und dann – wie die ALH-Gruppe – Rekorde eingespielt. Sorgen Sie die aktuellen Inflationszeiten überhaupt?

Jürgen Bierbaum: Wir haben während der Anfangs- und Hochphase der Corona-Pandemie selektiv gesehen, dass Unternehmen oder Einzelpersonen Schwierigkeiten hatten. Wir haben in dieser Zeit Beiträge für bis zu zwei Jahre ganz oder teilweise gestundet. Diese Möglichkeiten bieten wir natürlich auch in Inflationszeiten an. Eine Kündigungswelle sehen wir aktuell im Bereich Lebensversicherung nicht.

VWheute: Ein Provisionsrichtwert ist systemfremd, sagten Sie auf der DKM. Jetzt ist er da, Ihre Einschätzung?

Jürgen Bierbaum: Die Bafin hat in ihrem jüngst veröffentlichen Merkblatt zu „wohlverhaltensaufsichtlichen Aspekten bei kapitalbildenden Lebensversicherungsprodukten“ keinen Provisionsrichtwert festgelegt, was wir grundsätzlich begrüßen. Im Fokus der Betrachtung der Bafin stehen einerseits Ausreißer bei Effektivkostenquoten und Provisionen und andererseits angemessene Renditen für Versicherungsnehmer.

VWheute: Welchen Einfluss wird der Provisionsrichtwert auf den Maklervertrieb haben, der für Ihr Haus wichtig ist?

Jürgen Bierbaum: Wir müssen damit rechnen, dass wir in Zukunft veränderte Provisionssysteme haben, die auf europäischer Ebene reguliert werden. Die Frage ist nur, wann. Wenn es so weit ist, werden wir gemeinsam mit den Maklern Lösungen schaffen und adäquate Systeme finden. Klar ist aber: Ohne Vergütung wird es auch in Zukunft nicht gehen. Eine hochwertige Beratung – gerade im Rahmen der Altersvorsorge – muss entsprechend vergütet werden, denn sie ist es wert. Und sie mindert die Altersarmut. Bei Ländern mit einem strikten Provisionsverbot hat man gegenläufige Effekte gesehen.

VWheute: Die ALH-Gruppe beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Thema Nachhaltigkeit. Sind Sie mit der Entwicklung des Themas in der Branche einverstanden?

Jürgen Bierbaum: Wir haben uns strategisch für das Thema Nachhaltigkeit entschieden; es ist für uns mehr als eine regulatorische Pflicht. Doch wir sehen Nachhaltigkeit breiter als nur das sehr wichtige Thema Klimaschutz. Als Lebens- und Krankenversicherer schützen wir die Gesundheit und sichern Erwerbs- und Alterseinkommen der Menschen ab. Das hat nichts mit Klimawandel zu tun, ist aber dennoch gesellschaftlich enorm wichtig und nachhaltig. Wir haben unsere Eigenemissionen heruntergefahren, auch wenn Versicherer sicherlich nicht die größten CO₂-Emittenten sind. Der größere Hebel ist die Kapitalanlage. Auch dort haben wir bereits einiges getan. Der Nachweis der formalen Nachhaltigkeit ist allerdings nicht einfach, insbesondere aufgrund fehlender Regularien im Detail und mangelnder Verfügbarkeit von Daten. Doch um Greenwashing vorzubeugen, brauchen wir diese Informationen.

VWheute: Zu Greenwashing kommen wir gleich, doch zuerst: Ist Nachhaltigkeit wirklich ein Thema, die Vermittler sprechen es nicht an, die Kunden fragen nicht nach?

Jürgen Bierbaum: Das ist wie bei der Temperatur: Der Durchschnitt zeigt nicht das ganze Bild. Vom Einzel- bis zum Firmenkunden ist die Spannweite der Nachfrage groß. In der bAV ist das Thema Nachhaltigkeit bereits zentral, denn viele Unternehmenskunden verfolgen selbst anspruchsvolle ESG-Ziele. Wir als ALH-Gruppe werden aufgefordert, dem Kunden zu zeigen, wie nachhaltig unsere Anlage ist und wie wir mit unseren Angestellten umgehen. Und das wird in Zukunft noch viel wichtiger werden, auch weil das Nachhaltigkeits-Reporting für jedes Unternehmen an Bedeutung gewinnen wird. Doch wir sehen auch im Privatbereich Kunden mit gehobenem Einkommen, die sich analog zu ihrem Privatleben bei der Geldanlage sozial und umweltverträglich positionieren wollen. Diese Werte fordern sie auch von ihrem Altersvorsorgepartner ein. Das Thema hat zudem für junge Leute große Bedeutung. Ich bin als Dozent an der Universität Frankfurt tätig und kann Ihnen versichern, dass Sie ein anderes Ergebnis als im Bevölkerungsdurchschnitt erhalten, wenn Sie die Nachhaltigkeitsfrage in den Universitäten stellen.

