Christian Gnam: „Produktwelten hängen vom Mindset des Kunden ab, nicht von Technik“

Christian Gnam, Acting Managing Director des InsurTech Hub Munich, im Interview.

Die deutschen Versicherer sind backendtechnisch herausgefordert. Das erklärt Christian Gnam, Acting Managing Director des InsurTech Hub Munich im Gespräch. Die Branche werde künftig noch stärker mit anderen Playern um den Datenzugang konkurrieren und KI ist stets nur so gut wie ihr Datenfutter, weiß der Experte. Die wesentlichste von vielen Erkenntnissen der Unterhaltung, es muss über die eigene Branche und feste Umschreibungen wie Insurtech hinausgedacht werden. Alle gesellschaftlich relevanten Probleme wie beispielsweise Adipositas gehen über den Versicherungsrand hinaus und benötigen Lösungen aus unterschiedlichen Branchen.

VWheute: Wie weit sind die deutschen Versicherer in Sachen Digitalisierung – die Branche lobt sich ja gerne für ihre Erfolge.

Christian Gnam: In den vergangenen Jahren hat sich, was die Digitalisierung angeht, tatsächlich viel in der Versicherungswirtschaft getan. Die Kooperation mit Startups und Technologieunternehmen, um neue Produkte und Geschäftsmodelle zu entwickeln, ist mittlerweile Standard. Die Corona Krise hat diese Entwicklung noch zusätzlich beschleunigt. Der Branche kommt in diesen komplizierten Zeiten zugute, dass sie ja von jeher mit einem weitgehend virtuellen Gut handelt: Sicherheit. Auf die Daten, mit denen Risiken berechnet, Kunden oder Leistungserbringer verwaltet werden, können die Mitarbeiter auch aus dem Home Office zugreifen. Und auch an der Kundenschnittstelle hat sich einiges getan: Die digitale “Customer Journey” läuft mittlerweile viel befriedigender ab als noch vor wenigen Jahren.

Eine Herausforderung stellt allerdings das Backend dar: Gut designte Web-Services oder Apps, aber auch ein eingespielter analoger Kundenservice können nicht immer darüber hinwegtäuschen, dass mancherorts an veralteten IT-Bestandssystemen festgehalten wird. Dank ihrer Marktmacht können die Player darauf drängen, dass neue technologische Lösungen mit ihrer Infrastruktur kompatibel gemacht werden – nachhaltig ist der so entstehende Flickenteppich jedoch nicht. Zudem wird die Versicherungswirtschaft künftig noch stärker mit anderen Playern um den Zugang zu den Daten – der wichtigsten Ressource der Branche – konkurrieren. Und hier sind es nicht nur die bekannten Tech Giganten wie Amazon oder Google sondern auch Unternehmen aus anderen Branchen wie Retail oder Automotive, die die Versicherer herausfordern.

VWheute: Welche(s) Unternehmen sehen Sie deutschlandweit vorne?

Christian Gnam: Dem InsurTech Hub Munich (ITHM) gehören nicht nur die ganz großen Global Player der Branche an, sondern auch eine ganze Reihe von regionalen Champions und Spezialversicherern. Wir sehen bei allen unseren Partnern, dass sie die Digitalisierung in ihren Unternehmen aktiv vorantreiben und an Innovation interessiert sind. Während die einen vielleicht etwas mehr Ressourcen haben, sind die anderen dafür in der Umsetzung schneller. Das Rennen ist daher für alle noch offen. 

VWheute: Woran machen Sie gute Digitalisierung fest, welche Kriterien müssen erfüllt sein, eine schöne Frontend-Schwalbe macht noch keinen digitalen Sommer.

Christian Gnam: Für wie gut ein Unternehmen von seinen Kunden wahrgenommen wird und wie effektiv seine Prozesse sind, hängt vor allem davon ab, wie geschmeidig sich die digitalen Rädchen vom Frontend hin in die Maschinenräume – und umgekehrt – drehen. Wenn ich innerhalb weniger Minuten einen Schaden per Online-Formular melden kann, dann aber erst einmal lange nichts passiert und keine Zwischenstände kommuniziert werden, ist das im Ergebnis genauso frustrierend wie in Prä-Digitalisierungs-Zeiten.

VWheute: KI, Prozessautomatisierung, Datenverknüpfung, Big Data; Digitalisierung ist ein Puzzle, in dem jedes Teil nochmal unzählige Unterteile hat. Wie kann das gelöst werden?

Christian Gnam: Tatsächlich stellt sich manchmal die Henne-Ei-Frage: Lassen sich mithilfe von Big Data oder KI über Jahrzehnte gesammelte, komplexe Datenbestände mit einem Handstreich ordnen? Oder müssen die Unternehmen erst einmal selbst ihre Keller ausmisten, bevor Kollege Roboter übernehmen kann? Die Künstliche Intelligenz ist letztendlich sehr von der Qualität der Daten, mit der man sie füttert, abhängig.
Zum “new normal” gehört aber auch das Wissen, dass man nicht alle Probleme oder Fragestellungen selbst lösen kann. Die Tech-Konzerne, die ja die Werkzeuge für den digitalen Wandel liefern, halten mittlerweile zahlreiche Experten mit Branchenwissen bereit – und Netzwerke wie unseres bieten ein wichtiges Forum für den branchenübergreifenden Austausch.

VWheute: Wie beeinflusst die Technik die Zukunft, ich denke an kontextuelle Versicherungsprodukte oder den Vertrieb?

Christian Gnam: Die Nachfrage etwa nach kontextuellen Lösungen – die in der Ski-Tageskarte inbegriffene Unfallversicherung; die am Fahrverhalten orientierte Kfz-Police – ist weniger Ausdruck der technischen Möglichkeiten, als die eines gewandelten Konsumverhaltens. Manche dieser Produkte sind für den Kunden wirtschaftlich kaum sinnvoll. Aber sie bieten das Versprechen, keine seitenlange Versicherungsbedingungen studieren oder eine über den Moment hinausgehende Bindung eingehen zu müssen. Die Technik bildet die Voraussetzung dafür, dass dies überhaupt möglich ist – der Erfolg solch neuer Produktwelten hängt aber allein vom Mindset der Kunden ab.

VWheute: Wie kann der „Innovation Hub“ der Branche helfen, wie arbeiten Sie und das Insurlab in Köln (oder Berlin) zusammen, sind sie Partner oder Konkurrenten?

Christian Gnam: Wie das Kölner Insurlab ist der InsurTech Hub Munich Teil des von der Bundesregierung initiierten de:hub-Verbunds von Innovationszentren aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Die Zukunft, so sind wir überzeugt, liegt darin, über die eigene Branche und feste Umschreibungen wie “Insurtech” hinaus zu denken: Ein Startup, das sich beispielsweise mit dem Thema Adipositas-Prävention befasst, ist für die Assekuranz nicht weniger spannend als eines, das sich auf Prozessautomatisierung spezialisiert hat. Und zugleich sind beider Lösungen nicht allein für die Versicherungsindustrie, sondern auch zahlreiche andere Branchen relevant.

Zusammen mit dem Digital Health Hub Nürnberg/Erlangen stecken wir mitten in der ersten großen branchenübergreifenden Kooperation zweier Hubs: dem H+ Innovation Programme, das sich auf Gründer und Lösungen aus dem Gesundheitsbereich fokussiert. In Zukunft wollen wir häufiger einzelne Schwerpunkte herausgreifen. Der Stoff geht uns dabei garantiert nicht aus: Versicherung umfasst ja sämtliche Lebensbereiche.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.

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