„KI kann helfen, den vermeintlichen Trade-off zwischen Kundenzufriedenheit, Effektivität und Effizienz in der Schadenabwicklung aufzulösen“

Zum 1. Juni 2021 wurde Frank Feist zum dritten Geschäftsführer Property Expert berufen. (Quelle: Property Expert)
PropertyExpert ist der Schaden- und Prozessdienstleister für die größten deutschen Versicherer in der Gebäudeschadenbranche. Wir sprachen mit Geschäftsführer Frank Feist über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die Vor- und Nachteile der Automatisierung und das deutsche Schadenmanagement im internationalen Vergleich.
VWheute: Frank Feist, Sie sind ganz neu in der Geschäftsführung von PropertyExpert, aber bereits jahrelang in der Versicherungsbranche tätig. Was hat Sie gereizt, zu PropertyExpert zu wechseln?
Frank Feist: Die Gelegenheit hat mich von Beginn an gereizt, da ich mich in einem mir sehr bekannten Marktumfeld bewege und PropertyExpert zudem ein inhabergeführtes Unternehmen mit sehr viel Wachstumspotenzial ist. Ausgehend vom Know-how, das wir durch unser Kernprodukt Belegprüfung gesammelt haben und jeden Tag erweitern, können wir nämlich mit zusätzlichen digitalen Lösungen den Schadenprozess end-to-end weiter optimieren. Das technische Know-how dazu ist vorhanden und mit innovativen, KI-gestützten Lösungen, haben wir die Möglichkeit, gemeinsam mit unseren Kunden Abläufe fit für die Zukunft zu machen und sie als starker Partner begleiten.
VWheute: Ihre KI-Lösung heißt KIM (Künstliches Intelligenz Modul): Welche Aufgaben übernimmt die „Neue“ im Team?
Frank Feist: KIM, also „Künstliche Intelligenz Modul“, nennen wir die Kombination mehrerer KI-Module, mit denen wir im Schadenmanagement ansetzen. Es gibt also gar nicht nur die eine KI als „Neue“ im Team. Vielmehr handelt es sich bei KIM um eine intelligente Unit, die uns an unterschiedlichen Stellen im Schadenprozess unterstützt. In diesem Prozess arbeiten wir also mit der sehr schlagkräftigen Kombination aus Mensch und Maschine – dabei setzt jeder dort an, wo er am meisten leisten und mit seiner Expertise und Kompetenz die besten Ergebnisse erzielen kann.
Mit KIM erkennen wir Muster und Zusammenhänge in Daten – also in Bild, Text oder Metadaten. Sie kann uns die eingereichten Daten aus einem umfangreichen Schaden so zusammenfassen und aufbereiten, dass wir ein gutes Fundament für die weitere Fallbearbeitung haben. KIM erkennt zum Beispiel, um welches Material es sich auf einem eingereichten Bild handelt und ermittelt zusätzlich Informationen zu Menge, Größe und Qualität. Daraus kann sie bereits plausibilisieren und voraussichtliche Reparaturkosten berechnen. Sie liefert diese hochwertigen Ergebnisse in nur wenigen Sekunden an automatisierte Folgeprozesse oder unsere erfahrenen, menschlichen Handwerksexperten bringen ergänzend ihr Verständnis, ihre Erfahrung und Kompetenz ein.
VWheute: Wie arbeitet KIM?
Frank Feist: KIM passt hervorragend ins Team, denn auch sie möchte, unserem Claim entsprechend, jeden Tag „aus Schäden klug werden“. Das fühlt sich dann beinahe menschlich an. Wir haben KIM von Beginn an mit sehr großen Datenmengen gespeist, etwa Positions-, Schaden- und Belegdaten, sodass sie sich selbst anhand der ihr gestellten Aufgaben weiterbilden konnte. Und auch heute benötigt KIM täglich große Mengen an Trainingsdaten, um besser und effizienter zu werden – das ist salopp formuliert, aber in etwa so läuft es. Bei jedem Training erkennen unsere KI-Module neue Muster oder Inhalte, sodass sie später unter Einbeziehung aller abstrahierten Zusammenhänge einen optimalen Bearbeitungspfad bestimmen können.
VWheute: Kann KIM bereits mit Gebäudeschäden jeglicher Größenordnung umgehen?
