Hannover Rück: Starre Branchenlogik Hemmschuh für Ökosysteme

Quelle: Arek Socha auf Pixabay.

Welche Rolle können klassische Versicherer in einer digital transformierten Welt spielen? Welche Chancen haben sie, Veränderungen für das eigene Geschäftsmodell zu nutzen? Wie gehen andere Länder mit dem Problem um? Mit diesem Thema befasste sich das Hannover Forum 2021 der E+S-Rückversicherung AG sowie der Hannover Rück.

Die Veränderungen am Geschäftsmodell der Versicherer zeigen sich schon an notwendigen sprachlichen Modifikationen, ist Peter Maas von der Universität St. Gallen überzeugt. Während es in früheren Zeiten darum ging für mehr Sicherheit zu sorgen, haben Versicherer heute die Aufgabe das Risikobewusstsein ihrer Kunden zu schärfen. Auch Begriffe wie „Vertrieb“, „Absatzkanal“ oder „Abschluss“ gehen nach seiner Meinung an den Bedürfnissen der meisten Kunden vorbei.

„Wir wollen die Kunden weder vertreiben noch sie in einen Kanal zwingen, und ein Vertragsabschluss ist ja eigentlich der Beginn einer Beziehung, kein Schluss“, macht er deutlich. Kunden würden heute nicht mehr in erster Linie nach Produkten schauen, sondern von einem konkreten Problem ausgehen und sich dafür passende Partner suchen. Märkte dürfen daher nicht mehr über Produkte – wie bei Versicherern noch weitgehend üblich –, sondern über Kundenbedürfnisse definiert werden. Die bisherige angebotsorientierte Logik müsse zugunsten der Frage aufgegeben werden, wie Kunden in den Markt gehen und an welcher Stelle Versicherer bei der Problemlösung ins Spiel kommen.

Begriff „Omnikanal“ irreführend

„Versicherer werden nie die gesamte Customer Journey eines Kunden abbilden können“, sagt er voraus. „Der Kunde ploppt lediglich an einer bestimmten Stelle seiner Reise beim Versicherer auf.“ Den Begriff „Omnikanal“, den Versicherer gern verwenden, um dem Kunden möglichst alle Wege zu öffnen, sei daher irreführend.

Es gehe vielmehr darum, für bestimmte Kundengruppen zu definieren, welche Wege sie bevorzugen. Trotz vieler Daten sei das Wissen darum bei Versicherern nur rudimentär vorhanden, mutmaßt Maas. Auch die Haltung von Versicherern zum Thema Ökosysteme hält er für überholt. Statt der bisherigen Logik von Wertschöpfungsketten müsse man in Netzwerk-Logiken denken und handeln. Der Wunsch, alle Funktionen – zumindest die den Kern betreffend – im eigenen Haus zu behalten und Kooperationen nur für Randbereiche einzugehen, sei hinderlich auf dem Weg in Ökosysteme.

Fakt sei, dass die Versicherung in solchen Ökosystemen nur noch eine abgeleitete Rolle spielen würde. Die starre Branchenlogik sei dabei ein Hemmschuh, da Ökosysteme eben nicht am Unternehmen, sondern an Kundenbedürfnissen orientiert seien. Für Maas ist die künftige Rolle der Versicherer in Ökosystemen noch offen. „Man muss herausfinden, wo man einzigartig ist und wie man damit beim Kunden andocken kann und schließlich ein Ökosystem aufbauen, das möglichst nicht oder nur schwer kopiert werden kann“, schlägt er vor. Gegenüber der Rolle des Orchestrators von Ökosystemen, wie ihn manche Versicherer gehen wollen, ist er skeptisch und bezweifelt, ob sich Investitionen in dieser Richtung lohnen.

In Ökosystemen denken

Über die Entwicklung des im Jahr 2013 gegründeten und damals ersten reinen Internetversicherers Chinas, ZhongAn, berichtete Yan Wang, für die Hannover Re in Shanghai als Director und Head of P&C tätig. Nach nur sieben Jahren ist das Unternehmen profitabel, ein für Start-ups ungewöhnlich kurzer Zeitraum. Yan Wang bezifferte den Marktwert von ZhongAn auf 7,1 Mrd. Euro Ende 2020, man habe seit Gründung 250 Millionen Kunden gehabt und 7,9 Milliarden Policen verkauft, also praktisch jedes Jahr eine Milliarde Verträge. Das Prämienwachstum beträgt 23 Prozent pro Jahr.

Das Geheimnis dieses Erfolges liegt laut Wang darin, dass man sich nicht als Versicherungs-, sondern als Technologieunternehmen betrachtet und in Ökosystemen denkt. Zum Unternehmen gehören entsprechend u.a. ein IT-Service-Provider und eine virtuelle Bank, angeboten werden die fünf Servicebereiche Lebensstilkonsum, Konsumentenfinanzierung, Gesundheit, Auto und Reisen. Jeder Bereich stellt ein eigenes Ökosystem dar, das weit mehr als Versicherungsprodukte anbietet. Insgesamt arbeitet man mit 300 strategischen Partnern zusammen.

Statistik statt Schadenereignis

Über die Möglichkeit Wetterrisiken über parametrische Deckungen online abzusichern, sprachen Teresa Schorstein und Lukas Herrmann von R+E. Am Beispiel Peru stellten sie ein Tool vor, mit dessen Hilfe Schäden nicht anhand aktueller Schadenereignisse, sondern mithilfe statistischer Daten etwa des Wetters der vergangenen zehn bis 15 Jahre in einer bestimmten Region ermittelt werden. Kunden können damit den Zusammenhang zwischen historischen Auszahlungen und dem dafür fälligen Beitrag erkennen und die Parameter entsprechend ihren Wünschen anpassen.

In Betracht kommen sowohl Niederschläge als auch Trockenheit oder Sturm, also alles Ereignisse, die besonders für Landwirte relevant sind. Denkbar seien auch andere Bereiche, in denen man auf ausreichend langfristige Daten zugreifen kann.

Nachdem die Daten eingegeben sind, bekommt der Kunde eine Zusammenfassung und Produktangebote. Wenn der Kunde eine Police ausgewählt hat, wird sie automatisch mit seinem Account verknüpft und ist damit wirksam. „Damit können wir den Wunsch von Kunden nach mehr Verständnis unserer Produkte nachkommen und für Transparenz sorgen“, berichteten Schorstein und Herrmann. In Deutschland komme das Produkt der S+E noch nicht zum Einsatz, es gebe aber bereits parametrische Deckungen anderer Anbieter. Entscheidend für die Funktionalität des Tools sei die Qualität der verwendeten Daten. Sie müssten auf langen Zeitreihen basieren, gereinigt sein und von einer guten Quelle wie dem Deutschen Wetterdienst stammen.

Autorin: Elke Pohl

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