VWheute: Also widersprechen Sie den Studien?

Jürgen Bierbaum: Teilweise. Im Mittelwert ist der Fokus der Kunden vielleicht rein ergebnisorientiert. Es ist aber wichtig, nach vorne zu schauen: Die Reise geht in Richtung Nachhaltigkeit. Dieser Umbau ist ein jahrzehntelanger Prozess, bei dem zuerst einmal das Ziel stimmen muss.

VWheute: Kommen wir wie angekündigt zum Greenwashing. Die NY-Times spricht beim Thema von Täuschung.

Jürgen Bierbaum: Für Großanleger ist das ein nicht gewinnbares Spiel, denn eine Anlage kann nicht alle ESG-Anforderungen gleichzeitig erfüllen. Wenn CO₂ aktuell das Kriterium ist, dann müssen wir entsprechend handeln. Als ALH-Gruppe erstellen wir derzeit eine Klimabilanz; das wird Standard werden. Damit können die Nachhaltigkeitserfolge eines Unternehmens anhand der Bilanzierung nachvollzogen werden. Wichtig ist die korrekte Ausrichtung. Die Gesamtanlage wird stets kritisierbar und kontrovers sein. Wir müssen aber aufpassen, dass wir keine Gesellschaft von Selbstgerechten werden. Es gibt mittlerweile eine Industrie, die sich selbst beauftragt hat, andere bei ihren Nachhaltigkeitsbemühungen zu kritisieren.

VWheute: Was ist das zentrale Problem beim grünen Anlegen und wie gehen Sie vor?

Jürgen Bierbaum: Die Schwierigkeit ist das Beschaffen von Daten und das Problem, dass der Begriff Nachhaltigkeit immer noch nicht einheitlich definiert ist. Wir als ALH-Gruppe haben im Rahmen unserer Kapitalanlagestrategie differenzierte Regelungen je nach Anlageklasse entwickelt. Zum Beispiel arbeiten wir bei Aktien mit einer Kombination von Ausschlusskriterien – beispielsweise die Herstellung von Tabakprodukten – und aktivem Engagement.

VWheute: Welchen Anteil machen grüne Anlagen bei Ihnen aus?

Jürgen Bierbaum: Von unserem Fondsvermögen ist mehr als die Hälfte bereits „grün“, entfällt also auf nach Artikel 8 und 9 klassifizierte Fonds. Bei unserem Sicherungsvermögen werden derzeit bei über 80 Prozent ökologische und soziale Merkmale berücksichtigt. Das heißt, für diese 80 Prozent halten wir verpflichtende Kriterien ein, die in unserer Nachhaltigkeitsstrategie für die Kapitalanlage festgelegt sind. Erst im August haben wir mit „VisionGrün“ ein Konzept für verantwortungsvolles Investieren auf den Markt gebracht. Dabei bekommen die Kunden unter unseren Fondsrenten nur solche Fonds zur Auswahl, die soziale bzw. ökologische Merkmale berücksichtigen oder auf nachhaltige Investitionen ausgerichtet sind. Wir wählen dabei nicht nur Fonds mit „grünem“ Label aus, sondern haben zusätzlich eigene Kriterien und Ausschlüsse, die über die in der UN-Charta gelisteten Kriterien hinausgehen.

VWheute: Neue Provisionsregeln, Nachhaltigkeitsfragen und hohe Inflation. Wie läuft das Geschäft in diesem Jahr?

Jürgen Bierbaum: Dieses Jahr werden wir in der Altersvorsorge etwas weniger Neugeschäft haben als im Rekordjahr 2021. Die wirtschaftliche Lage drückt das bAV-Interesse der Unternehmen und das Einmalbeitragsgeschäft, das Anfang des Jahres besser lief. Die Rahmenbedingungen in der Lebensversicherung haben sich etwas eingetrübt. In der privaten Krankenversicherung ist es dagegen ein sehr gutes Jahr, weswegen ich für die ALH-Gruppe von insgesamt steigenden Beitragseinnahmen ausgehe.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.

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