Frank Feist: Theoretisch ja, praktisch nein (lacht). Bei sehr großen Gebäudeschäden ist die Lage häufig so komplex, dass KIM an ihre Grenzen stößt. Und selbst wenn sie uns eine korrekte Datenbasis liefern würde, ist sie bei so etwas einfach zu unmenschlich. Man darf ja nicht vergessen, dass die Gebäude mit dem sehr großen Schaden jemandem gehören, der jetzt vor einem sehr großen Problem steht. Hier gewinnen wir mit einer Schadenabwicklung via App sicher keinen Blumenstrauß.
Ein aktuelles Beispiel sind die verheerenden Hochwasserschäden: Hier haben wir gemeinsam mit einem Kooperationspartner Expertenteams zusammengestellt, die bestimmte Schäden beim Versicherungsnehmer vor-Ort für eine anschließende Schadenhöhenfeststellung durch unsere Experten persönlich dokumentieren. Hier kommt es nicht nur darauf an, Schäden fachlich kompetent zu erfassen, sondern auch darauf, emotional aufzufangen, was passiert ist. Persönliche Betreuung, Beratung und Empathie bleibt bei uns ganz eindeutig in menschlicher Hand.
VWheute: Wie unterscheidet sich KI im Gebäudeschadenmanagement von anderen KI-Anwendungen?
Frank Feist: Im Bereich Kfz arbeitet man ja beispielsweise schon lange mit KI. Dort gibt es aber eine überschaubare Menge an Zubehörteilen und Materialien, die zudem genormt sind. Bilder werden zuverlässig erkannt, anhand von Modell und Baujahr lassen sich sehr einfach Preise kalkulieren.
Anders als beim Kfz sind an Gebäuden weder die Positionen, die auf den Belegen zu finden sind, noch die Gebäude und Gebäudeteile selbst standardisiert. Qualität, Größe und Typ eines Bauteils können stark variieren, außerdem ist die Anzahl an Gewerken und Bauteilen weitaus höher. Dies stellt für KIM und auch für den Menschen natürlich eine Herausforderung dar. Um überhaupt eine treffsichere Bilderkennung zu garantieren, müssen wir KIM eine deutlich größere Datenbasis zum Lernen zur Verfügung stellen, als es etwa im Kfz-Bereich der Fall ist.
VWheute: Welche Vorteile ergeben sich für Ihre Kunden durch den Einsatz von KIM?
Frank Feist: Unsere Auftraggeber, also Versicherungsunternehmen, haben das Problem, dass ein gutes Versicherungsprodukt innerhalb kürzester Zeit vom Wettbewerb kopiert werden kann. Eine nachhaltige Differenzierung kann demnach nur durch richtig gute Prozesse, z.B. im Schadenfall, erfolgen. Hier erwartet der Versicherungsnehmer eine schnelle, transparente Abwicklung, kompetente Hilfe und vor allem eine objektive Einschätzung des Schadens. Dabei kann KIM überragende Unterstützung leisten.
Darüber hinaus steigert KIM die Effizienz der Schadenregulierung deutlich und entlastet die Schadenabteilung. Zum Beispiel ermutigen wir unsere Auftraggeber, sämtliche Rechnungen und Kostenvoranschläge unterhalb einer festgelegten Schadenhöhe ohne vorherige Selektion einer ersten, automatisierten Plausibilisierung unterziehen zu lassen. KIM prüft dabei bestimmte Parameter objektiver und schneller, als es jemals menschenmöglich ist und identifiziert „In-Ordnung-Fälle“ in Sekundenbruchteilen. Diese werden dem Versicherer anschließend in Form strukturierter Daten für die Dunkelverarbeitung übermittelt und sein Kunde erhält die Reparatur- oder Zahlungsfreigabe innerhalb kürzester Zeit. Währenddessen hat der Sachbearbeiter den Freiraum, sich um komplexe und bearbeitungsintensive Schadenfälle zu kümmern.
