Gothaer-Chef Schoeller im Interview: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das Unternehmen gut durch diese Zeit navigieren“

Oliver Schoeller, Vorstandschef Gothaer, Quelle: Gothaer

Seit zwei Wochen steht Oliver Schoeller an der Spitze des 200-jährigen Traditionskonzerns Gothaer. Sein Einstieg hätte in ruhigeren Zeiten kommen können, wie er selbst sagt. Um die Zukunft des Unternehmens macht er sich aber keine Sorgen. Im Interview erklärt er warum.

VWheute: Herr Schoeller, wie ist es, in diesen bewegten Zeiten den Vorstandsvorsitz der Gothaer zu übernehmen?

Oliver Schoeller: Natürlich wünscht man sich als neuer Vorstandsvorsitzender ruhigere Zeiten für einen Übergang. Nicht nur, dass wir ökonomische Herausforderungen zu bewältigen haben. Es ist auch gerade am Anfang wichtig, sein Team persönlich sehen zu können und hinter neuen Ideen zu versammeln. Das ist in Zeiten von sozialer Distanz bei aller technologischer Unterstützung nicht ganz einfach. Umso besser ist es, dass wir uns als Team bereits sehr gut kennen. Ich bin mir der Verantwortung in diesen Zeiten sehr bewusst und gleichsam sehr zuversichtlich, dass wir die Gothaer gut durch diese Zeit navigieren. Das große, täglich erlebbare Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützt mein Vertrauen.

VWheute: Was macht die Gothaer aus?

Oliver Schoeller: Das Engagement und die unternehmerische Einstellung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Eigenschaften sind bei der Gothaer in ihrer DNA verwurzelt. Das zeigte sich besonders in harten Zeiten wie zum Beispiel 1945/1946: Nachdem die Rote Armee Gotha besetzt  hatte, wurde der Betrieb von Versicherungsunternehmen in der sowjetischen Besatzungszone untersagt. Für die Gothaer Gesellschaften war klar, dass es in ihrer Gründungsstadt keine Zukunft mehr für sie gab. Ab Herbst 1945 brachten Mitarbeiter deshalb heimlich wichtige Unterlagen in den Westen, zum Teil in Rucksäcken über die grüne Zonengrenze.

So konnten die Versicherungen ihre Arbeit in der Nachkriegszeit wieder aufnehmen – die Lebensversicherungsbank wurde in Göttingen heimisch, die Feuerversicherungsbank in Köln. Dass die Gothaer Gemeinschaft zusammenhält, zeigt sich an vielen Initiativen. Wie groß die Hilfsbereitschaft tatsächlich ist, bewies sich erst gerade in der Corona-Krise: Als Kindergärten und Schulen schlossen, standen viele Eltern trotz Homeoffice vor Betreuungs-Herausforderungen. Ein Mitarbeiter rief dann die Initiative ins Leben, Gleitzeitstunden für betroffene Eltern zu spenden und Kollegen zogen reihenweise mit. In der Aktion „GOforfamily“ wurden bislang rund 7.000 Gleitzeitstunden gespendet, dazu kamen 64 Urlaubstage von Leitenden und Vorständen. Die Gothaer verdoppelte den Einsatz.

VWheute: Stichwort Work-Life-Balance und Zusammenhalt – gibt es Unterschiede damals und heute?

Oliver Schoeller: Wir leben heute in einer ganz anderen Zeit. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug im 19. Jahrhundert in der Versicherungswirtschaft 72 Stunden. Samstagarbeit war damals Standard, im Lauf des 20. Jahrhunderts wurde sie nach und nach reduziert. Ab 1933 galt bei der Gothaer Feuerversicherung die 43-Stunden-Woche, vier Jahre später gab sie ihren Mitarbeitern mittwochnachmittags frei. Im Jahr 1970 führt die Gothaer als erste Kölner Versicherung und als eines der ersten deutschen Unternehmen gleitende Arbeitszeiten ein.

Die 38-Stunden-Woche gibt es bei der Gothaer seit dem 1. Juli 1990. Heute steht die Work-Life-Balance der Mitarbeiter mehr denn je im Fokus. Wir haben den Anspruch, unseren Erfolg stark über unsere Attraktivität als Arbeitgeber zu erzeugen. Talente sind unser wichtigstes Gut. Diese entwickelt man nur in einer guten Mischung aus Entfaltungsmöglichkeit bei uns und der gleichzeitigen Unterstützung der eigenen Lebensentwürfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das gilt insbesondere auch für das Thema Vielfalt im Unternehmen.

VWheute: Wie geht die Geschichte weiter?

Oliver Schoeller: Abseits der gegenwärtigen Corona-Herausforderung leben wir heute in einer nie dagewesenen Zeit des Friedens und wirtschaftlichen Wohlstands. Das Besondere an dieser Zeit ist ihre Bedeutung für die Zukunft: In den nächsten Jahrzehnten werden ganz wesentliche Entscheidungen für zukünftige Generationen getroffen.

Von dem nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten, über den ethischen Umgang mit den Technologiepotenzialen bis hin zu der Frage einer offenen und solidarischen Gemeinschaft in Europa und der Welt. Die Versicherungsindustrie ist ein Schmelztegel dieser Fragestellungen, denn hier kumulieren sich die mit diesen Entwicklungen verbundenen Risiken.

Wir arbeiten heute an Lösungen für unseren Kunden, die achtsam und nachhaltig mit den Ressourcen dieser Welt umgehen und solidarisch nutzbar machen. Dieser Blick auf Risikotransformation ist neu. Er entspricht aber gleichsam dem Gründungsgedanken von Ernst Wilhelm Arnoldi. Er verbindet die Solidarität der Gemeinschaft mit dem Privileg langfristigen Denkens. Bei der Frage nach der Zukunft ist die Botschaft schlicht: Der Wert der Gothaer bilden die Menschen, die den Mut zur Veränderung haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Vertriebspartner und allen voran unsere Kunden. Insbesondere ihre Vielfalt, ihre unterschiedlichen Perspektiven und ihr Gestaltungswille sind unser höchstes Gut. Wir setzen da auf, wo unsere Geschichte vor 200 Jahren begann: Als Initiative von Unternehmern.

Autor: VW-Redaktion

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