Im Rahmen der anschließenden Detailprüfung der „auffälligen“ Belege trägt KIM ferner maßgeblich dazu bei, Einsparpotenziale zu identifizieren und Schadenkosten deutlich zu reduzieren. Denn, wenn wir von Berechnungen oder Vergleichen aus Bildern und/oder Texten sprechen, ist sie dem Menschen ganz klar überlegen. Sie muss nicht erst zwei Preislisten öffnen und nebeneinanderlegen. Das hat sie alles bereits „im Kopf“ und kann für den Handwerksexperten sofort Auffälligkeiten anzeigen. KIM trifft dabei rein datenbasierte, objektive Entscheidungen und für alle Beteiligte nachvollziehbare Ergebnisse.
VWheute: An welcher Stelle können Sie konkret besser arbeiten durch den KI-Einsatz?
Frank Feist: Unter anderem beim manuellen Einstieg in den Beleg: Wenn wir den geprüften Beleg erhalten, hat KIM für uns bereits Auffälligkeiten markiert, Schlagworte herausgestellt und angebotene oder abgerechnete Positionen anhand der Bilder plausibilisiert. Sie erkennt auch sehr zuverlässig Dopplungen in Bildern, an die wir Menschen dann keine Gedanken mehr verschwenden müssen. Die ganz alltägliche Arbeit der Handwerksexperten wird zunehmend unterstützt und beschleunigt. Das eröffnet uns die Möglichkeit, unseren Fokus mehr auf die menschliche Arbeit – die Abstimmung mit dem Belegaussteller – legen zu können.
VWheute: Wie wichtig ist der Einsatz von KI für Versicherer?
Frank Feist: Sehr wichtig! KI kann helfen, den vermeintlichen Trade-off zwischen Kundenzufriedenheit, Effektivität und Effizienz in der Schadenabwicklung aufzulösen. Warum? Endkunden sind in nahezu allen Prozessen an eine digitale, schnelle, transparente und unkomplizierte Abwicklung gewöhnt. Durch Einsatz von KI kann dieser Erwartung im Schadenprozess an unterschiedlichen Stellen besser entsprochen werden. Der Versicherer erreicht dadurch eine optimale und nachhaltige Wettbewerbsdifferenzierung.
Darüber hinaus verbessert KI im Rahmen der Belegprüfung die Identifikation von Einsparpotenzialen und senkt den Aufwand in der Schadenregulierung – sei es durch automatisierte Angebote für die Fiktive Abrechnung von Schäden oder die regelbasierte Interaktion mit Sachverständigen oder anderen Dienstleistungspartnern.
VWheute: Wie schlägt sich das deutsche Schadenmanagement aktuell eigentlich im internationalen Vergleich?
Frank Feist: Mit statistischen Werten kann ich hier bisher nicht dienen. Aber natürlich stehe ich im persönlichen Austausch mit vielen ausländischen Branchenkollegen. Mein genereller Eindruck ist, dass wir in Deutschland mehr mit Berührungsängsten gegenüber neuen Technologien zu tun haben, als unsere internationalen Mitstreiter. Außerdem kommt das Klischee des deutschen Dranges nach Perfektion nicht von ungefähr: Während man sich im Ausland über die 90 Prozent freut, die nun durch Einsatz neuer Technologien viel besser funktionieren, ärgern sich die Deutschen über die 10 Prozent, die noch nicht rund laufen.
VWheute: Wie groß ist der Anteil, den KIM heute bereits im Schadenmanagement von Gebäudeschäden innehat und wo geht die Reise noch hin?
Frank Feist: Oh, der Einsatz von KI bei Gebäudeschäden ist sicher noch ausbaufähig. Ich freue mich riesig auf die Ergebnisse der Entwicklungen, an welchen PropertyExpert derzeit mit Hochdruck arbeitet. Besonders bei Kleinschäden, die etwa 40 bis 50 Prozent aller Vorgänge ausmachen, ist die Vollautomatisierung eine durchaus realistische Zukunftsperspektive: Den Schaden online einreichen und schon ein paar Stunden später das Geld erhalten, wie es in der Kfz-Branche heute schon möglich ist. Dort werden wir sicher bald hinkommen.
Auch bei komplexeren Fällen könnte dem Kunden unmittelbar nach Schadenmeldung auf Basis der vorliegenden Informationen vollautomatisch der passende Dienstleister für die Behebung des Schadens empfohlen werden – mit einer deutlichen Steigerung der Steuerungsquote als logische und für den Versicherer ökonomisch attraktive Konsequenz!
Interview: VW-Redaktion